Die Menschlichkeit, meine Herren, ist für die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung.
Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame, 1956
Politische Sprache wurde mit dem Ziel geschaffen, dass sich Lügen wahr anhören und Mord respektabel erscheint.
George Orwell (1903 – 1950)
Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dieser Satz stammt von dem preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (Vom Kriege, 1. Kapitel, Abschnitt 26). Als sein Buch Vom Kriege 1832 gedruckt wurde, gab es niemand in Europa, der seiner Definition des Krieges nicht zugestimmt hätte. Beeindruckt waren seine Leser lediglich von der Prägnanz, mit der er die Sache auf den Punkt gebracht hatte. Nur 113 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches wurde 1945 die Charta der Vereinten Nationen verabschiedet. Ihr zentraler Satz lautet:
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Damit schien Clausewitz‘ berühmter Satz seine Geltung verloren zu haben, und genau dies hatte zumindest der überwiegende Teil der 51 Gründerstaaten der Vereinten Nationen auch im Sinn. Einige sannen jedoch bereits vor und bei der Gründung der Vereinten Nationen nach Möglichkeiten, wie sich Machtpolitik ohne die sichtbare Gewalt von Kriegen betreiben lässt. Diese heimlichen Gedanken brachten neue Gebiete der Politik, neue Akteure und neue Begriffe hervor, die in Summe das ergeben, was unter moderner Machtpolitik verstanden wird. Allen diesen Einzelteilen der Machtpolitik ist gemeinsam, dass sie klug, moralisch sauber und geradezu philanthropisch anmuten. Sie sind es nicht.
Das Inhaltsverzeichnis dieses Teils sieht auf den ersten Blick wie eine Sammlung von Stichwörtern aus, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt. Es gibt ihn aber. Die Stichwörter verdichten sich nämlich zu einer einer chronologischen Erzählung, die von Kapitel zu Kapitel spannender wird.
Inhaltsverzeichnis
- Herrschaft über Gold und Währung
- Herrschaft durch Entwicklungspolitik
- Humanitäre Hilfe als Hebel der Einflussnahme
- Völkerrecht
- Regelbasierte Ordnung – westliche Dominanz
- Verordnete Armut: Sanktionen
- Regime Change
- Das Paradoxon: Terror und Menschenrechte
- Asymmetrischer Krieg – der militärische Rechenfehler
- Die Folge: Migration
- Unscharfe Grenzen: Hybrider Krieg
- Erfundene Kriegsgründe
- Das stets gleiche Kriegsziel
- Eliten als Träger der Machtpolitik
- Fazit
Herrschaft über Gold und Währung
1944 trafen sich in dem amerikanischen Skiort Bretton Woods Vertreter von 44 Staaten zu einer Konferenz, die für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein weltweites Wirtschafts- und Währungswesen festlegen sollte. Vor allem für die Wiederaufbauphase während der ersten Jahre nach dem Kriegsende wurden stabile Wechselkurse angestrebt, um einen Abwertungswettbewerb zu verhindern, den die an der Konferenz teilnehmenden Wirtschaftswissenschaftler als wesentlichen Grund für die große Depression der 30er Jahre ausgemacht hatten.1
Mount Washington Hotel in Bretton Woods, Foto: rickpilot_2000 CC BY 2.0, Mt. Washington Hotel.jpg
Dollar als weltweite Leitwährung
Im Ergebnis wurde der amerikanische Dollar als weltweite goldgedeckte Leitwährung vereinbart, bei der 35 Dollar eine Unze (31,1 Gramm) Feingold entsprachen. Später kamen durch das weltweite Wirtschaftswachstum und die damit verbundene Vergrößerung der Geldmenge immer stärkere Zweifel auf, ob die Vereinigten Staaten den Umtausch in Gold tatsächlich gewährleisten könnten. Daran zerbrach das Bretton-Woods-System schließlich im Jahr 1973.1 Seitdem ist der Goldpreis nicht mehr starr auf 35 Dollar je Unze festgelegt, sondern der freie Handel mit Gold möglich. Dennoch blieb der Dollar die weltweite Leitwährung: Während des Bestehens des Bretton-Woods-Systems war in verschiedenen Abkommen vereinbart worden, dass bestimmte internationale Handelsgeschäfte, vor allem der Erdölhandel, ausschließlich in Dollar abgewickelt werden können. Deshalb ist es für jeden Staat unerlässlich, eine Reserve an Dollar vorzuhalten, um am internationalen Energiemarkt teilnehmen zu können. In der Folge steigt und fällt der Kurs des Dollar parallel zur Nachfrage nach Erdöl.2 Die Festlegung auf den Dollar als Handelswährung ermöglicht es den Vereinigten Staaten zugleich, Handelsembargos zu verhängen: Weil die Bezahlung zwangsläufig über die amerikanische Federal Reserve Bank läuft, können sie alle Unternehmen sanktionieren, die entgegen dem von ihnen verhängten Handelsembargo in Dollar zahlen.2 Insofern wurde der Dollar seit 1945 zu einem Instrument weltweiter Machtausübung.
IWF und Weltbank
Überdauert haben das Bretton-Woods-System auch der ebenfalls 1944 gegründete Internationale Währungsfonds und sein Schwesterinstitut Weltbank. Am Internationalen Währungsfonds waren anfangs nur die 44 Gründerstaaten beteiligt. Heute sind es 190 Staaten.3
Der maßgebliche Staat sind weiterhin die Vereinigten Staaten: Sie halten am Kapital und am Stimmrecht des Internationalen Währungsfonds 17 Prozent, und weil alle grundlegenden Entscheidungen einer Mehrheit von 85 Prozent der Stimmen bedürfen, fällt den Vereinigten Staaten damit praktisch ein Vetorecht gegen alle Entscheidungen zu, die nicht mit ihren Interessen übereinstimmen.4 Der Sinn des Internationalen Währungsfonds besteht in erster Linie darin, in Zahlungsschwierigkeiten geratene Mitgliedstaaten als sogenannter Kreditgeber letzter Instanz beizustehen. Damit sollen internationale Wirtschaftskrisen verhindert werden. Auch sonst können Staaten in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen den Internationalen Währungsfonds um Kredite bitten, die dann aber nur unter Bedingungen und Auflagen gewährt werden. Im Gegenzug für die Kreditvergabe verlangt werden vom Internationalen Währungsfonds meist
- die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge, etwa von Versorgungsträgern für Wasser, Strom und Telekommunikation,
- die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen für den Personen-, Güter- und Geldverkehr,
- die Privatisierung von öffentlichem Grund und Boden und staatlichen Betrieben,
- eine Liberalisierung des Finanzwesens,
- die Freigabe staatlich regulierter Preise von Grundnahrungsmitteln und Wohnungen,
- eine rechtsstaatliche Ordnung,
- ein parlamentarisch-demokratische Staatsorganisation.
Die Aufgaben der Weltbank unterscheiden sich von denen des Internationalen Währungsfonds insoweit, dass nicht Staaten im Ganzen, sondern einzelne Projekte finanziert werden. Auch hier hängt die Kreditbewilligung von Bedingungen und Auflagen ab.
Kritik: Verdeckte Fortsetzung des Kolonialismus
Nicht die Kreditvergabe des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank an sich ist bedenklich, sondern die damit verbundene Macht, im Gegenzug tiefgreifende Veränderungen in den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Kreditnehmerländer durchzusetzen: Die erzwungenen Veränderungen wirkten sich auf die Lebensverhältnisse in diesen Ländern überwiegend katastrophal aus.5 Dies ist nicht verwunderlich:
- Die von IWF und Weltbank missbilligten Preisregulierungen von Grundnahrungsmitteln und Wohnraum sollten allen einen sicheren Zugang zum Nötigsten sichern. Dementsprechend bewirkt der Wegfall von Preisregulierungen zwangsläufig, dass die Preise solcher Güter explosionsartig steigen und die Grundversorgung vielen nicht mehr zur Verfügung steht, die dann obdachlos werden und sich zumindest aus ihrem Erwerbseinkommen nicht mehr ernähren können.
- Nicht in jeder Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist Privateigentum an Grund und Boden selbstverständlich. Mit der erzwungenen Privatisierung verschwinden traditionelle wirtschaftliche Strukturen, auch wenn sich diese über viele Generationen hinweg bewährt haben, innerhalb kurzer Zeit, und der größte Teil der bis dahin selbständig Tätigen ist vom Wirtschaftsleben plötzlich ausgeschlossen. Weil es keine kaufkräftigen Inländer gibt, fallen Grund und Boden, Infrastruktur sowie Einrichtungen der Daseinsvorsorge in die Hand ausländischer Investoren.
