Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Hermann Hesse
Ein NATO-Austritt der Bundesrepublik Deutschland ist nach fast 70 Jahren NATO-Mitgliedschaft für den einzelnen Staatsbürger schwer vorstellbar. Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen und halten lieber an vertrauten Gewohnheiten fest, selbst wenn sie wissen, dass die Gewohnheiten unbekömmlich sind: Gewohnheiten verleihen nämlich das Gefühl von Sicherheit, weil die gewohnte Welt berechenbarer erscheint als die ungewohnte. Im Fall der NATO-Mitgliedschaft ist jedoch das Beharren auf eine liebgewonnene Gewohnheit schädlicher als beim Rauchen.
Die Fiktion eines NATO-Austritts durchzuspielen, ist nicht einfach. In diesem Teil wird untersucht, welche Schritte eine Bundesregierung zum NATO-Austritt unternehmen müsste, wie Mehrheiten dafür gewonnen werden können, welche sicherheitspolitischen Risiken von einem solchen Schritt ausgehen (keine, im Gegenteil), und welche Möglichkeiten den Vereinigten Staaten zur Verfügung stehen, einen NATO-Austritt Deutschlands zu verhindern.
Das Kernstück dieses kleinen Teils ist eine bewusst schlicht gehaltene Landkarte im Kapitel NATO-Austritt: Ende der NATO. Man muss sie nur wenige Minuten betrachten, um zu verstehen, warum Deutschland unverzichtbar für die NATO ist und warum die Vereinigten Staaten auf einen NATO-Austritt ausgesprochen rabiat reagieren werden. Klar wird auch, wo und warum es etwa 2029 oder 2030 gleich zum nächsten Krieg mit Russland kommt. Bis dahin sollte sich Deutschland im eigenen Interesse davongemacht haben.
Inhaltsverzeichnis
Völkerrechtliche Voraussetzungen
In Artikel 13 des Nordatlantikvertrages steht: Nach zwanzigjähriger Gültigkeitsdauer des Vertrages kann jeder vertragschließende Staat aus dem Verhältnis ausscheiden, und zwar ein Jahr nach Erklärung seiner Kündigung. Zur Umsetzung eines Austrittsentschlusses genügt somit ein Schreiben an die amerikanische Regierung. Eine Begründung des Entschlusses ist nicht erforderlich.1 Rechtlich ist ein NATO-Austritt eine einfache Angelegenheit. Die Schwierigkeiten liegen jedoch in zwei anderen Verträgen.
Aufenthaltsvertrag
Der Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 gestattete zunächst – ab 1952 – den drei westlichen Siegermächten des 2. Weltkriegs Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten den dauerhaften Aufenthalt ihrer Streitkräfte auf deutschem Staatsgebiet.2 Mit dem Vertragswerk wurde allerdings nur das Besatzungsrecht der Alliierten in die erträglichere Rechtsform eines freiwillig eingegangenen völkerrechtlichen Vertrages gebracht. Sogar Wikipedia schreibt ohne Quellenverweis von diplomatischer Kosmetik.3 Ein wirklich souveräner Akt war es nicht. 1954 traten auch Belgien, Dänemark, Kanada, Luxemburg und die Niederlande dem Vertrag bei.
Dass in Wirklichkeit nur eine Rechtsgrundlage für eine Truppenstationierung auf ewige Zeiten geschaffen werden sollte, zeigt allein der Wortlaut des Artikels 3 Absatz 1, wonach der Vertrag erst mit dem Abschluss eines Friedensvertrags zwischen Deutschland und allen vier Siegermächten des 2. Weltkriegs enden sollte, aus der Sicht des Jahres 1954 praktisch nie.
Adenauer erläutert im Bundestag die Pariser Verträge, darunter den Aufenthaltsvertrag,
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F002450-0005/Rolf Unterberg/CC-BY-SA 3.0
Mit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12.09.1990 hatte der Aufenthaltsvertrag demgemäß seine Gültigkeit verloren, da es seitdem eine friedensvertragliche Regelung gab. Dennoch versicherte die damalige Bundesregierung den drei Westmächten durch Notenwechsel vom 25.09.19904 und vom 16.11.1990,5 dass der Aufenthaltsvertrag weiter fortbestehen soll, allerdings mit einer zweijährigen Kündigungsfrist. Da ein solcher Notenwechsel nicht den Anforderungen an eine Ratifizierung dieser Abmachungen durch ein Gesetz entspricht und dies dem Bundestag nicht einmal zur Zustimmung vorgelegt wurde, gilt die rechtliche Wirkung des Notentausches zumindest als offen. Man kann durchaus die Auffassung vertreten, der Aufenthaltsvertrag sei mit dem 12.09.1990 beendet worden, und der anschließende Notenwechsel sei rechtlich wirkungslos, sodass die heutige Stationierung amerikanischer Truppen in Deutschland keine Rechtsgrundlage mehr hat. Die sicherere Lösung ist die Kündigung.
NATO-Truppenstatut
Das NATO-Truppenstatut regelt die Rechtsverhältnisse der Truppenstationierung. Auch dieser Vertrag kann unter Einhaltung einer einjährigen Frist gekündigt werden, wobei die Kündigung schriftlich an die amerikanische Regierung zu richten ist (Artikel XIX Abs. 2).6 Einen Automatismus mit der Beendigung der NATO-Mitgliedschaft gibt es nicht. Die Kündigung des NATO-Truppenstatuts setzt umgekehrt allerdings auch nicht die gleichzeitige Beendigung der NATO-Mitgliedschaft voraus.
Allein mit Wirksamwerden einer Kündigung des NATO-Truppenstatuts ergeben sich erhebliche rechtliche Veränderungen, vor allem für amerikanisches Personal und amerikanische Fahrzeuge. Die folgende Aufzählung der Veränderungen ist nicht abschließend, sondern exemplarisch:
- Entfällt Artikel III, setzt eine Einreise von ausländischem Militär- und Zivilpersonal sowie von Angehörigen von Soldaten und Zivilangestellten die Erteilung von Visa voraus. Eine visumfreie Einreise über amerikanische Flugplätze in Ramstein oder Grafenwöhr wäre nicht mehr möglich. Einreisende hätten sich deutschen Grenz- und Zollkontrollen zu unterziehen. Deutsches Ausländerrecht käme zur Anwendung. Verstöße wären strafbar oder ordnungswidrig.
- Entfällt Artikel IV, dürften amerikanische Soldaten, Zivilbedienstete und ihre Angehörigen nach Ablauf von sechs Monaten ab ihrer Einreise ohne deutsche Fahrerlaubnis nicht mehr Auto fahren.
- Entfällt Artikel V Absatz 1, dürften amerikanische Soldaten in Deutschland keine Uniform mehr tragen.
- Entfällt Artikel V Absatz 2, unterliegen alle amerikanischen Kraftfahrzeuge, ob handelsübliche Pkw oder Panzer, den deutschen Bestimmungen über die Zulassung von Kraftfahrzeugen zum Straßenverkehr. Es ist davon auszugehen, dass die meisten nach deutschem Recht keine Zulassung erhalten könnten.
- Entfällt Artikel VI, dürften amerikanische Soldaten in Deutschland keine Waffen mehr tragen.
- Entfällt Artikel VII, würden alle mit den Streitkräften eingereisten Amerikaner nicht mehr den amerikanischen, sondern den deutschen Gesetzen unterworfen und würden keine Immunität mehr genießen: Sie müssten sich der deutschen Polizei unterordnen und würden der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen.
- Entfällt Artikel VIII, wären die Vereinigten Staaten und das amerikanische Personal persönlich für in Deutschland hervorgerufene Schäden verantwortlich. Die Bundesrepublik Deutschland hätte sich nicht mehr am Aufwand für Schadensausgleich zu beteiligen.