Kritiker bewerten die hierdurch entstandenen Abhängigkeiten der seit 1945 entstandenen afrikanischen und asiatischen Staaten mit einigem Recht sogar als Fortsetzung des Kolonialismus.6 Durch ihre bestimmende Rolle im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank stehen beide Institutionen den Vereinigten Staaten als wirksame Instrumente zur Verfügung, mit denen sie nach ihrem Gutdünken und zu ihrem Vorteil tief in die Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen anderer Staaten einzugreifen imstande sind. Damit begeben sich die gerade erst unabhängig gewordenen Staaten Afrikas und Asiens ungewollt in neue Abhängigkeitsverhältnisse.
Goldreserven als Pfand
Mit dem Bretton-Woods-System ging das amerikanische Angebot an die übrigen Staaten einher, ihre Goldreserven bei der Federal Reserve Bank in New York einzulagern, um das Gold im Bedarfsfall in die Leitwährung Dollar eintauschen zu können.7 Wenige Jahre später kam durch den Kalten Krieg für die europäischen Staaten der Anreiz hinzu, ihre Goldreserven vor einem sowjetischen Angriff in Sicherheit zu bringen.8 Die meisten von ihnen machten von dem amerikanischen Angebot Gebrauch. Der Bundesbank erschien sogar eine Einlagerung in London und Paris sicherer als im eigenen Land.
Goldlager der Fed, New York, Foto gemeinfrei
Der erste (und bislang letzte) europäische Politiker, der der Einlagerung von Gold in New York offen misstrauisch gegenüberstand, war der französische Präsident Charles de Gaulle. 1966 veranlasste er den Rücktransport der französischen Lagerbestände nach Paris.9 Diese Entscheidung de Gaulles fiel zeitlich wohl nicht zufällig mit seiner anderen Entscheidung zusammen, die französischen Streitkräfte dem Oberbefehl der NATO zu entziehen und eine eigenständige französische Verteidigungsorganisation aufzubauen.10 Es darf angenommen werden, dass er die in New York lagernden Goldbestände für ein französisches Pfand in amerikanischer Hand hielt, in der NATO und damit in der außenpolitischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu bleiben.
Mit dem Ende des Bretton-Woods-System und mit dem Ende des Kalten Kriegs waren alle Gründe dafür entfallen, dass die Bundesbank ihre Goldreserven weiterhin im Ausland lagerte. Bis dahin hatte die Bundesrepublik – nach den Vereinigten Staaten – die zweitgrößten Goldreserven weltweit aufgebaut. Nachdem die Bundesbank von etlichen Teilen des politischen Spektrums kritisiert und aufgefordert worden war, die deutschen Goldbestände nach Deutschland zurückzuholen, unternahm sie zunächst zwar einige Anstrengungen hierzu, die aber unvollständig blieben.11 Schon 2019 endeten diese Bemühungen. Bis dahin hatte es folgende Verschiebungen gegeben:12
Lagerort | 1998* | 2016* | 2017* | 2018* | 2019* |
Frankfurt | 119 | 1.619 | 1.710 | 1.710 | 1.710 |
New York | 1.537 | 1.236 | 1.236 | 1.236 | 1.236 |
London | 1.521 | 432 | 427 | 423 | 420 |
Paris | 374 | 91 | 0 | 0 | 0 |
insgesamt | 3.551 | 3.378 | 3.374 | 3.370 | 3.366 |
* Angaben in Tonnen
Daraus wird deutlich: Die in den Vereinigten Staaten gelagerten Bestände haben so gut wie nicht abgenommen, obwohl es für die Bundesrepublik längst keinen sachlichen Grund mehr gibt, sie dort zu belassen.
Dies und die wenig nachdrücklichen und schon bald aufgegebenen Bemühungen der Bundesbank, daran etwas zu ändern,13 führten zu etlichen Spekulationen, ob das Gold jemals in New York war und noch dort sei.14
Das bisher Geschilderte genügt, um zu verstehen:
- Der Dollar als Leitwährung vieler internationaler Märkte ist ein Machtinstrument in der Hand der Vereinigten Staaten, das es ihnen ermöglicht, die Teilnahme anderer Staaten am Handel nach ihrem Gutdünken zu ermöglichen, einzuschränken oder auszuschließen.
- Noch mehr Einfluss üben die Vereinigten Staaten durch ihre Beherrschung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auf andere Staaten aus. Über die Auflagen bei der Kreditgewährung haben sie die Möglichkeit zu tiefgreifenden Eingriffen in die Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur der Kreditnehmer.
- Die in den Vereinigten Staaten eingelagerten Goldbestände sind ein – bewusst oder unbewusst hinterlegtes – Pfand für die Verpflichtung, die eigenen außenpolitischen Interessen denen der Vereinigten Staaten unterzuordnen und deren Politik weiterhin zu unterstützen. Tritt Deutschland aus der NATO aus, verfällt dieses Pfand höchstwahrscheinlich.
Vom Preis des NATO-Austritts ist dies der größte Teil: Nach dem Tageskurs des Goldes vom 27. August 2024 beträgt er 100,3 Milliarden Euro,15 zufällig fast genau so viel wie das 2022 aufgelegte Sondervermögen zur Modernisierung der Bundeswehr. Gegenüber den mutmaßlichen Kosten für den Wiederaufbau Deutschlands nach einem im Interesse der Vereinigten Staaten geführten Atomkrieg mit Russland wirkt er allerdings lapidar.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf: 27. August 2024):
1 staatslexikon-online.de/Lexikon/Bretton_Woods.
2 Gut erklärt: capital.de/wirtschaft-politik/wie-oelpreis-und-dollar-zusammenhaengen.
3 imf.org/en/News/Articles/2020/10/16/pr20315-andorra-principality-of-andorra-becomes-imfs-190th-member.
4 wiwo.de/politik/ausland/internationaler-waehrungsfonds-usa-geben-widerstand-gegen-iwf-reform-auf/12745774.html.
5 Ein Buch voller Beispiele: Michel Chossudovsky, Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg, 2002.
6 makronom.de/bretton-woods-kolonialismus-us-hegemonie-und-krisen-sind-keine-gute-weltordnung-47069.
7 wiwo.de/finanzen/geldanlage/goldreserven-wie-viel-gold-hat-die-bundesrepublik-deutschland/28811154.html.
8 sueddeutsche.de/wirtschaft/reserven-der-bundesbank-warum-die-deutschen-ihr-gold-im-ausland-lagern-1.1503582.
9 focus.de/finanzen/boerse/gold/geheime-kommandosache-so-kommt-das-deutsche-gold-zurueck-nach-frankfurt_id_2421688.html.
10 nzz.ch/als_de_gaulle_der_nato_und_den_amerikanern_kuendigte-ld.557544.
11 focus.de/finanzen/news/bundesbank-soll-den-ganzen-goldschatz-heimholen-auslandsreserven_id_2276149.html.
12 bundesbank.de/de/presse/reden/das-gold-der-deutschen-897330.
13 bundesbank.de/de/aufgaben/themen/bundesbank-schliesst-goldverlagerungen-aus-new-york-ab-645278.
14 welt.de/finanzen/article128248538/Liegt-das-Gold-der-Bundesbank-wirklich-in-New-York.html.
metallorum.de/blog-details/deutschlands-goldreserven-sind-sie-echt.
focus.de/finanzen/news/vermutung-wo-sind-goldreserven-verschwoerung-verschwoerer-vermuten-leere-goldtresore-bei-us-zentralbank-fed-9_id_3519983.html.
15 goldpreis.de.
Herrschaft durch Entwicklungspolitik
Das umgangssprachlich nach wie vor als Entwicklungshilfe bezeichnete Politikfeld wird neuerdings Entwicklungszusammenarbeit oder auch Official Development Assistance – ODA – genannt. Gemeint ist die Hilfe von Industriestaaten an sogenannte Entwicklungsländer, um weltweite Unterschiede in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung langfristig abzubauen. Die amtliche Definition:1
Entwicklungszusammenarbeit hat die Aufgabe, den Menschen die Freiheit zu geben, ohne materielle Not selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten und ihren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Sie leistet Beiträge zur nachhaltigen Verbesserung der weltweiten wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse. Sie bekämpft die Armut und fördert Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Entwicklungszusammenarbeit trägt zur Prävention vor Krisen und gewalttätigen Konflikten bei. Sie fördert eine sozial gerechte, ökologisch tragfähige und damit nachhaltige Gestaltung der Globalisierung. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit basiert auf dem Grundsatz, aus ethischer Verantwortung und internationaler Solidarität zu handeln. Sie ist damit von humanistischen Werten geleitet, dient aber gleichzeitig auch dem Bestreben, die Zukunft Deutschlands zu sichern.
Entwicklungshilfe – eine Idee der NATO
Der Terminus Entwicklungspolitik und seine moderneren Entsprechungen klingen großmütig und verantwortungsbewusst. Was damit gemeint ist, ist in Wirklichkeit aber weder Edelmut noch Altruismus, sondern lediglich ein machtpolitisches Instrument. Entstanden ist die Entwicklungspolitik mit dem Kalten Krieg, und erfunden wurde sie nicht zufällig bei der Gründung der NATO. Die Rede vom 20. Januar 1949, in welcher der amerikanische Präsident Truman die Gründung der NATO verkündete, enthielt erstmals in der Geschichte die Idee der Entwicklungspolitik. Auszug2 in Google-Übersetzung:3
Darüber hinaus werden wir freie Nationen, die mit uns bei der Wahrung von Frieden und Sicherheit zusammenarbeiten, mit militärischer Ausbildung und Ausrüstung versorgen. Viertens müssen wir ein mutiges neues Programm in Angriff nehmen, um die Vorteile unserer wissenschaftlichen Fortschritte und unseres industriellen Fortschritts für die Verbesserung und das Wachstum unterentwickelter Gebiete nutzbar zu machen. Mehr als die Hälfte der Menschen auf der Welt leben unter Bedingungen, die dem Elend nahekommen. Ihr Essen ist unzureichend. Sie sind Opfer von Krankheiten. Ihr Wirtschaftsleben ist primitiv und stagniert. Ihre Armut ist sowohl für sie selbst als auch für wohlhabendere Gebiete ein Handicap und eine Bedrohung. Zum ersten Mal in der Geschichte verfügt die Menschheit über das Wissen und die Fähigkeit, das Leid dieser Menschen zu lindern.
Die Idee zur Aufnahme einer Entwicklungshilfe war strategisch weitsichtig: 1949 hatte die Dekolonialisierung gerade begonnen und ließ, wie sich im August 1947 am Beispiel Indiens zeigte, die Entstehung einer Menge armer Staaten ohne nennenswerte industrielle Kapazitäten erwarten, die sich nach ihren kolonialen Erfahrungen von den Westmächten abwenden und dem Sozialismus und damit der Sowjetunion umso aufgeschlossener gegenüberstehen würden. Diese neuen Staaten galt es für den Westen zu gewinnen, zumindest zu verhindern, dass diese Verbündete der Sowjetunion werden könnten. Entwicklungspolitik gilt daher in erster Linie als Instrument der Sicherheitpolitik.4
Präsident Truman unterzeichnet den Nato-Vertrag, 24. August 1949, Foto gemeinfrei
Hallstein-Doktrin
Die Bundesrepublik setzte die Entwicklungspolitik im Rahmen der Hallstein-Doktrin5 zudem ein, um neu entstandene Staaten davon abzuhalten, die DDR völkerrechtlich als eigenständigen Staat anzuerkennen.6 Sie hatte damit einigen Erfolg. In der gleich folgenden Grafik sind die Staaten, welche die DDR anerkannten, rot eingezeichnet, die Staaten, die der DDR die Anerkennung verweigerten, grau. Die DDR selbst ist gelb markiert. Nur von 7 der 52 unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten wurde sie anerkannt. Auf dem amerikanischen Kontinent war es lediglich Kuba. Auch in Asien waren es lediglich 8 Staaten, die sozialistisch oder dem Sozialismus zumindest zugeneigt waren.
Erfolg der Hallstein-Doktrin, Quelle: Hanhil, GDR recognition 1970.png
Kritik der Vereinten Nationen
1969 stellte der Pearson-Bericht fest, dass sich die Armut beim größeren Teil der Bevölkerung der geförderten Staaten meist ausweitete, während allenfalls die Oberschicht profitierte.4 In diesem Hauptkritikpunkt an der Entwicklungspolitik hat sich bis heute nichts geändert.7 Wie der zweite große Kritikpunkt, Entwicklungshilfe sei eurozentrisch,8 ist dies jedoch nebensächlich, solange sich damit die politisch maßgeblichen Eliten für den Westen gewinnen lassen. Es ging bei der Entwicklungspolitik während des Kalten Kriegs nie um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern um die Ausrichtung der vielen neu entstandenen Staaten auf westliche Werte, die marktwirtschaftliche Wirtschaftsform und die Akzeptanz amerikanischer Hegemonie im Gegensatz zum sowjetisch-sozialistischen Gesellschaftsmodell.
Bedeutungswandel
Nach dem Kalten Krieg verlor die Entwicklungspolitik zunächst diese ursprüngliche Zielsetzung, erhielt nach kurzer Sinnkrise aber wieder eine ähnliche Bedeutung. Sie verfolgt nun das Ziel, die Empfängerländer für die Narrative des Westens und ihre Zustimmung für eine unipolar auf die Vereinigten Staaten als weltweiter Führungsmacht ausgerichtete Weltordnung zu gewinnen. Vermittelt wird dies durch die Sustainable Development Goals (deutsch: nachhaltige Entwicklungsziele) der Vereinten Nationen, unter denen zwar immer noch die Bekämpfung von Armut und Hunger zu finden ist, die aber ausdrücklich um Klimaschutz, Gleichstellung der Geschlechter, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Good Governance, Nachhaltigkeit, weltweite Gesundheitspolitik, Konsumverringerung usw. erweitert wurden.9,10 Insgesamt geht es der heutigen Entwicklungspolitik darum, nicht nur mit Kapital und technischer Unterstützung zu helfen, sondern die Gesellschaft der Entwicklungsländer mit sogenannten westlichen Werten zu durchdringen und sie auf diese Weise auf die westliche als einzig erstrebenswerte Lebensform auszurichten.
Beispiel China
Auch in Staaten wie China, die aufgrund ihres technologischen Standes und ihrer enormen Wirtschaftskraft keiner Hilfe bedürfen und sich bislang gegenüber den sogenannten Werten des Westens kritisch oder gar abweisend verhalten, findet deshalb deutsche Entwicklungshilfe statt. Im Falle Chinas sind es derzeit 36 Projekte.11 Acht Beispiele daraus:12
- Kapazitätsaufbau und Gender-Training für zivilgesellschaftliche Basis-Organisationen und Sozialarbeiterstationen in einer Provinz Chinas, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202329613-0;
- Schutz der Biodiversität und Stärkung von Frauen im tibetischen Hochland, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202329407-0;
- Bauern auf dem Weg zur Agrarökologie. Best Practices, strategische Verbreitung und politische Lobbyarbeit, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202373983-0;
- Gemeindebasierte Begleitung und Befähigung von Menschen mit Behinderungen in Nordwest China, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202227130-0;
- Stärkung ethnischer Minderheiten insbesondere Frauen und Kinder sowie Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Provinz Qinghai, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202229953-0;
- Stärkung zivilgesellschaftlicher, regionaler Arbeit zu Klima- und Menschenrechtsschutz im Rahmen von Chinas Finanz- und Energiepolitik, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202229680-0;
- Integrierte ländliche Entwicklung und Stärkung bäuerlicher Selbstverwaltung und Kapazitätsaufbau für Graswurzelorganisationen in der Provinz Liaoning, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202229086-0;
- Anwaltschaftliche Arbeit im Gesundheitswesen gegen die Diskriminierungen von Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Krankheiten in der VR China, IATI Maßnahmen-ID: DE-1-202129229-0.
Es liegt auf der Hand, dass solche Projekte (in diesem Fall:) dem chinesischen Staat missfallen. Deshalb treten als Träger auch NGO (Non-governmental organizations), kirchliche und andere gemeinnützige Gesellschaften auf12 und nicht offen und unmittelbar das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder sonstige Bundesministerien.
Kostenexplosion der Machtpolitik
Aufschlussreich sind folgende Zahlen:13
Jahr | Entwicklungs-
hilfeleistungen Milliarden Euro |
Prozentanteil
Bruttoinlands- produkt |
2012 | 10,07 | 0,37 |
2013 | 10,72 | 0,38 |
2014 | 12,48 | 0,42 |
2015 | 16,17 | 0,52 |
2016 | 22,37 | 0,70 |
2017 | 22,18 | 0,67 |
2018 | 21,16 | 0,61 |
2019 | 21,62 | 0,61 |
2022 | 25,19 | 0,73 |
2021 | 28,13 | 0,76 |
2022 | 33,89 | 0,85 |
Derzeit (Januar 2024) sind 61,85 Milliarden Euro für 8.095 Projekte in 109 Staaten zugesagt.14 Hatte der Aufwand für Entwicklungshilfe 1998 5,02 Milliarden Euro (0,26 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts) Euro betragen, machte er 2022 bereits 33,89 Milliarden Euro (0,85 Prozent des BIP) aus,15 nicht viel weniger als der Verteidigungshaushalt.
Bemerkenswert ist: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung brachte 2021 nur knapp die Hälfte der Gesamtausgaben für Entwicklungspolitik auf (13,461 Milliarden Euro). Den Rest tragen regelmäßig andere Resorts, allen voran das Auswärtige Amt (4,086 Milliarden Euro), und verschiedene Bundeseinrichtungen.16 Ausgegeben wird das Geld nach wie vor für die Beeinflussung von Staaten, entweder direkt durch Einflussnahme auf die Regierungen oder indirekt durch Unterstützung gesellschaftlicher Gruppen, die zur Regierungspolitik in Opposition treten sollen.