Alles in allem wird schnell klar, dass eine Kündigung des NATO-Truppenstatuts die Stationierung ausländischer Streitkräfte kaum mehr zulässt und von der Wirkung her einem NATO-Austritt gleichkommt. Die Lektüre des Textes und vor allem die oben gezogenen Umkehrschlüsse zeigen allerdings das Ausmaß der Privilegien ausländischer Truppen – und die Tiefe der Unterwerfung des Gastgeberlandes.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 dw.com/de/wie-man-aus-der-nato-austritt/a-44648154.
2 Text auf: auswaertiges-amt.de/resource/blob/241738/437ac3ab7bc1f06f6a66039695c3256b/vertragstextbgbl-data.pdf.
3 de.wikipedia.org/wiki/Aufenthaltsvertrag#Bewertung.
4 Notenaustausch vom 25. September 1990, Bundesgesetzblatt II 1990, Seite 1390.
5 Notenaustausch vom 16. November 1990, Bundesgesetzblatt II 1990, Seite 1696.
6 Englischer Text auf: nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17265.htm.
Meinung der Bevölkerung
Die maßgebliche Frage in einer Demokratie muss lauten, ob die Idee eines NATO-Austritts Aussicht auf eine Mehrheit hat. Vorab: dies hat sie. Die Idee gilt in der öffentlichen Meinung keineswegs als abwegig. Dennoch ist das Meinungsbild diffus. Dies hat vier Gründe:
Wer fragt?
Wirtschaftswoche1 und FAZ2 berichteten am 23. Mai 2017 von einer Umfrage des amerikanischen Pew Research Center, die ergeben hätte, dass zwei Drittel der Deutschen der NATO zustimmen. Ablehnende Ansichten wurden dort überwiegend im linken Teil der deutschen Gesellschaft verortet. DIE WELT hatte dagegen bereits am 10. Juni 2015 berichtet, die Zustimmung der Deutschen zur NATO sei von 73 Prozent im Jahr 2009 auf nur noch 55 Prozent gefallen.3 Noch erstaunlicher ist das vom Tagesspiegel ergänzte Detail derselben Umfrage: Sollte Russland Polen oder die baltischen NATO-Staaten angreifen, befürworten nur 38 Prozent der Deutschen den Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung dieser NATO-Verbündeten.4 Die WELT steht traditionell im Lager der Transatlantiker. Deshalb ließ sie dieses Detail lieber weg. 2020 räumte schließlich sogar das um hohe Zustimmungswerte bemühte Pew Research Center ein, dass nur noch 53 Prozent aller Menschen in den NATO-Staaten dem Bündnis positiv gegenüberstehen.5
Wie lautet die Fragestellung?
Der European Council on Foreign Relations veröffentlichte im September 2019 die Ergebnisse einer von ihm europaweit durchgeführten Umfrage, deren Fragestellung lautete: Whose side should your country take in a conflict between the United States and Russia? (Auf wessen Seite sollte Ihr Land bei einem Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Russland Partei ergreifen?) Die Antworten fielen je nach EU-Land leicht unterschiedlich, im Ergebnis aber bemerkenswert einhellig aus.7
Antwort: | …in Polen | …in Frankreich | …in Deutschland | …in Italien | …in Österreich2 |
Vereinigte Staaten | 33 | 18 | 12 | 17 | 4 |
Russland | 6 | 6 | 7 | 9 | 6 |
keinem von beiden1 | 45 | 63 | 70 | 65 | 85 |
1 vorgegebene Antwort: neither.
2 kein NATO-Mitglied
Die Frage wurde sinngemäß zu einem Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China gestellt.
Antwort: | …in Polen | …in Frankreich | …in Deutschland | …in Italien | …in Österreich |
Vereinigte Staaten | 24 | 18 | 10 | 20 | 4 |
China | 6 | 5 | 6 | 7 | 6 |
keinem von beiden | 54 | 64 | 73 | 63 | 83 |
Die Bereitschaft, den Vereinigten Staaten beizustehen, ist hiernach bemerkenswert gering. Nach einer am 11. Juli 2018 auf ntv.de veröffentlichten Umfrage von YouGov wünschten 42 Prozent der Deutschen den vollständigen Abzug amerikanischer Truppen aus Deutschland. Nur 37 Prozent sind für deren Verbleib.8
Wer wird gefragt?
Bis zu dieser Stelle lassen sowohl die Formulierungen der Fragen als auch die Antworten noch gewisse Spielräume für Interpretationen zu. In einer 2018 von apester.com durchgeführten Umfrage wurde konkret danach gefragt, ob Deutschland Mitglied der NATO bleiben oder austreten solle. Bis zum 4. November 2018 sprachen sich bemerkenswerte 71 Prozent für eine Beendigung der deutschen NATO-Mitgliedschaft aus.9 Bei einem solchen Ergebnis stellt sich die Frage, an wen die Frage gerichtet wird. In diesem Fall war es der Leserkreis der Internetzeitung telepolis.de, der eher für eine skeptische Haltung gegenüber dem etablierten Parteienspektrum und seiner Politik bekannt ist.
Wann wird gefragt?
Mit dem Krieg um die Ukraine hörten derartige Umfragen plötzlich auf. Lediglich statista.de ist hier noch aktiv, stellte aber nie die eindeutige Frage nach Austritt oder Verbleib, sondern fragt vorsichtig: Vertrauen Sie der NATO? Drei ebenso vorsichtige Antworten sind vorgegeben: Eher ja, Eher nein oder Weiß nicht. Mit Eher ja antworteten unmittelbar vor Ausbruch des Kriegs nur 49 Prozent (Eher nein lag Anfang 2022 noch bei 38 Prozent). Bis zum Sommer 2022 schnellte die Zustimmung auf 58 Prozent hoch (Eher nein fiel auf 32 Prozent). Bereits im Frühjahr 2023 fiel Eher ja wieder auf 54 Prozent zurück, Eher nein stieg dagegen wieder auf 36 Prozent.11
Die Umfrageergebnisse fallen auch je nach Institut auffallend unterschiedlich aus. Die Statista GmbH gehört zum Kölner Konzern Ströer SE & KGaA. Ihm gehört auch die Nachrichtenplattform t-online.de, die für ihre generell regierungsfreundliche Berichterstattung bekannt ist. Die Apester Ltd. etwa ist in jeder Hinsicht wesentlich freier (Selbstbeschreibung: The Company allows anyone to create, embed, and share interactive and related content items into posts and articles).
Überschlägig lässt sich sagen:
- Etwa ein Drittel der Bevölkerung steht immer und unter allen Umständen auf der Seite des NATO-Austritts. Dies sind mehr, als die CDU als derzeit (2025) größte Partei an Wählerstimmen erwarten kann.
- Ein Zehntel ist hin- und hergerissen oder traut sich wegen unzureichender Informiertheit keine eigene Stellungnahme zu. Dies lässt sich ändern, indem man diesem Teil Informationen kompakt zur Verfügung stellt und ihm das Zusammensuchen aus vielen Quellen erspart.
- Die Anhänger der NATO haben derzeit zwar eine stabile absolute Mehrheit. Sie wird aber kleiner werden, je vernehmbarer die Stimmen und je besser die Argumente derjenigen werden, die sich für einen NATO-Austritt einsetzen.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 wiwo.de/politik/ausland/umfrage-die-nato-findet-man-gut-fuer-sie-zu-kaempfen-nicht/19841360.html.
2 faz.net/aktuell/politik/ausland/pew-studie-rueckhalt-fuer-nato-waechst-15029790.html.
3 welt.de/politik/ausland/article142174356/Deutschland-geht-auf-Distanz-zur-Nato.html.
4 tagesspiegel.de/politik/nur-38-prozent-der-deutschen-wurden-ostlichen-nato-landern-beistehen-3634135.html.