Indien im Fokus
Mit Abstand die meisten Projekte deutscher Entwicklungspolitik sind auf Indien ausgerichtet:12 Indien war im Kalten Krieg eng und sehr einseitig mit der Sowjetunion verbunden und scheint sich derzeit zu emanzipieren. Die deutsche Entwicklungspolitik setzt offenbar darauf, Indien in das Lager des Westens zu ziehen. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft. Alles in allem erfolgen die hohen Ausgaben für die Entwicklungspolitik nicht aus ethischer Verantwortung und internationaler Solidarität. Sie sind auch nicht zu von humanistischen Werten geleitet, und es ist unerfindlich, wie sie die Zukunft Deutschlands … sichern könnten.1 Sie dienen der Anbindung von Staaten an den Westen sowie deren freiwillige Unterwerfung unter die amerikanische Hegemonie und finanzieren zugleich die Opposition in Staaten, die dies nicht wollen. Ausgegeben wird das Geld nicht in deutschem, sondern ausschließlich in amerikanischem Interesse.
Verdeckte NATO-Kosten?
In die Gedanken der früheren Bundeskanzlerin Merkel, in deren Regierungszeit sich die Ausgaben für die Entwicklungspolitik vervierfacht haben, lässt sich derzeit nicht hineinsehen, und ihre Überlegungen zu ergründen, wird Sache der Historiker sein. Nicht falsch sein wird jedoch folgende Annahme:
Das von der NATO vorgegebene Zwei-Prozent-Ziel bedeutet, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zur Unterstützung der Machtpolitik des Westens (und damit für die unipolare Ausrichtung der Welt auf die Vereinigten Staaten) auszugeben. Weil einer pazifistischen Gesellschaft ohne konkrete Bedrohungsszenarien allenfalls 1,2 Prozent unmittelbarer Militärausgaben zuzumuten sind, werden die fehlenden 0,8 Prozent heimlich dadurch erbracht, dass die Bevölkerung Chinas, Indiens und anderer gegenüber dem Westen widersetzlich eingestellter Staaten mit sanften, scheinbar wohltätigen Beiträgen nach und nach auf den Westen – und gegen ihre Regierungen – eingeschworen wird. Dies ist intelligent. Obama hat dies wahrscheinlich verstanden, Trump nicht, weshalb er stets polternd von Deutschland die fehlende Differenz zu den 2 Prozent einforderte.17
Rechtfertigung
Gerechtfertigt wird die Entwicklungspolitik gegen die Kritik, sie sei pure Verschwendung, mit Verweisen auf ethische Grundsätze:
- Als die Radwege in Peru als unsinniges Projekt ausgemacht wurden18 (das Projekt der 300.000 umweltverträglichen Kühlschränke für Kolumbien19 wurde von der Weltöffentlichkeit nicht so deutlich zur Kenntnis genommen und erfuhr daher weniger Kritik), lautete die Rechtfertigung, beides diene dem Klimaschutz, und weil Klimaschutz eine globale Angelegenheit sei, könne dahinstehen, wo nun im Einzelnen investiert würde.
- Projekte wie die Stärkung von Frauen im tibetischen Hochland (siehe oben) werden damit verteidigt, die Gleichstellung der Frau sei eine Grundüberzeugung deutscher Politik, sodass es ebenfalls einerlei sei, wo diese stattfinde. Dies sei ein Teil der feministischen Außenpolitik.20
Fazit
Weitsichtiger wäre, aus der NATO auszutreten und statt jährlich 28 bis 33 Milliarden Euro für Entwicklungspolitik auszugeben, sich eine eigenständige – deutsche oder europäische – Verteidigungsorganisation zu leisten. Dies wäre, wie sich zeigen wird, erheblich preiswerter und würde vor allem ein Ausscheren aus der immer gewaltsameren amerikanischen Außenpolitik ermöglichen, die vor allem im globalen Süden mehr humanitären Schaden anrichtet als Entwicklungshilfe wiedergutmachen kann.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 27. August 2024):
1 bmz.de/de/service/lexikon/entwicklungszusammenarbeit-14316?.
2 zitiert von de.wikipedia.org/wiki/Entwicklungspolitik#Geschichte_der_Entwicklungspolitik.
3 unter Verwendung von google.com/search?client=firefox-b-d&q=englisch+deutsch.
4 de.wikipedia.org/wiki/Entwicklungspolitik#1960er_–_Entwicklung_durch_Wachstum.
5 bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17594/hallstein-doktrin.
6 Host Dumke, Anfänge der deutschen staatlichen Entwicklungspolitik am 20. Dezember 1997 als Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung,
Seite 5 f. (online: kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_913_1.pdf).
7 Andreas Maisch, Korruption ist halt üblich am 2. Dezember 2018 in: taz.de/Deutsche-Entwicklungshilfe/!5547350.
8 bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32908/zur-kritik-des-entwicklungsdiskurses.
9 sdgs.un.org/goals.
10 dazu Tobias Debiel (Herausgeber), Entwicklungspolitik in Zeiten der SDGs, Festschrift für Franz Nuscheler,
Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen, 2018
(online: idos-research.de/uploads/media/Entwicklungspolitik_in_Zeiten_der_SDGs_Web.pdf).
11 bmz.de/de/laender/china?
12 im Einzelnen aufgezählt auf transparenzportal.bund.de/de/detailsuche?country=CN&project_status=running&offset=10.
12 de.statista.com/statistik/daten/studie/2564/umfrage/entwicklungszusammenarbeitsausgaben-entwicklung-seit-1995.
14 transparenzportal.bund.de/de.
15 destatis.de/DE/Themen/Staat/Oeffentliche-Finanzen/Entwicklungszusammenarbeit/leistungen-entwicklungszusammenarbeit.html.
16 destatis.de/DE/Themen/Staat/Oeffentliche-Finanzen/Entwicklungszusammenarbeit/Tabellen/liste-entwicklungsleistungen-nach-
jahren.html#577644.
17 euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/trump-hat-die-nato-staerker-gemacht-meint-trump.
18 rnd.de/wirtschaft/deutschland-zahlt-radwege-in-peru-warum-wird-die-finanzierung-verteidigt-CKETSBEE25CT5NM5LQDKV62KBU.html.
19 giz.de/de/weltweit/87210.html.
20 bmz.de/de/themen/feministische-entwicklungspolitik.
Humanitäre Hilfe als Hebel der Einflussnahme
Ähnlich wie die Entwicklungspolitik ist auch die Humanitäre Hilfe ein machtpolitisches Instrument, das Einfluss auf Regierungen und Bevölkerung der unterstützten Staaten verschafft.
Humanitäre Hilfe unterstützt Menschen, die sich aufgrund von Krisen, Konflikten oder Naturkatastrophen in aktuellen Notlagen befinden und diese aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Ihr Ziel ist es, betroffenen Menschen ein Überleben in Würde und Sicherheit zu ermöglichen, ihnen eine Lebensperspektive zu geben und Leid zu lindern. In der Natur der humanitären Hilfe liegt, dass sie häufig in einem schwierigen Umfeld, unter schlechten Sicherheitsbedingungen und unter hohem Zeitdruck geleistet wird.1
Altruismus oder Machtpolitik?
Diese Definition entspricht dem in den Medien regelmäßig vermittelten Bild von der Tätigkeit der Hilfsorganisationen. Das Medienkonsumenten meist verborgen bleibende Spannungsfeld zwischen tatsächlicher Hilfe und politischer Einflussnahme führte zu den beiden von den Vereinten Nationen verabschiedeten Resolutionen 46/182 (aus dem Jahr 1991) und 58/114 (aus 2003), die dem Prinzip Menschlichkeit noch die Prinzipien Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit hinzufügten.2 Darauf bestanden vor allem die Staaten des Globalen Südens (vormalige Diktion: Dritte Welt), die meist diejenigen sind, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Aus Erfahrung wissen die Staaten des Globalen Südens, dass zusammen mit der humanitären Hilfe meist auch politische Einflussnahme der – in der Regel – dem Westen zuzurechnenden Geberstaaten ins Land kommt. Nicht selten wird humanitäre Hilfe deshalb rundheraus abgelehnt:
- 2023 lehnte Marokko nach einem Erdbeben humanitäre Hilfe aus Deutschland ab, weil es mutmaßlich eine neuerliche deutsche Einmischung in seinen politischen Streit um Westsahara fürchtete, in dessen Rahmen es 2021 wegen der deutschen Haltung zu einer erheblichen Verschlechterung im Verhältnis beider Staaten gekommen war.3 Eine offizielle Begründung gab es nicht.
- Ebenfalls 2023 lehnte Syrien durch ein Veto Russlands im Weltsicherheitsrat humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen ab, weil es nach dem – aus seiner Sicht – vom Westen mit dem Ziel des Sturzes des russlandfreundlichen Präsidenten Assad initiierten Bürgerkrieg eine neuerliche Einflussnahme auf sein Land fürchtet.4
- Myanmar (früher: Burma) lehnt seit Jahren humanitäre Hilfe ab, weil es fürchtet, dass dadurch der innere Konflikt mit der aufständischen Minderheit der Rohingya weiter angeheizt würde, denen die humanitäre Hilfe vor allem zugedacht war.5 Myanmar ist für seinen Nachbarstaat China im Zusammenhang mit dessen Projekt Seidenstraße von Bedeutung.6
- Venezuela lehnte 2019 humanitäre Hilfe aus den Vereinigten Staaten aus der Befürchtung ab, diese würde im Rahmen des damaligen amerikanischen Regime-Change-Versuchs den von den Vereinigten Staaten ausgerufenen Interimspräsidenten Guaidó unterstützen.7 Die in Venezuela bis dahin eingetretene Notlage, vor allem bei Medikamenten, war allerdings zuvor überwiegend durch amerikanische und europäische Sanktionen hervorgerufen worden.8
Blockierte Autobahn an der Grenze Venezuelas zu Kolumbien 2019,8
Foto: @secpompeo (gemeinfrei)
Das Spannungsfeld
Das Spannungsfeld zwischen Menschlichkeit und machtpolitischer Einflussnahme aus der Sicht der Hilfsorganisationen wurde schon 2002 von Ulrike von Pilar in ihrem Aufsatz Die Instrumentalisierung der Humanitären Hilfe beschrieben und erörtert, dem im Grunde nichts hinzuzufügen ist.9 Auszug:
Die Instrumentalisierung der humanitären Hilfe für politische Zwecke, insbesondere auch auf rhetorischer Ebene zu Legitimationszwecken herangezogen, ist so alt wie die humanitäre Hilfe. Allerdings hat sie seit dem Ende des Kalten Krieges an Intensität zugenommen und insbesondere auch in Deutschland das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr erreicht. Manche befürchten eine Militarisierung der humanitären Hilfe und damit eine Perversion dessen, was humanitäre Hilfe leisten soll. Wenn Kriegsparteien einerseits Bomben abwerfen und andererseits humanitäre Hilfe an die Bevölkerung verteilen, dann läuft humanitäre Hilfe Gefahr, zur Kriegspropaganda zu verkommen: Ziel ist nicht in erster Linie, der Bevölkerung beizustehen, sondern das Image der Angreifer aufzuwerten – innenpolitisch und außenpolitisch. Beispiele dafür liefern der Krieg im Kosovo und in Afghanistan.
Militarisierung der humanitären Hilfe
Im Hinblick auf Deutschland ist damit gemeint: Noch vor dem Beginn der eigentlichen Transformation der Bundeswehr10 von Streitkräften zur Landesverteidigung zu weltweit einsetzbaren Interventionsstreitkräften hatten bereits vorgreifliche Veränderungen stattgefunden. So wurde bereits im Jahr 2000 der Zentrale Sanitätsdienst als eigener Organisationsbereich aufgestellt, dem etwa 11 Prozent des gesamten Personals der Bundeswehr angehören.11 Organisation und Ausrüstung der deutschen Sanitätstruppe sind unverkennbar darauf zugeschnitten, Humanitäre Hilfe auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung zu leisten, entweder als ausschließlich humanitäre Hilfsaktion oder mit dem Ziel, militärischen Interventionen ein humanitäres Gesicht zu verleihen. Überhaupt wurde in den letzten dreißig Jahren vor der Öffentlichkeit unentwegt hervorgehoben, die Bundeswehr würde auf ihren Auslandseinsätzen vor allem Brunnen bohren und Mädchenschulen errichten,12 was Kritiker zuweilen als Unsinn und PR-Plattitüden bezeichneten.13 Auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, die sich überwiegend auf ehrenamtliche Helfer stützt und als zivile Katastrophenschutzorganisation innerhalb der Bundesrepublik Deutschlands gedacht war, ist seit 2000 im Rahmen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit zunehmend im Ausland aktiv.14
Fazit
Alles in allem wird die Feststellung richtig sein, dass es – wie bei der Entwicklungspolitik – auch bei Humanitärer Hilfe allenfalls den idealistischen Ausführenden um Menschlichkeit geht, sie in Wirklichkeit aber kühl berechnete Machtpolitik ist. Überspitzt lautet die Formel: Hilfe für die Bevölkerung gegen Einflussnahme auf die Bevölkerung. Im Fall Venezuelas sollte der Handel lauten: Akzeptiert den von uns ausgesuchten Präsidenten. Sonst kriegen eure Kinder kein Milchpulver und eure Diabetiker kein Insulin. Dies hört sich nach humanistischen Maßstäben unvertretbar an, ist aber nach dem Moralkodex des Posthumanismus nicht zu beanstanden.15
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 30. August 2024):
1 Offizielle Definition: auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/humanitaere-hilfe/huhi/205108.
2 unicef.de/informieren/aktuelles/blog/-/humanitaere-hilfe/311274.
3 rnd.de/politik/erdbeben-in-marokko-warum-nimmt-das-land-deutsche-hilfe-nicht-an-GP6LU6FLZBGBPJU7ITKV2YBMNE.html.
4 zdf.de/nachrichten/politik/russland-un-veto-blockade-humanitaere-hilfe-syrien-100.html.
5 hrw.org/de/news/2017/09/15/burma-hilfe-muss-bei-rohingya-ankommen.
6 dw.com/de/china-vermittelt-waffenruhe-in-myanmar/a-67963631.
7 amerika21.de/2019/02/221890/venezuela-humanitaere-hilfe-maduro-guaido.
8 consilium.europa.eu/de/policies/Venezuela.
telepolis.de/features/Wird-humanitaere-Hilfe-fuer-Venezuela-zum-Casus-Belli-4301699.html
Harald Neuber, Wird humanitäre Hilfe in Venezuela politisch missbraucht?
auf: amerika21.de/2019/02/221890/venezuela-humanitaere-hilfe-maduro-guaido
9 online: aerzte-ohne-grenzen.de/sites/default/files/attachments/2002-humanitaere-debatte-instrumentalisierung.pdf.
10 Zum Begriff: bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29040/zur-transformation-der-bundeswehr.
11 bundeswehr.de/de/organisation/sanitaetsdienst.
12 spiegel.de/politik/ausland/bundeswehr-in-afghanistan-zum-dorfkick-mit-splitterschutzweste-a-511168.html,
reservistenverband.de/magazin-die-reserve/abschlussappell-und-zapfenstreich-zu-ehren-der-afghanistan-veteranen,
13 sehr treffend: Klaus Wagener, Ende der Überlegenheit, am 27. August 2021 auf unsere-zeit.de/ende-der-ueberlegenheit-159664.
14 de.wikipedia.org/wiki/Technisches_Hilfswerk#Internationalisierung_und_ZMZ.
15 nzz.ch/feuilleton/posthumanismus-bedeutet-antihumanismus-fortschritt-braucht-ethik-ld.1704597.
Völkerrecht
Im kollektiven Gedächtnis Europas steckt noch die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg, der die Bevölkerung Mitteleuropas von 1618 bis 1648 auf etwa die Hälfte reduzierte und große Gebiete verwüstet zurückließ. Die Beseitigung dieser Folgen dauerte vor allem in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert hinein. Nach dieser Erfahrung wurde ab dem 18. Jahrhunderts sorgfältig darauf geachtet, dass die Zivilbevölkerung im Krieg möglichst keinen Schaden erlitt. Die Kabinettkriege dieser Epoche wurden deshalb diszipliniert und effizient geführt: Meist fiel die militärische Entscheidung schon nach wenigen Wochen, und sie diente einzig dazu, dem Sieger bei den Verhandlungen über einen Friedensvertrag zur besseren Position zu verhelfen. Durch diese Art der Kriegführung hielten sich auch die militärischen Verluste in Grenzen. Der schon erwähnte Militärtheoretiker Clausewitz war ein typischer Vertreter dieses Zeitalters. Eine folgerichtige Entwicklung dieser Epoche war die heute noch gültige Genfer Konvention von 1864 betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen, die damals zunächst von zwölf Staaten unterzeichnet wurde.1
Erste Versuche
Zwischen 1899 und 1907 wurden auf der Haager Friedenskonferenz Verträge abgeschlossen, die das Kriegswesen in humanitärem Interesse festen Regeln unterwarfen, vor allem im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Verwundeten.
Haager Friedenskonferenz 1899, Foto gemeinfrei.
Die Haager Landkriegsordnung blieb neben der ersten Genfer Konvention die maßgebliche Quelle des Völkerrechts. Dass es zu diesen Verträgen kam, war vornehmlich das Verdienst der Friedensbewegung, die sich über das 19. Jahrhundert hinweg aus nationalen Friedensgesellschaften gebildet hatte.2
Ius in bello – Das Recht im Krieg
Den Kern der völkerrechtlichen Verträge über die Kriegführung bilden heute noch die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung. Sie legen unter anderem fest, dass
- die Teilnehmer an Kampfhandlungen (Kombattanten) ihre Waffen offen tragen und anhand ihrer Uniformen eindeutig der einen oder der anderen Konfliktpartei zuzuordnen sein müssen. Zur Täuschung zivile Kleidung oder fremde Uniformen zu tragen, ist untersagt.