5 euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/studie-vertrauen-in-die-nato-sinkt.
6 ecfr.eu/publication/what-europeans-think-about-the-us-china-cold-war.
7 yahoo.com/tech/side-conflict-between-us-russia-154409159.html,
reddit.com/r/europe/comments/d28k7q/poll_whose_side_should_your_country_take_in_a/?rdt=34653.
8 n-tv.de/ticker/Fast-jeder-zweite-Deutsche-will-Abzug-der-US-Truppen-article20523855.html.
9 nicht mehr auffindbar.
10 bei bloomberg.com/profile/company/1295037D:US#xj4y7vzkg.
11 Dauerumfrage. de.statista.com/statistik/daten/studie/1269217/umfrage/allgemeines-vertrauen-in-die-nato-in-deutschland.
12 de.wikipedia.org/wiki/Statista.
Politische Vertretung
Obwohl diejenigen, die die NATO-Mitgliedschaft ablehnen, etwa ein Drittel der Wähler ausmachen, repräsentiert außer bislang DIE LINKE keine der im Bundestag vertretenen Parteien diesen Meinungsanteil.
Erzwungene Debatte
Am 21. Oktober 2019 meldete der Pressedienst des Deutschen Bundestags unter der Überschrift Linke fordert US-Truppenabzug: Die Fraktion Die Linke macht sich für einen Abzug der US-Armee aus Deutschland stark… Am 26. September 2019 hatte die Fraktion in ihrer Kampagne NATO raus – raus aus der NATO an die Bundesregierung und alle Bundestagsabgeordneten einen Appell gerichtet, den Aufenthaltsvertrag und die Mitgliedschaft in der NATO zu kündigen. Zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik hatte sich der Bundestag mit diesem Thema zu befassen. Obwohl dies eigentlich eine Sensation war, berichteten die Medien der Öffentlichkeit kaum davon. Die Reaktionen der Bundesregierung und der anderen Parteien klangen roboterhaft einmütig.2
- Antwort des Verteidigungsministeriums: Unsere Sicherheit beruht auf einer starken und entschlossenen Nordatlantischen Allianz sowie einer geeinten und belastbaren Europäischen Union. Nur wenn wir diese beiden Grundpfeiler unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärken und fortentwickeln, werden wir den Herausforderungen unserer Zeit begegnen können.
- CDU/CSU: Diese Forderungen sind völlig naiv und realitätsfremd angesichts der weltpolitischen Lage und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Realität. Daher ist der Appell, dass die in Deutschland stationierten Streitkräfte abziehen sollen, genauso absurd wie die Forderung, aus der NATO auszutreten.
- SPD: Der Nordatlantikpakt war in den letzten 70 Jahren einer der Garanten für den Frieden in Europa und ist der Grundpfeiler unserer Sicherheits- und Stabilitätsarchitektur. Wir halten daher an der Transatlantischen Partnerschaft fest…
- FDP: Anfang April 2019 hatte die Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag einen Antrag in den Bundestag eingebracht mit dem Titel ‚Ein klares Bekenntnis zur NATO – Das transatlantische Sicherheitsbündnis für die Zukunft stärken und weiterentwickeln‘ (Bundestagdrucksache 19/8954). Darin bekennen wir uns zu den Zielen des Bündnisses aus dessen Präambel, Frieden und Sicherheit zu erhalten.
Die Diskussion erschöpfte sich hiernach auf der Stelle in Schlagworten. Auf eine sachliche Ebene schaffte sie es nicht. Nicht eindeutig sind die Positionen der neuen Parteien:
- Die AfD tritt zwar für den Abzug ausländischer Truppen und vor allem amerikanischer Atomwaffen aus Deutschland ein.2 Wie die Partei es mit der NATO-Mitgliedschaft halten will, scheint noch nicht entschieden zu sein. Im Wahlprogramm 2025 steht: Bis zum Aufbau eines unabhängigen und handlungsfähigen europäischen Militärbündnisses bleiben die Mitgliedschaft in der Nato sowie eine aktive Rolle Deutschlands in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zentrale Elemente unserer Sicherheitsstrategie.3 Dies ist die dehnbare Sprache der Politik. Der Parteivorsitzende Chrupalla legte im Dezember 2024 nach: Eine Verteidigungsgemeinschaft muss die Interessen aller europäischen Länder akzeptieren und respektieren, also auch die Interessen von Russland. Wenn die Nato das nicht sicherstellen kann, muss sich Deutschland überlegen, inwieweit dieses Bündnis für uns noch nutzbringend ist.3
- Auf dem Weg in den Bundestag scheint eine neue Partei zu sein, die sich Bündnis Sahra Wagenknecht Sie positioniert sich angeblich eindeutig gegen die NATO.4 Im Wahlprogramm 2025 stehen zwar auf den Seiten 4 bis 9 viele richtige Ansichten, doch sind dort weder die Forderung nach einem NATO-Austritt noch die Forderung nach einer Ablösung der NATO durch eine europäische Verteidigungsorganisation enthalten.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2019_10/663988-663988,
linkezeitung.de/2019/11/02/debatte-um-rauswurf-der-us-kriegsmaschinerie-aus-deutschland-erreicht-den-bundestag/
grollnews.wordpress.com/2019/11/06/nato-raus-ein-antrag-der-linkspartei-zwingt-das-deutsche-parlament-erstmals-ueber-die-stationierung-von-us-truppen-zu-debattieren, ac-frieden.de/2019/10/28/erfolg-der-kampagne-nato-raus-raus-aus-der-nato.
2 zusammengestellt von de.rt.com/meinung/94196-debatte-um-verbannung-us-kriegsmaschinerie-deutschland, noch lesbar über nachdenkseiten.de/?p=56381.
3 zeit.de/politik/deutschland/2024-12/nato-mitgliedschaft-afd-tino-chrupalla-deutschland.
4 zeit.de/politik/deutschland/2024-01/bsw-europawahl-wahlprogramm-sahra-wagenknecht.
Positionen im Ausland
Bei den derzeit (2024) im Bundestag vertretenen Parteien ist die Idee des NATO-Austritts geradezu ein Tabu. Außerhalb Deutschlands wird dieses Thema wesentlich unbekümmerter erörtert.
Vereinigte Staaten: Donald Trump
2017 fand der amerikanische Präsident Trump, die NATO sei obsolet.1 Dies wird nicht ernst gemeint gewesen sein, denn schließlich ist die NATO die wichtigste Etappe auf dem Weg zur amerikanischen Weltherrschaft. Zwar ist fraglich, ob Donald Trump dies verinnerlicht hat (diese Zweifel sind es, die das sogenannte Washingtoner Establishment sowie alle von diesem beherrschten amerikanischen Medien sowie die transatlantisch eingestellten europäischen Medien gegen Trump aufbringen), doch ist davon durchaus auszugehen. Nur naive Gemüter halten Trump für einen Mann des Friedens.
Donald Trump legt 2017 seinen Amtseid ab, Foto gemeinfrei
Trump ging es bei seiner Drohung von 2017, die Vereinigten Staaten aus der NATO austreten zu lassen, allein darum, die Europäer (vor allem Deutschland) bei den Rüstungsausgaben zur Einhaltung des von der NATO ausgegebenen 2-Prozent-Ziels zu zwingen und sie zu veranlassen, mit diesem zusätzlichen Geld der amerikanischen Industrie Rüstungsgüter abzukaufen.2 Mit gleichem Ziel verlangt er gleich am Beginn seiner zweiten Amtszeit, die Europäer sollten die Rüstungsausgaben auf 5 Prozent steigern.3
Frankreich: Emmanuel Macron
Der französische Staatspräsident Macron äußerte 2019, er halte die NATO für hirntot.4 Die Reaktionen waren bemerkenswert. Die Bundeskanzlerin Merkel antwortete: Der Erhalt der NATO ist in unserem ureigensten Interesse – mindestens so stark wie im Kalten Krieg.5 Ihr Außenminister sprang ihr eifrig bei: Die NATO lebt – von Kopf bis Fuß.6 Diese spontane Reaktion löste ein gewisses Schmunzeln aus, nachdem er ein Jahr zuvor wegen seiner Beflissenheit gegenüber der NATO noch als Strichjunge der NATO bezeichnet worden war.7 Der türkische Präsident Erdogan polterte, allenfalls Macron sei hirntot.8 Diese Äußerung wird allerdings eher Erdogans persönlicher Abneigung gegen Macron entschlüpft und darf keineswegs als Bekenntnis zur NATO aufgefasst werden.