- gegen durch Verwundung wehrlos gewordene Kombattanten keine Gewalt mehr eingesetzt werden darf. Diesen Schutz genießen auch Sanitätssoldaten, die ausschließlich mit der Rettung und Heilung Verwundeter befasst sind, soweit sie und ihre Fahrzeuge unbewaffnet und durch das rote Kreuz auf weißem Grund eindeutig zu erkennen sind.
- Kriegsgefangene zwar zur Arbeit herangezogen werden dürfen, aber während ihrer Gefangenschaft menschlich zu behandeln und ausreichend zu ernähren sind. Sie zu foltern, um ihnen Informationen zu entlocken, ist nicht erlaubt.
- die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur zu schonen sind. Unverteidigte Ortschaften dürfen nicht angegriffen werden.
Heute hört sich all dies selbstverständlich an, doch damit waren erstmals verbindliche Regelungen für das sogenannte ius in bello (Verhaltensregeln im Krieg) getroffen worden.
Ius ad bellum – Das Recht zum Krieg
1928 schlossen Australien, Deutschland, Großbritannien, Irland, Italien, Kanada, Neuseeland, Südafrika, Tschechien und die Vereinigten Staaten den Briand-Kellogg-Pakt, dem ab 1929 Belgien, Frankreich, Japan, Polen und die Sowjetunion sowie nach und nach 48 weitere Staaten beitraten. Die unterzeichnenden Staaten verzichteten auf Krieg als Werkzeug der Politik und vereinbarten, Streitigkeiten künftig friedlich zu lösen. Angriffskriege wurden ausdrücklich verboten, das Recht eines jeden Staates auf Selbstverteidigung wurde dagegen als unveräußerlicher Teil staatlicher Souveränität anerkannt.4 Damit war erstmals das sogenannte ius ad bellum (das Recht zur Kriegführung) geregelt. Den Zweiten Weltkrieg verhinderte der Briand-Kellogg-Pakt dennoch nicht.
UN-Charta als Rechtsquelle
Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs wurden die Vereinten Nationen gegründet. Der zentrale Satz der am 26. Juni 1945 unterzeichneten UN-Charta steht in Kapitel I Artikel 2 Ziffer 4:5
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Genfer Abkommen
1949 wurden die Haager Landkriegsordnung und das Genfer Abkommen von 1864 um vier weitere Genfer Abkommen erweitert:
- Das I. Abkommen schützt Verwundete und Kranke der Streitkräfte im Feld,6
- Das II. Abkommen schützt Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige der Streitkräfte auf See,7
- Das III. Abkommen schützt Kriegsgefangene,8
- Das IV. Abkommen schützt Zivilpersonen, auch in besetzten Gebieten.9
Unterzeichnung der UN-Charta 1945, Foto gemeinfrei
Internationale Gerichtsbarkeit
1998 wurde von 139 Staaten das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet, welches in Artikel 8 den Straftatbestand der Aggression einführte10. Der amtliche deutsche Wortlaut verdient es, an dieser Stelle wörtlich wiedergegeben zu werden, denn hiernach ist der Angriffskrieg als zentraler Begriff des Völkerrechts – vernünftiger Weise – sehr weit gefasst:
(1) Im Sinne dieses Statuts bedeutet ‚Verbrechen der Aggression‘ die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.
(2) Im Sinne des Absatzes 1 bedeutet ‚Angriffshandlung‘ die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waffengewalt durch einen anderen Staat. Unabhängig von dem Vorliegen einer Kriegserklärung gilt in Übereinstimmung mit der Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereint
a) die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates oder der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder jede, wenn auch vorübergehende, militärische Besetzung, die sich aus einer solchen Invasion oder einem solchen Angriff ergibt, oder jede gewaltsame Annexion des Hoheitsgebiets eines anderen Staates oder eines Teiles desselben;
b) die Bombardierung oder Beschießung des Hoheitsgebiets eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder der Einsatz von Waffen jeder Art durch einen Staat gegen das Hoheitsgebiet eines anderen Staates;
c) die Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates;
d) ein Angriff der Streitkräfte eines Staates auf die Land-, See- oder Luftstreitkräfte oder die See- und Luftflotte eines anderen Staates
e) der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die sich mit der Zustimmung eines anderen Staates in dessen Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß gegen die in der entsprechenden Einwilligung oder Vereinbarung vorgesehenen Bedingungen oder jede Verlängerung ihrer Anwesenheit in diesem Hoheitsgebiet über den Ablauf der Geltungsdauer der Einwilligung oder Vereinbarung hinaus;
f) das Handeln eines Staates, wodurch er erlaubt, dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen;
g) das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, irregulärer Kräfte oder Söldner durch einen Staat oder in seinem Namen, die mit Waffengewalt gegen einen anderen Staat Handlungen von solcher Schwere ausführen, dass sie den oben aufgeführten Handlungen gleichkommen, oder seine wesentliche Beteiligung daran.
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Ablehnung durch die Vereinigten Staaten
Nur 121 von 190 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben seit 1998 das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert.11 31 weitere haben es zwar unterzeichnet, aber anschließend nicht ratifiziert, sodass sie nicht daran gebunden sind. Die Vereinigten Staaten unterzeichneten das Statut 2000, zogen ihre Unterschrift 2002 aber wieder zurück, Israel und Russland ebenfalls. Die Vereinigten Staaten verabschiedeten zugleich mit der Rücknahme ihrer Unterschrift sogar den American Service-Members’ Protection Act zum Schutz der amerikanischen Regierung, der amerikanischen Streitkräfte und sonstiger Vertreter der Vereinigten Staaten vor der Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof. Diese Einschränkungen relativieren den Wert des Internationalen Strafgerichtshofs erheblich.
Verbotene Waffen
Neben den Verträgen über das ius in bello gibt es noch internationale Verträge, die den Besitz und den Einsatz bestimmter Waffen verbieten. Auch hier ist bemerkenswert, wer mitmacht und wer nicht:
– Die Chemiewaffenkonvention von 1997 verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz von chemischen Waffen. Nicht beigetreten sind Ägypten, Nordkorea und Süd-Sudan.12
Deutsche Soldaten mit Gasmasken im 1. Weltkrieg
– Die Biowaffenkonvention (amtlich Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen) trat bereits 1971 in Kraft. Nicht unterzeichnet haben Ägypten, Dschibuti, Eritrea, Israel, Haiti, Kiribati, Komoren, Mikronesien, Somalia, Süd-Sudan, Syrien, Tschad und Tuvalu.13
– Darüber hinaus vermittelten die Vereinten Nationen völkerrechtliche Verträge, die zum Schutz der Zivilbevölkerung den Einsatz besonders gefährlicher konventioneller Waffen untersagen, etwa nicht selbst deaktivierende Personenminen, Glasminen, Brandwaffen, Blendwaffen und Streumunition.14 Die Teilnehmerkreise dieser Verträge sind zu verschieden, um hier aufgezählt zu werden.
– Wichtigster Vertrag in dieser Aufzählung ist der Atomwaffensperrvertrag von 1970. Er soll lediglich die Ausbreitung der Atomwaffen verhindern, aber nicht deren Einsatz, und geht auf eine Initiative der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und Chinas zurück, die ausnahmsweise von dem gemeinsamen Interesse geleitet waren, den exklusiven Kreis der Atommächte auf fünf Mitglieder zu begrenzen.15 Nur vier sonstige Staaten – Indien, Israel, Pakistan und Südsudan – unterzeichneten den Atomwaffensperrvertrag von Anfang an nicht. Nordkorea trat im Januar 2003 aus dem Vertrag aus, was nach Artikel 10 Absatz 1 des Vertrages jedem Teilnehmer möglich ist. Die osteuropäischen Staaten, darunter die Ukraine, die südamerikanischen Staaten sowie die meisten afrikanischen und arabische Staaten haben den Vertrag zwar unterzeichnet, aber nie ratifiziert, sodass sie zum Verdruss der Initiatoren des Atomwaffensperrvertrags nicht daran gebunden sind.
Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sind in Deutschland, Italien, der Niederlande und der Türkei amerikanische Atomwaffen eingelagert, die eigentumsrechtlich den Vereinigten Staaten gehören, aber mit deren Zustimmung von den Streitkräften der Teilhaberstaaten eingesetzt werden dürfen.16 Dies ist mit Artikel 1 und 2 des Atomwaffensperrvertrages nicht in Einklang zu bringen, denn es werden damit jeweils Kernwaffen an einen Nichtkernwaffenstaat weitergegeben17.
Amerikanischer Atombombentest im Pazifik 1948, Foto gemeinfrei
Atomwaffenverbotsvertrag
2017 leitete eine Mehrheit der in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten eine Initiative zu einem gänzlichen weltweiten Verbot von Atomwaffen ein. 122 Staaten haben sich bereits auf einen konkreten Vertragstext geeinigt. Fünfzig Unterschriften unter diesem Text genügen, um Atomwaffen weltweit zu ächten. Die bei ihren hegemonialen Bestrebungen auf Atomwaffen angewiesenen Vereinigten Staaten setzten zwar alles daran zu verhindern, dass diese Unterschriften zusammenkommen, doch trat der Atomwaffenverbotsvertrag im Januar 2021 formal in Kraft.18,19 Er darf nicht mit dem Atomwaffensperrvertrag verwechselt werden, siehe oben. In der deutschen Politik wird er kontrovers diskutiert. Eine deutsche Unterzeichnung erfolgte bislang nicht.20
Völkergewohnheitsrecht
Die generelle Problematik des Völkerrechts liegt, wie zu sehen ist, darin, dass nie alle, sondern immer nur einige Staaten Verträge eingehen, aber nur Verträge als denkbare Rechtsquelle zur Verfügung stehen. Nur wenige Grundsätze sind allgemeingültig, etwa das Verbot von Angriffskriegen in der Charta der Vereinten Nationen, siehe oben. Die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen haben immerhin, auch wenn sie nicht von allen Staaten unterzeichnet oder ratifiziert wurden, den Status eines Völkergewohnheitsrechts.21 Weitere Beispiele für das Völkergewohnheitsrecht sind
- das Verbot des Völkermords,
- das Selbstbestimmungsrecht der Völker,
- das Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Strafe,
- die Anerkennung des Luftraums bis 80 Kilometer Höhe als Teil des Staatsgebiets.22
Eine allgemeinverbindliche regelbasierte Ordnung bildet das Völkerrecht jedoch nicht.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 31. August 2024):
1 de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Konventionen#Beginn_1864.
2 Dieter Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, 1985, Seite 7.
3 de.wikipedia.org/wiki/Haager_Landkriegsordnung#Die_Haager_Friedenskonferenzen_von_1899_und_1907.
4 de.wikipedia.org/wiki/Briand-Kellogg-Pakt#Inhalt.
5 unric.org/de/wp-content/uploads/sites/4/2022/10/charta.pdf.
6 ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/gci-1949.
7 ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/gcii-1949.
8 ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/gciii-1949.
9 ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/gciv-1949.
10 un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html.
11 de.wikipedia.org/wiki/Römisches_Statut_des_Internationalen_Strafgerichtshofs#Vertragsstaaten.
12 Text des Abkommens auf opcw.org/chemical-weapons-convention/download-convention.
13 Text des Abkommens auf disarmament.unoda.org/biological-weapons.
14 de.wikipedia.org/wiki/Konvention_über_bestimmte_konventionelle_Waffen.
15 Text des Vertrages: atomwaffena-z.info/fileadmin/user_upload/pdf/NPT-Vertrag.pdf.
16 bmvg.de/de/aktuelles/die-nukleare-teilhabe-in-der-nato-5093218,
ifsh.de/nukleare-teilhabe,
atomwaffena-z.info/glossar/begriff/nukleare-teilhabe.
17 Otfried Nassauer, Nukleare Abrüstung, Atomwaffensperrvertrag und Nukleare Teilhabe – Sollte Deutschland das nukleare Outsourcing
beenden? im Mai 2005 auf bits.de/public/policynote/pn05-2.htm.
18 Text: icanw.de/wp-content/uploads/2020/07/2019_vertragsheft.pdf.
19 bmeia.gv.at/ministerium/presse/aktuelles/2024/01/der-atomwaffenverbotsvertrag-ein-meilenstein-der-globalen-abruestung-feiert-dritten-geburtstag
20 bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw04-de-aktuelle-stunde-atomwaffenverbot-818968.
21 Rudolph Bernhardt, Ungeschriebenes Völkerrecht, 1976, Aufsatz auf zaoerv.de/36_1976/36_1976_1_3_a_50_76.pdf.
22 juraforum.de/lexikon/voelkergewohnheitsrecht.
Regelbasierte Ordnung – westliche Dominanz
Regelbasierte Ordnung (RBO, rules-based order) oder regelbasierte Weltordnung ist ein relativ neuer, in Staaten der westlichen Welt verwendeter Begriff ohne eindeutige Definition. Seine Bedeutung hängt davon ab, wer ihn verwendet:
Vereinigte Staaten
In den Vereinigten Staaten und Australien meint der Begriff regelbasierte Ordnung eine seit den 1960er Jahren beanspruchte globale Vorrangstellung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum.1 In Australien ist regelbasierte Ordnung ein zentraler Begriff, der seit 2009 seit den Weißbüchern zur Verteidigungspolitik verwendet wird.1 In den Vereinigten Staaten wird er seit 2015 in der Nationalen Sicherheitsstrategie2 in dem Kontext verwendet, dass aufgrund der globalen Vormachtstellung der Vereinigten Staaten eine starke, dauerhafte amerikanische Führung für die regelbasierte Ordnung unverzichtbar sei, während Russland und China dort als Bedrohung für die regelbasierte Ordnung genannt werden1 Seitdem ersetzte im Sprachgebrauch amerikanischer Politiker regelbasierte Ordnung den etablierten Begriff Internationales Recht. Dahinter steckt eine gewisse Konsequenz: Das internationale Recht ist eine Summe internationaler Abkommen. An den meisten multilateralen Abkommen sind die Vereinigten Staaten selbst aber nicht beteiligt, um sich keine rechtlichen Hindernisse in den Weg zu legen, die eigenen Interessen mit wirtschaftlicher oder militärischer Stärke durchsetzen.1
Deutschland
Nach deutscher Auffassung meint regelbasierte Ordnung nicht nur völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen wie die UN-Charta, sondern auch nicht verbindliche Normen, Standards und Verhaltensregeln. Neben den Vereinten Nationen (und dem von ihnen ausgehenden Völkerrecht) gelten im deutschen Verständnis auch die NATO, die OSZE, die G7 und die G20 als Bestandteile der regelbasierten Ordnung.1 In der deutschen Außenpolitik wurde der Begriff regelbasierte Ordnung ab 2017 eingeführt (Kabinett Merkel IV) und hat seitdem auch in Deutschland den Begriff internationales Recht im politischen Sprachgebrauch ersetzt.1,3,4
Ablehnung des Begriffs außerhalb der NATO
China und Russland lehnen den Begriff der regelbasierten Ordnung ab, da er für eine Weltordnung unter der Führung der USA stehe, die beide ausdrücklich ablehnen. Sie berufen sich auf das Völkerrecht und die Vereinten Nationen und treten für eine multipolare Weltordnung ein, deren zentrales Rechtsgut die Souveränität aller Staaten darstellt, mit der sich die Einmischung einer Hegemonialmacht nicht verträgt.1 Nach Verständnis Indiens gibt es derzeit noch keine regelbasierte Ordnung. Eine solche müsse sich erst noch durch Dialog herausbilden und auf der Zustimmung aller Staaten basieren, nicht auf dem Willen einiger weniger mächtiger Staaten. Dazu müsse zunächst der UN-Sicherheitsrat neu verfasst werden, denn es sei nicht hinnehmbar, dass nur die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die zugleich die wichtigsten Atommächte sind, dort dauerhaft vertreten sind und über ein Veto-Recht verfügen. Souveränität, territoriale Integrität sowie die Gleichheit aller Länder seien die maßgeblichen Werte für eine regelbasierte Ordnung.1
Nur eine Phrase?
Bemerkenswert ist der am 1. Juli 2020 in Internationale Politik erschienene Beitrag zur deutschen Verwendung und Deutung des Begriffs, der eine fast ungekürzte Wiedergabe verdient:5
Still und leise, fast klammheimlich, ist der Kampf für eine „regelbasierte Weltordnung“ zum höchsten und letzten Zweck der deutschen Außenpolitik avanciert. Kein Grundsatztext kommt mehr ohne diese Phrase aus. Im Koalitionsvertrag findet man sie gleich viermal … Schon klar, gegen wen sich das richtet – man darf an Trump, Putin, Xi und andere starke Männer denken, die Verträge zerreißen, Allianzen unterminieren, Staatsgrenzen missachten und auch mal schnell ein paar neue Inseln aufschütten lassen, um ihre Interessen durchzusetzen. … Nur ist die Gegenüberstellung der „Stärke des Rechts“ und des „Rechts des Stärkeren“ ein bisschen wohlfeil. Was wird aus dem Recht – ohne einen Starken, der es durchzusetzen bereit ist? Das ist die große Frage, die über dem postamerikanischen Zeitalter schwebt.