Türkei, Ungarn, Slowakei
Schon seit etwa 2016 spielen Think Tanks das Szenario eines NATO-Austritts der Türkei durch.9 In der Türkei selbst wurde darüber 2022 eine Debatte angestoßen.10 Konkret in Frage gestellt wurde die NATO-Mitgliedschaft der Türkei durch ihren Antrag, in den Kreis der BRICS-Staaten aufgenommen zu werden.11 Über diesen Antrag wurde auf dem BRICS-Gipfel 2024 nicht einmal abgestimmt, da sich gleichzeitige Mitgliedschaften in der NATO und bei den BRICS-Staaten gegenseitig ausschlössen.12
Zur Rolle der NATO im Krieg um die Ukraine nimmt Ungarn eine skeptische Position ein. Dies führte dazu, dass Polen Ungarn bereits einen Austritt aus der NATO und der Europäischen Union nahelegte.13
Der ungarische Ministerpräsident Órban mit dem russischen Präsidenten Putin 2015,
Foto: Kremlin.ru, CC BY 4.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38452732
Auch bei der Slowakei wird seit dem Regierungswechsel 2023 darüber spekuliert, ob das Land womöglich aus der NATO austritt.14
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 n-tv.de/politik/Trump-teilt-wieder-aus-auch-gegen-Merkel-article19556771.html.
2 tagesschau.de/inland/verteidigungsausgaben-103.html.
3 tagesschau.de/ausland/amerika/trump-usa-nato-oelbohrungen-groenland-panamakanal-100.html.
4 tagesschau.de/ausland/macron-nato-101.html.
5 wiwo.de/politik/deutschland/verteidigungsbuendnis-hirntote-nato-merkel-widerspricht-macrons-grundsatzkritik-energisch/25203122.html.
6 faz.net/aktuell/politik/heiko-maas-kontert-emmanuel-macron-die-nato-lebt-16504758.html.
7 faz.net/aktuell/politik/inland/heiko-maas-als-nato-strichjunge-diether-dehm-verteidigt-sich-15526233.html.
8 berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/nato-gipfel-erdogan-bescheinigt-macron-hirntod-paris-bestellt-botschafter-ein-li.2326.
9 sueddeutsche.de/politik/buendnispolitik-wenn-die-tuerkei-aus-der-nato-austreten-wuerde-1.3971464.
10 rnd.de/politik/tuerkischer-politiker-schlaegt-austritt-aus-der-nato-vor-2H2PZNJAVDFNBUAITSOOR2L3BQ.html.
11 tagesschau.de/ausland/europa/tuerkei-brics-mitgliedschaft-100.html.
12 berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/bericht-tuerkei-soll-mit-brics-bewerbung-gescheitert-sein-li.2265697
13 telepolis.de/features/Eklat-zwischen-Polen-und-Ungarn-Warschau-empfiehlt-Orban-Austritt-aus-EU-und-Nato-9816140.html, mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/nato-ungarn-usa-schweden-orban-100.html.
14 zeit.de/news/2023-09/30/gespaltene-slowakei-waehlt-im-schatten-des-ukraine-kriegs.
NATO-Austritt: Ende der NATO
Die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland für die NATO liegt keineswegs in militärischer Stärke. Am 24. Februar 2022, dem ersten Tag des nach wie vor noch nicht beendeten Krieges in der Ukraine, äußerte der Inspektor des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais:
Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa. Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.1
Alfons Mais 2020, Foto gemeinfrei
Der Zustand des Heeres, das Herr Mais führen durfte, wird diesem jedoch zuvor schon genau bekannt gewesen sein.
Veränderungen seit 1990
Im Kalten Krieg, als Herr Mais vor 41 Jahren in die Bundeswehr eintrat, war dies anders. Damals unterhielt die Bundesrepublik als sogenannter Frontstaat noch beachtliche militärische Kräfte, von denen ihr Wert für die NATO ausging. 1990 ergab sich mit der Wiedervereinigung Deutschlands in Mitteleuropa eine veränderte Situation: Der Machtbereich der 1990 noch existierenden Sowjetunion wurde erst um rund 600 Kilometer hinter die östliche Staatsgrenze Polens zurückgedrängt, und mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Entstehung des unabhängigen Staates Belarus 1991 wurde die Grenze zu Russland abermals um weitere 600 Kilometer nach Osten geschoben.
Von Freunden umzingelt
Durch diese politischen Ereignisse veränderte sich die Rolle Deutschlands: Es war plötzlich kein Frontstaat mehr, sondern sah sich ab 1991 nur noch von Freunden umzingelt,2 und aufgrund seiner geografischen Lage wurde es zum Dreh- und Mittelpunkt des europäischen Handels. Als Mittelpunkt Europas und wegen seines eigenen wirtschaftliches Gewichts fiel Deutschland fast unausweichlich eine Führungsrolle in Europa zu. Mit dem Beitritt Polens, Ungarns und Tschechiens zur NATO erhielt Deutschland ab 1999 auch wieder eine geostrategische Bedeutung: Es war zwar nicht mehr Frontstaat (diese Rolle fiel ab 1999 Polen zu), doch wurde es zur unverzichtbaren Brücke zwischen den westeuropäischen Mächten und den neuen osteuropäischen NATO-Mitgliedern. Als 2004 auch noch Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei und Rumänien der NATO beitraten, nahm diese Bedeutung sogar noch zu. Nicht militärische Kraft, sondern allein dieser geografische Aspekt macht Deutschland zur tragenden Säule der NATO:
Geostrategische Folge: Ende der NATO
Durch einen Austritt Deutschlands aus der NATO würde von der südlichen Staatsgrenze Dänemarks bis zur nördlichen Staatsgrenze Italiens ein neutrales Gebiet entstehen, das die Staatsgebiete Österreichs, der Schweiz und Deutschlands umfasst, von Norden nach Süden etwa 1200 Kilometer lang und von Westen nach Osten an der schmalsten Stelle etwa 400 Kilometer breit ist. Dieses auf der folgenden Karte schwarz eingezeichnete Gebiet darf nicht durchfahren, durchschritten und auch nicht überflogen werden.
Das durch einen NATO-Austritt entstehende „Loch“ in Europa
Die Truppen der westeuropäischen NATO-Staaten Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und der Niederlande könnten somit auf dem Landweg den NATO-Staaten Osteuropas Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Tschechien, Ungarn nicht mehr zu Hilfe kommen. Polen und die baltischen Staaten wären nur noch über die Ostsee und – mit einem enormen Umweg – über den dänischen Luftraum erreichbar, Tschechien, die Slowakei und Ungarn allenfalls mit einigem organisatorischen Aufwand über die Adria und dann über die Staatsgebiete von Kroatien und Slowenien, praktisch also gar nicht mehr.
Hinzutritt: Die Entfernung der russischen Enklave Kaliningrad, die oben rot eingezeichnet ist, zur polnischen Westgrenze beträgt in der Luftlinie 476 Kilometer. Die in Kaliningrad stationierten, nuklear bestückbaren russischen ISKANDER-Raketen haben eine Reichweite von 480 Kilometer und decken damit jeden Punkt der Küstenlinie bis zur polnisch-deutschen Grenze ab.4 Die Anlandung von Truppen an der polnischen Ostseeküste wird allein dadurch so gut wie unmöglich. Unmöglich werden auch Landungen in den im Osten an Kaliningrad angrenzenden Staaten Litauen, Lettland und Estland.
Startfahrzeug mit ISKANDER-Rakete, Foto: Vitaly V. Kuzmin – CC BY-SA 4.0, Army2016demo-075.jpg
Der Schiffsverkehr über die Ostsee kann von Russland zudem mit einer Vielzahl von Seezielflugkörpern unterbunden werden, die teilweise ebenfalls nuklear bestückbar sind, beispielsweise mit dem 300 Kilometer weit reichenden P-800 ONIKS. Die Raketen können nicht nur von Schiffen, sondern auch von Land aus eingesetzt werden.5
Seezielflugkörper ONYX, Foto: Boevaya mashina – CC BY-SA 4.0, 3M55 Yakhont Onyx SS-N-26 Armia 2018.jpg
Auch auf dem Luftweg -über Dänemark hinweg – lassen sich nicht mehr ohne weiteres Truppen nach Polen oder Litauen verlegen: Mit dem ebenfalls in Kaliningrad stationierten Flugabwehrsystem S-400 lässt sich der Flugverkehr über der Ostsee im Umkreis von bis zu 400 Kilometern unterbinden.6
Flugabwehrsystem S-400, Foto: Vitaly V. Kuzmin – CC BY-SA 4.0, Oboronexpo2014part2-35 (cropped).jpg
Durch diese Einschränkungen der Beweglichkeit ihrer Truppen wäre der Verteidigungsauftrag der NATO nicht mehr durchführbar. Theoretisch könnten die westeuropäischen Mächte in den osteuropäischen Partnerstaaten zwar dauerhaft Truppen stationieren, doch der mit jeder Truppenstationierung im Ausland verbundenen hohen Kosten und der schwierigen Versorgung wegen würden sie dies praktisch niemals in Betracht ziehen. Ohne Deutschland als geografische Brücke und Drehscheibe funktioniert die NATO nicht mehr.
Demnächst: Schlacht um das Baltikum
Die obige Karte macht auch schnell klar, wo – vermutlich 2029 oder 2030 – nach der Ukraine gleich der nächste militärische Konflikt angedacht ist: Seit 2023 gehören bis auf Russland alle Ostseeanrainer der NATO an. Durch ihre Überlegenheit zur See können sie den russischen Schiffsverkehr in diesem Seegebiet vollständig zum Erliegen bringen und damit auch die Versorgung Kaliningrads unterbinden, denn auf dem Landweg gibt es keine Versorgungslinie nach Kaliningrad mehr. Die nötigen Narrative werden bereits herausgegeben.7 Dafür soll die Bundeswehr kriegstüchtig gemacht werden.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 n-tv.de/politik/Heeresinspekteur-Bundeswehr-steht-blank-da-article23150664.html.
2 bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/275104/von-freunden-umzingelt-war-gestern.
3 luftlinie.org/Kaliningrad,Kaliningrad-Oblast,RUS/Szczecin,Zachodniopomorskie,POL.
4 welt.de/politik/ausland/article176090499/Iskander-Russland-stationiert-Raketen-in-Kaliningrad-Reichweite-bis-nach-Berlin.html.
5 Älterer bericht: web.archive.org/web/20161124153022/http://www.janes.com/article/65714/russia-deploys-bal-and-bastion-p-missile-systems-to-disputed-kuril-islands-says-report.
6 stern.de/digital/technik/s400–putins-rakete–die-auch-stealth-jets-vom-himmel-holt-8662672.html.
7 Nur ein Beispiel: zdf.de/nachrichten/politik/ausland/putin-baltische-staaten-vorbereitung-krieg-100.html.
Angstgegner Russland
Ein Ausscheiden aus der NATO und erst recht die Auflösung der NATO werden Transatlantiker als sicherheitspolitischen Wahnsinn bezeichnen, denn die Europäische Union grenzt schließlich an den Militärkoloss Russland, von der dieselben Gefahren ausgehen wie im Kalten Krieg von der Sowjetunion. Diesem gefährlichen Nachbarn wären die Staaten der Europäischen Union dann völlig schutzlos ausgeliefert. Das stimmt nicht.
Russische Parade zum 9. Mai als Tag des Sieges, Foto: kremlin.ru, 2015 Moscow Victory Day Parade 01.jpg
Russische Dampfwalze
Am Anfang des 1. Weltkriegs entstand der Begriff der russischen Dampfwalze.1,2 Er dichtete den russischen Streitkräften die furchterregende Fähigkeit an, jeden Widerstand unaufhaltsam einzuebnen. Erhalten hat sich dieser Begriff bis heute, und nach wie vor verbreitet er Furcht und Schrecken. Dies ist erstaunlich, denn schon 1916, nur zwei Jahre, nachdem zum ersten Mal von der russischen Dampfwalze die Rede war, zeigte die russische Armee so erhebliche Auflösungserscheinungen, dass Russland vorzeitig aus dem 1. Weltkrieg ausscheiden musste. Im 2. Weltkrieg befand sich die Sowjetunion in den ersten drei Kriegsjahren in großer Bedrängnis, bis sie sich erst im vierten Jahr endlich gegen die deutschen Invasoren durchsetzen konnte. In Afghanistan scheiterte die Rote Armee und musste sich 1989 zurückziehen. In der Ukraine arbeitet sich die russische Armee mittlerweile drei Jahre an den ukrainischen Streitkräften ab, ohne eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeigeführt zu haben. Die Unbesiegbarkeit der russischen Dampfwalze ist somit ein durch nichts untersetzter Mythos.2 Dennoch wird dieser Mythos von Politikern immer wieder aufs Neue benutzt, indem sie es als sicher darstellen, dass die russische Dampfwalze an den Grenzen der Ukraine nicht haltmachen, sondern sogleich nach Polen und ins Baltikum weiterrollen würde.
Militärkoloss Russland
Russland hat 143,5 Millionen Einwohner.3 Dies sind so viele wie Frankreich (68 Millionen)4 und Deutschland (84 Millionen)5 zusammen, aber weniger als die Hälfte der Vereinigten Staaten (340 Millionen).6 Russlands Wirtschaftsleistung macht mit 2 Billionen Dollar3 weniger als die Hälfte der deutschen (4,4 Billionen) aus.5 Die russischen Militärausgaben beliefen sich 2024 auf 109 Milliarden Dollar.7 Dies sind etwa 5,4 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts und bedeuten damit eine äußerste wirtschaftliche Kraftanstrengung. Frankreich und Deutschland geben zusammen denselben Betrag für ihre Streitkräfte aus, der aber nur knapp 2 Prozent ihrer Bruttoinlandsprodukte ausmacht. Allein durch diese demografischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind der russischen Militärmacht Grenzen gesetzt.
Landstreitkräfte
Aus seiner Bevölkerung von 143,5 Millionen Menschen holt Russland das Personal für die 48 Kampftruppenbrigaden seiner Landstreitkräfte heraus. Dies ist viel. Die US Army als stärkste Militärmacht der Welt begnügt sich mit 32 Brigade Combat Teams.8 Frankreich und Deutschland bringen es zusammen sogar nur auf 13 Brigaden.8 Für den russischen Druck und die deutsch-französische Entspanntheit auf dem Gebiet der Landstreitkräfte gibt es Gründe:
Russland ist mit Abstand der flächengrößte Staat der Welt.3 Das russische Staatsgebiet ist 20-mal größer als Frankreich und Deutschland zusammen.4,5 Entsprechend länger sind die Außengrenzen, die es verteidigen muss. 3 seiner 48 Brigaden sind zur Verteidigung der arktischen Nordgrenze seines Landes bestimmt. Sowohl vom Auftrag als auch von der Ausrüstung her lassen sich diese Truppen nur in dieser geografischen Region sinnvoll einsetzen. 15 Brigaden sind im Fernen Osten stationiert.8 Dort grenzt Russland unmittelbar an die Vereinigten Staaten und deren Verbündeten Japan. Deshalb stand schon im Kalten Krieg stets ein Drittel der Roten Armee in diesem abgelegenen Landesteil.9 15 Brigaden sind zwar kaum ein Gegengewicht gegen die militärische Macht dieser beiden Nachbarn, doch zeigt sich daran, dass sich Russland vom Osten her bedroht sieht. In Anbetracht dieses Sicherheitsbestrebens ist es erstaunlich, dass Russland mittlerweile (Anfang 2025) offenbar 40 seiner 48 Brigaden in der Ukraine einsetzt und die übrigen Teile seines sehr großen Staatsgebiets ungesichert lässt.2 Trotz dieser enormen Kraftkonzentration bleibt der Erfolg bislang aus.
Unter dem Eindruck der Kriegsereignisse in der Ukraine und aufgrund seiner geografischen Nähe zu Russland verstärkte Polen seine Landstreitkräfte auf 15 Brigaden. Belgien, Litauen, die Niederlande, die Slowakei, Tschechien und Ungarn unterhalten jeweils 2 Brigaden. Mit Frankreich und Deutschland kommen somit nur jene 9 (von 27) Staaten der Europäischen Union, die ungefähr die geografische Mitte Europas ausmachen, zusammen auf die dieselbe Anzahl von 40 Brigaden, die Russland in einer einmaligen Kraftanstrengung aus allen seinen weit entfernten Landesteilen in der Ukraine zusammengezogen hat, um dort einen militärischen Erfolg zu erzwingen.
Im Gegensatz zu Russland fällt es 8 dieser 9 Staaten wirtschaftlich leicht, diese Truppen aufzubringen. Lediglich Polen verlangt die von ihm verfolgte Aufrüstung einiges ab. Deshalb bezeichnet es dem ihm wirtschaftlich überlegenen Nachbarn Deutschland, das diese Belastungen hätte wesentlich leichter tragen können, verärgert als sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer.11 In allen Einzelheiten wird die Verteilung der Landstreitkräfte innerhalb Europas in der angehängten
erörtert, weshalb bis zu dieser Stelle ein kurzer Überblick über die Kräfteverhältnisse genügt. Er drängt aber zugleich die Frage auf, warum es zu einer Verteidigung Mitteleuropas gegen Russland zusätzlich noch amerikanischer Landstreitkräfte bedarf. Nach diesseitiger Auffassung ist dies nicht nötig.
Luftstreitkräfte
Luftstreitkräfte sind allgemein eine teure Angelegenheit, die sich viele Staaten weltweit gar nicht leisten können. Von den rund 1.100 Kampfflugzeugen, die den sehr großen Luftraum Russlands zwischen Minsk und Wladiwostok schützen sollen, sind nur etwa 600 modern. Der Rest stammt noch aus dem Kalten Krieg, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Maschinen nicht mehr kampfkräftig wären. Es fehlt schlicht das Geld, um den gesamten Flugzeugbestand zu modernisieren.12
Dem russischen Flugzeugbestand stehen in den Staaten der Europäischen Union etwa 1.450 Maschinen gegenüber, die durchweg sehr modern sind. Davon entfallen fast 700 Kampfflugzeuge allein auf die oben genannten 9 Staaten Mitteleuropas. 200 weitere Maschinen unterhalten die EU-Staaten Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden, die mit Russland teils Land-, teils Seegrenzen haben.12 Selbst wenn Russland – wie bei den Landstreitkräften in der Ukraine – auch 5/6 seiner Kampfflugzeuge riskiert, um sie in einem europäischen Krieg einzusetzen, stößt es von vornherein auf eine erhebliche Übermacht.
Russland ist sich dieser qualitativen und numerischen Unterlegenheit bewusst und geht selbst davon aus, dass es ihm wirtschaftlich nicht möglich ist, zu den Flugzeugbeständen der EU-Staaten oder gar der US Air Force (rund 3.000 Kampfflugzeuge) aufzuschließen. Deshalb verlegte sich Russland konsequent auf die Weiterentwicklung bodengestützter Flugabwehrsysteme, von denen es eine beachtliche Zahl besitzt und die auch sehr leistungsfähig sind (siehe auch das vorangegangene Kapitel).13
Su-27, Einführung 1984, Zeichnung: Flanker – CC BY 3.0, Su-27 left side scheme – first series.svg
In allen Einzelheiten wird die Verteilung der Luftstreitkräfte innerhalb Europas in der angehängten
erörtert, weshalb bis zu dieser Stelle nur ein kurzer Überblick über die Kräfteverhältnisse genügt. Es drängt sich aber zugleich auch hier die Frage auf, warum es zu einer Verteidigung Europas gegen Russland zusätzlich noch amerikanischer Unterstützung bedarf. Nach diesseitiger Auffassung können sich die Staaten Europas auch auf diesem Gebiet ohne weiteres selbst behaupten.
Seestreitkräfte
Die sowjetischen Seestreitkräfte waren im Kalten Krieg zwar die zweitstärksten nach den amerikanischen, jedoch stets mit deutlichem Abstand. Auf dem zweiten Platz liegt heute China, und es verfolgt eindeutig das Ziel, zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen und die weltweite amerikanische Übermacht zu brechen. Die Aufrüstung der chinesischen Marine vollzieht sich in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit, und dies nicht ohne Grund: Wie kein anderes Land ist China auf Exporte und weltweiten Handel angewiesen, und stören kann die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft nur die amerikanische Seeherrschaft. In allen Einzelheiten beschrieben und erörtert wird die weltweite Verteilung der Seestreitkräfte in der angehängten
PDF: Marine, 5,37 MB, 79 Seiten
Es wird sich dort zeigen, dass die russische Seekriegsflotte auf allen Meeren mittlerweile weit abgeschlagen ist. Der größere Teil des Schiffsbestands stammt noch aus dem Kalten Krieg und kann kaum mehr instandgehalten werden. Die wenigen Neubauten sind von der Größe her kleine Korvetten oder Fregatten. Die Seestreitkräfte der Staaten der Europäischen Union stellen eine erhebliche Übermacht dar. Erschwerend kommt für Russland seine ungünstige geostrategische Lage hinzu: Es grenzt überall an Randmeere. In die Ozeane einzufahren, ist für russische Schiffe schwierig. Dass Europa keine amerikanische Hilfe benötigt, um sich gegen die seit 1990 stark geschrumpfte russische Marine verteidigen zu können, wird offensichtlich.
Korvette der Stereguschtschy-Klasse, Foto: Tungsten, Corvette Steregushchiy.jpg, gemeinfrei
Technologie
Indes wäre es ein Fehler, Russland zu unterschätzen. Auf allen Gebieten der Militärtechnik ist es Europa und den Vereinigten Staaten technologisch gewachsen, vor allem auf dem Gebiet der Raketentechnik ist seine Entwicklungsarbeit sogar einige Jahre voraus. Die russischen Innovationen sind allesamt gedanklich darauf angelegt, zahlenmäßige Unterlegenheit durch Erfindergeist auszugleichen. Die NATO behauptet zu allen russischen Innovationen, sie seien propagandistische Übertreibungen oder allein aus physikalischen Gründen unmöglich umsetzbar. Im Nachhinein stellt sich dann aber meist heraus, dass die russischen Veröffentlichungen zutreffend waren. Jedenfalls beweist Russland, dass es möglich ist, mit den Vereinigten Staaten technologisch gleichzuziehen und sie zuweilen sogar zu übertreffen. In Europa und vor allem in Deutschland herrscht die Befürchtung vor, gerade auf dem Gebiet der Militärtechnik nur im Bunde mit den Vereinigten Staaten weltweit mithalten zu können. Russlands Beispiel beweist, dass dies unbegründet ist.
Im Ergebnis bietet Russland keinen Grund, an der NATO und den Vereinigten Staaten festzuhalten, weder militärisch noch technologisch.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 28. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Gorlice-Tarnów.
2 Aufzählung der eingesetzten Brigaden: truppendienst.com/themen/beitraege/artikel/die-russische-dampfwalze.
3 bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-429.
4 de.wikipedia.org/wiki/Frankreich.
5 de.wikipedia.org/wiki/Deutschland.
6 de.wikipedia.org/wiki/Vereinigte_Staaten.
7 de.statista.com/statistik/daten/studie/1287041/umfrage/vergleich-verteidigungsbudget-russland-ukraine.
8 Dazu genauer: PDF Heer.
9 Emil Obermann, Gesellschaft und Verteidigung, 1979, Seite
10 de.wikipedia.org/wiki/Bodenselbstverteidigungsstreitkräfte.
11 internationalepolitik.de/de/europa-muss-sich-wappnen,
n-tv.de/politik/Polen-moniert-deutsche-Militaerausgaben-article21222254.html.
12 im Einzelnen: PDF Luftwaffe, Kapitel Kampfflugzeuge.
13 im Einzelnen: PDF Luftwaffe, Kapitel Flugabwehr.
Amerikanische Verhinderungsmöglichkeiten
Die Frage ist, ob und wie die Vereinigten Staaten oder die westeuropäischen Mächte einen NATO-Austritt Deutschlands verhindern könnten.
Militärische Lösung
In Betracht kommt der Versuch, Deutschland militärisch zu besetzen oder zumindest den Durchmarsch nach Osten militärisch zu erzwingen. Völkerrechtlich wäre das eine wie das andere zwar ein verbotener Angriffskrieg, doch völkerrechtliche Betrachtungen werden erfahrungsgemäß, wenn überhaupt, erst retroperspektivisch angestellt. Gegen solche Versuche hätte die Bundeswehr nach einem NATO-Austritt das deutsche Staatsgebiet zu sichern, um die Neutralität als souveräne Entscheidung Deutschlands zu gewährleisten. Mit großem militärischem Druck der westeuropäischen Staaten ist allerdings nicht zu rechnen: Zum einen sind sie militärisch nicht stark, zum anderen wären sie auch nach einem erfolgreich erzwungenen Durchmarsch kaum mehr in einer Verfassung, die anschließend noch einen Einsatz gegen Russland zuließe. Solche Überlegungen wirken zwar befremdlich, doch sind sie keineswegs fernliegend, wenn man die geografische Bedeutung Deutschlands für die NATO und damit für die Politik der Vereinigten Staaten begreift: Nur mit Deutschland funktioniert die NATO, ohne Deutschland funktioniert sie nicht.
Deutsche Willfährigkeit
Auch nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung verhielt und verhält sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Vereinigten Staaten indes derart willfährig, dass dies oft zu Spekulationen über ihre Souveränität einschränkende Geheimabkommen führte. Diese Theorien sollen hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Dennoch entstand der Eindruck, eine militärische, politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten sei das heimliche Staatsziel der Bundesrepublik. Dies ist auch so, und dafür gibt es drei Gründe:
Aussicht auf Regierungsbeteiligung
Erster Grund sind die politischen Parteien. Zumindest auf Bundesebene kann es derzeit keine Partei zu einer Regierungsbeteiligung schaffen, deren Programm den Austritt Deutschlands aus der NATO vorsieht. Anfangs, ab 1979, war im Parteiprogramm der Grünen noch ein NATO-Austritt vorgesehen, doch schon zwanzig Jahre später hatte ihr Vorsitzender Joschka Fischer die Vorzüge einer positiven Haltung gegenüber der NATO und den Vereinigten Staaten erkannt. Ohne seine persönliche Verwandlung vom NATO-Gegner zum ersten deutschen Außenminister, der gleich nach seiner Amtseinführung 1999 einem Krieg mit Beteiligung der Bundeswehr gegen Jugoslawien zustimmte, und ohne seine Überzeugungsarbeit an der Basis seiner Partei wäre 2021 immer noch keine aussichtsreiche grüne Kanzlerkandidatur vorstellbar gewesen. Herr Fischer war es, der seinen Parteifreunden den pazifistischen Markenkern und die Forderung nach einem NATO-Austritt Deutschlands ausredete. Seitdem haben sich Die Grünen in die NATO-freundlichste Partei verwandelt, die sich die amerikanische Politik nur wünschen kann.
Joschka Fischer 2005, Foto: Alexander Blum, Joschka Fischer 2005.jpg
Die Linke verfolgt dagegen das Ziel des NATO-Austritts bis heute. Sie hatte zwar lange Zeit wesentlich mehr Wähler als die Grünen, ist fast in allen Landtagen vertreten und war sogar an etlichen Landesregierungen beteiligt, doch auf Bundesebene ist ihre Regierungsbeteiligung undenkbar. Unter dem moralisierenden Vorwand, sie sei die Partei der Mauerschützen, wird sie auf Bundesebene abgedrängt. Grund für diese Zurückweisung ist das bislang unverbrüchliche Festhalten am Markenkern des NATO-Austritts. Insofern besteht eine stillschweigende kartellartige Übereinkunft der Parteien, zumindest auf Bundesebene nicht mit einer Kraft zu koalieren, die gegenüber der NATO-Mitgliedschaft eine skeptische oder gar ablehnende Haltung einnimmt.
Politisches Personal
Der zweite Grund ist das politische Personal, das erkannt hat, dass es sich mit einer zustimmenden Haltung zur NATO annehmlicher lebt als mit einer ablehnenden Haltung.
Die SPD war unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik jene politische Kraft, die eine Remilitarisierung und die Einbindung des neuen Staats in die NATO überwiegend ablehnte.1 Diesen Standpunkt und damit einen beachtlichen Teil ihrer politischen Mission gab sie so leise auf, dass erst neuere Forschungen den Gründen dieses Sinneswandels nachspüren. So meint Anne Zetsche in ihrer 2016 von der Northumbria University angenommenen Dissertation,2 es habe vom Verein Atlantikbrücke e. V. eine massive Beeinflussung sozialdemokratischer Politiker gegeben, die dazu geführt hätte, die SPD von ihrem antimilitärischen und neutralistischen Kurs abzubringen.
Andere Stimmen kritisieren, dass der Atlantikbrücke e. V. auch heute über seine zahlreichen Mitglieder aus Presse und Medien erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland ausübt, was Medienkonsumenten meist gar nicht bewusst sei, auch wenn – wie bei Anne Will geschehen – gleich mehrere Mitglieder der Atlantik-Brücke in einer TV-Sendung sitzen um ‚kontrovers‘ über Syrien zu diskutieren.3 Dem Verein Atlantikbrücke kommt bei der Meinungsbildung des politischen Personals und der führenden Journalisten in Deutschland unübersehbar eine maßgebliche Rolle zu, wie bereits ein Blick in seine Mitgliederliste zeigt.4
Allerdings werden die Instrumente des Vereins Atlantikbrücke nicht das einzige Lenkungsmittel sein. Über Politiker, die bei einer Regierungsbildung für einen NATO-Austritt eintreten könnten, würden amerikanische Geheimdienste deutschen Medien so viel kompromittierendes Material zuspielen, bis sie unhaltbar sind.
Goldreserven als Pfand
Der dritte Grund ist von schlichter Brutalität: Würden der Nordatlantik-Vertrag und der Aufenthaltsvertrag gekündigt, würden die Vereinigten Staaten für den Verlust ihrer Militärbasen in Deutschland hohe Entschädigungen verlangen. Diese Forderung kann realistisch oder unrealistisch, berechtigt oder unberechtigt sein, denn die Vereinigten Staaten gebieten über fast die Hälfte der deutschen Goldreserven, die immer noch bei der amerikanischen und bei der britischen Zentralbank eingelagert sind, vgl. Kapitel Währungspolitik.
Die deutsch-französische Freundschaft scheint aufrichtig zu sein, denn Frankreich hält sein Pfand offenbar nicht mehr für erforderlich. Es braucht außerdem auch kein Pfand in Gold mehr, denn über die gemeinsame Währung ist es vor deutschen Alleingängen und vor währungspolitischer deutscher Überlegenheit sicher.
Großbritannien hatte dagegen nie vor, sich an der europäischen Gemeinschaftswährung zu beteiligen und ist sogar aus der Europäischen Union ausgetreten. Deshalb gab es mittlerweile zwar 72,5 Prozent des in London eingelagerten Bestandes heraus. Im reduzierten Umfang besteht es jedoch weiterhin auf seinem Pfand, im eigenen wie im amerikanischen Interesse.
Der in den Vereinigten Staaten liegende Teil der Goldreserven war der Größte, und in den seit dem Kalten Krieg vergangenen dreißig Jahren wurden davon nur zwanzig Prozent zurückgegeben. Eine rechtliche Diskussion vor dem Internationalen Gerichtshof über die Rechte an diesem Goldbestand wird absehbar zu nichts führen: Ein Urteil zugunsten der Deutschen Bundesbank wäre nicht das erste, das die Vereinigten Staaten nicht anerkennen. Zu diesem Rechtsstreit würde es allerdings wohl gar nicht kommen:
Medienmacht
Die beim Atlantikbrücke e. V. engagierten deutschen Leitmedien würden sofort nach dem NATO-Austritt berichten, die amtierende Bundesregierung habe mit ihrer Entscheidung die deutschen Goldreserven verspielt und dem deutschen Staatsvermögen einen Verlust von rund 100 Milliarden Euro zugefügt. Eine empörte Mehrheit der auf Sparsamkeit bedachten Bevölkerung kann von diesem Narrativ durchaus beeindruckt werden, erst recht, wenn es vom eigentlichen Thema – Krieg und Frieden – abgekoppelt präsentiert wird. Diesen Rechtfertigungsdruck wird nicht jede Regierung ohne weiteres aushalten können, gleich, aus welchen Parteien sie besteht. Die drohende politische Selbstzerstörung ist zu schauderhaft, als dass ein Politiker dieses Risiko eingehen würde.
Dass in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien gelagerte Goldreserven ein Mittel sind, politische Fügsamkeit zu erzwingen, zeigt sich an den Beispielen des Irak, Venezuelas5 und Afghanistans:6 Alle drei Staaten wurden gezwungen, ihre Gold- und Währungsreserven in den Vereinigten Staaten zu hinterlegen, und allen drei Staaten wurde die Herausgabe verweigert, solange sie keine legitime (damit gemeint: den Vereinigten Staaten gegenüber willfährige) Regierung hätten. Von der Sache her läuft ein NATO-Austritt daher wahrscheinlich darauf hinaus, die in den Vereinigten Staaten liegenden Goldreserven zu opfern. Allerdings ist es die Sache dieses Opfers wert: Die Schäden durch einen Krieg in Europa werden für Deutschland absehbar höher liegen, die in Geld nicht messbaren Opfer an Menschen gar nicht mitgerechnet.
Die vorstehende Skizze der Machtverhältnisse wirkt unangenehm simpel, denn in Anbetracht einer unbestreitbaren kulturellen Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten ist die Vorstellung schwer zu akzeptieren, dass die politische Ebene der deutsch-amerikanischen Freundschaft ausschließlich aus Pfand und Erpressung, Macht und Ohnmacht besteht. Es ist aber so. America has no permanent friends or enemies, only interests.7 Dieser Satz stammt vom früheren amerikanischen Außenminister Henry Kissinger: Es geht nur um Interessen. Alles andere wird hinzuerfunden, um diesen Standpunkt erträglich zu machen.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 deutschlandfunk.de/vor-65-jahren-das-deutsche-manifest-gegen-die-100.html.
2 Titel: The Quest for Atlanticism: German-American Elite Networking, the Atlantik-Brücke and the American Council on Germany, 1952–1974.
3 Thomas Becker, Welche Politiker im Bundestag sind Mitglied der Atlantik-Brücke? am 18. April 2018 auf mdr.de, 18. April 2018, nicht mehr abrufbar.
4 de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Mitgliedern_der_Atlantik-Brücke.
5 amerika21.de/2022/08/259337/venezuela-goldreserven-grossbritannien.
6 dw.com/de/kabuls-dollar-milliarden-und-die-taliban/a-58897807
7 beruhmte-zitate.de/zitate/1098182-henry-kissinger-america-has-no-permanent-friends-or-enemies-only.
Fazit: Ermutigung
Rechtlich ist ein NATO-Austritt jederzeit möglich. Um diesen Schritt zu wagen, ist jedoch persönlicher Mut des politischen Personals erforderlich, und zwar im ganz wörtlichen Sinn:
Die durchweg transatlantisch eingestellten Leitmedien, deren Herausgeber und Chefredakteure überwiegend von amerikanischen Think Tanks geschult und Mitglied im Atlantikbrücke e. V. sind, werden erbitterten Widerstand gegen eine solche politische Initiative leisten. Auf welche Weise Medien Politiker ausschalten können, zeigte sich 2012 in der Affäre um den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff. Nachträglich räumte die (eindeutig im transatlantischen Lager stehende) Bild-Zeitung ihre Macht unverhohlen ein: Wer mit uns im Fahrstuhl nach oben fährt, fährt mit uns auch wieder runter.1 Auf eine ähnliche Leidensgeschichte, wie sie Wulff und seine Ehefrau durchmachen mussten, muss sich jeder Politiker gefasst machen, der den Austritt aus der NATO verfolgt. Sogar wenn es ihm gelingt, sich gegen die Macht der Medien zu behaupten, ist es auch nicht ausgeschlossen, dass ihm Sonstiges zustößt.
Vor das andere Problem sieht sich die Bundesbank gestellt: Sie wird den Verlust jenes Teils ihrer Goldreserven hinnehmen müssen, der in den Vereinigten Staaten gelagert wird. Da allerdings sowieso kaum Aussicht besteht, dieses Gold jemals wieder nach Deutschland zurückbringen zu können, lautet die Abwägung, was eher verschmerzbar sein wird: das Risiko eines fast ausschließlich auf deutschem Staatsgebiet nuklear ausgetragenen Kriegs oder eine Bilanzberichtigung der Bundesbank. Letzteres dürfte der Fall sein, zumal sich Gold nachkaufen lässt:
Wenn die verlorenen Goldreserven einen Wert von 100 Milliarden Euro darstellen, kann dieser Verlust innerhalb von drei Jahren allein durch den Verzicht auf die Ausgaben für die sogenannte Entwicklungspolitik ausgeglichen werden, die zuletzt (2024) beachtliche 33 Milliarden Euro betragen hatten. Entwicklungspolitik ist NATO-Politik, die nichts anderes im Sinn hat als die bedachten Staaten von der Hegemonie des Westens zu überzeugen. Verabschiedet man sich aus dem militärischen Verbund des Westens, verlieren diese opulenten Ausgaben zugleich sowieso ihren Sinn.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 20. September 2024):
1 Jens Finger, Bettina Wulff und der Fahrstuhl, am 5. August 2014 auf web.de/magazine/panorama/bettina-wulff-fahrstuhl-16239134.