Die deutsche Liebe zur regelbasierten Ordnung ist nicht frei von Heuchelei. Hier wird ein außenpolitisches Ziel moralisch verbrämt, das zunächst einmal schlicht den begrenzten Machtmitteln einer Mittelmacht entspricht: Regeln als Instrument, um andere Akteure im eigenen Interesse zu Wohlverhalten zu zwingen. Dass dieses Interesse versteckt wird und man sich selber nicht an die Regeln hält, löst bei Partnern einen Widerwillen aus, den Berlin offenbar immer noch unterschätzt. Die Stilisierung Deutschlands zum Champion der regelbasierten Ordnung strahlt eine schwer erträgliche Selbstgerechtigkeit aus. Berlin hatte zuletzt in manchen Jahren deutlich mehr EU-Vertragsverletzungsverfahren am Hals als etwa Rom oder Budapest – peinlicher Weise auch noch oft in Umweltfragen, in denen man Avantgarde zu sein beansprucht.
Dass Deutschland in der EU so häufig mit dem Regelwerk in Konflikt kommt wie keine andere Mitgliedsnation, wird hierzulande ausgeblendet, weil es nicht ins Selbstbild passt. Wohl aber ins Bild, das Deutschlands Partner sich gemacht haben: „Ihr versteckt eure Macht hinter wolkigen Formeln, dabei seid ihr in der EU der Stärkere, dessen Recht sich oft durchsetzt. Es ist ja normal, dass ihr eure Interessen verfolgt. Unerträglich wird es nur, wenn ihr dies versteckt und behauptet, stets nur im Sinne der Allgemeinheit zu handeln.“ So sahen es in der Eurokrise die südlichen Nachbarn, deren Verschuldung moralisch verdammt wurde, während die Rettung des Binnenmarkts mit vielen Milliarden (ein klares deutsches Interesse) zur selbstlosen Tat verklärt wurde. Und so sehen es die östlichen Nachbarn seit der Migrationskrise, als Deutschland ohne Abstimmung die Dublin-Regeln suspendierte und dann die Osteuropäer schalt, als diese nicht wie in Brüssel verabredet Flüchtlinge aufnehmen wollten. Nichts also gegen den Kampf für die regelbasierte Ordnung! Aber er sollte vielleicht mit einem tiefen Blick in den Spiegel beginnen.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 30. August 2024):
1 Boas Lieberherr, Die „regelbasierte Ordnung“ – Divergierende Auffassungen in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik des Center for Security
Studies der Universität (ETH) Zürich, Nummer 317, Februar 2023, (online: ethz.ch/content/dam/ethz/special-inte
rest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSSAnalyse317-DE.pdf).
2 Die National Security Strategy ist ein jährlicher Bericht der amerikanischen Regierung an den Kongress über die sicherheitspolitische
Lage des Landes, en.wikipedia.org/wiki/National_Security_Strategy_(United_States).
3 Stefan Talmon, Rules-based order v. international law? am 20. Januar 2019 in: German Practice in International Law, online: gpil.jura.uni-
bonn.de/2019/01/rules-based-order-v-international-law.
4 auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/regelbasierte-internationale-ordnung.
5 Jörg Lau, Regelbasierte Weltordnung-in 80 Phrasen um die Welt, online: internationalepolitik.de/de/regelbasierte-weltordnung.
Verordnete Armut: Sanktionen
Eine Verletzung der sich aus der Charta der Vereinten Nationen ergebenden Pflichten kann von den Mitgliedsstaaten durch Sanktionen (Artikel 41) oder durch militärischen Zwang (Artikel 42) gegen den betreffenden Staat geahndet werden, um ihn zu veranlassen, seine Politik zu ändern und den Rechtsverstoß aufzugeben. Artikel 41 enthält eine Legaldefinition des Begriffs Sanktion:
Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen – unter Ausschluss von Waffengewalt – zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen.1
Nicht selten werden Sanktionen aber doch mit zusätzlichen – militärischen – Maßnahmen durchgesetzt, nämlich im Wege des Embargos oder der Blockade von Land-, See- und Luftwegen.2 Sanktionen können auch von einzelnen Staaten, Staatengemeinschaften oder Bündnissen gegen einen anderen oder mehrere andere Staaten, deren Regierungen oder Einzelpersonen eingesetzt werden. Sogar die Sanktionierung nichtstaatlicher Akteure ist möglich (so bei Al-Quaida und Islamischer Staat).
Politisch wirkungslos, humanitär verheerend
Zwischen 1945 und 1990 kam es seitens der Vereinten Nationen fast nie zur Verhängung von Sanktionen, da sich die Mitglieder des Weltsicherheitsrats gegenseitig mit ihren Veto-Rechten blockierten. Nach 1990 stieg die Zahl der verhängten Sanktionen erheblich an, vor allem gegen afrikanische, arabische und asiatische Staaten.3 Die häufigsten Sanktionen sind Waffenembargos.4 Langfristige Untersuchungen zeigen, dass Sanktionen ganz überwiegend nicht den erwünschten politischen Erfolg bewirken, aber für die Bevölkerung der sanktionierten Staaten verheerende Folgen haben.5,6
Die Prämisse von Sanktionen – dass sie die Regierung schwächen und es wahrscheinlicher machen, dass sie an den Verhandlungstisch kommt – wird einfach nicht durch Beweise gestützt. Tatsächlich zeigt eine aktuelle Untersuchung der US-Sanktionen, dass Sanktionen seit 1970 nur in 13 Prozent der Fälle wirksam waren. In den meisten Fällen haben die Sanktionen nicht nur ihre erklärten Ziele verfehlt, sondern (sind) auch nach hinten losgegangen, indem sie den Interessen der USA geschadet und die sanktionierte Organisation gestärkt haben. So haben beispielsweise 70 Jahre Sanktionen gegen Kuba verheerende Auswirkungen auf das Leben unschuldiger Kubaner gehabt. Während die Sanktionen die kubanische Wirtschaft lahmgelegt und sogar lebensrettende medizinische Hilfe für die kubanische Bevölkerung gestoppt haben (u. a. während des Höhepunkts der COVID-19-Pandemie), konnte ein Regimewechsel – das ursprüngliche Ziel der US-Sanktionen – bisher nicht erreicht werden. In der Zwischenzeit haben die Sanktionen gegen Nordkorea das Land dazu veranlasst, den Handel mit China zu intensivieren, anstatt das Land zu zwingen, sich den Forderungen Washingtons zu beugen.5
Peter Rudolf weist auf das Paradoxon hin, dass ausgerechnet Sanktionen, die wegen Menschenrechtsverletzungen verhängt werden, die Menschenrechtslage in den sanktionierten Staaten fast immer zusätzlich verschlechtern. Auszug:7
An dem Befund, dass Sanktionen vielfach bedenkliche, ja tödliche Wirkungen auf die Bevölkerung sanktionierter Staaten haben, lässt sich nicht rütteln. Wie eine methodisch reflektierte Untersuchung zu 98 Ländern zeigt, die zwischen 1977 und 2012 US-amerikanischen und VN-Sanktionen unterworfen waren, haben sich diese negativ auf die Lebenserwartung in diesen Staaten ausgewirkt, eine Auswirkung, von der besonders Frauen betroffen waren. Und eine quantitative Untersuchung von US-Sanktionen (unilaterale plus US-initiierte VN-Sanktionen) gegen 148 Staaten in den Jahren 1971-2015 kommt zu dem Ergebnis, Sanktionen – und gerade auch menschenrechtlich begründete – führten zu einer Verschlechterung der Lage der Bevölkerung in den betroffenen Ländern, gemessen am Freedom of Misery Index, der wirtschaftliche, menschenrechtliche und gesundheitliche Indikatoren einbezieht.
Armes Kuba: Seit 60 Jahren sanktioniert, Foto Christian Pirkl – CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=131664323
Das Dilemma, das sich gerade mit Blick auf menschenrechtlich begründete Sanktionen aus diesem Befund ergibt, ist offenkundig: Sollen möglichst wirksame Sanktionen verhängt werden, müssen diese für den Adressaten kostspielig sein. Aber von den Kosten ist die Bevölkerung betroffen, in deren Interesse die Sanktionen auferlegt werden. Sanktionen mögen die am wenigsten schlechte Option sein, die Entscheidungsträgern zur Verfügung steht. Doch eine gute sind sie nicht per se. Auch vom Anspruch her zielgenaue Sanktionen bleiben wegen ihrer möglichen negativen Nebenwirkungen und ihrer vielfach geringen Wirksamkeit problematisch.
Immer mehr Gründe
Die von Peter Rudolf ausgewerteten Studien stammen aus einem Zeitraum bis 2015, in dem noch nie Staaten des sogenannten Globalen Nordens sanktioniert wurden. Seit 2014 wird jedoch Russland,8 und seit 2020 wird auch die Türkei sanktioniert, Letztere erst von den Vereinigten Staaten und nun auch von der Europäischen Union.9,10 Bei Russland ging es zunächst um den Anschluss der Krim, später um Russlands Krieg gegen die Ukraine.8 Bei der Türkei ging es 2020 um den Kauf eines russischen Flugabwehrraketensystems statt des amerikanischen PATRIOT-Systems,9 dann um unerlaubte Bohrungen nach Erdgas im östlichen Mittelmeer.10 Ob die Sanktionen gegen Russland wirksam sind, wird sehr unterschiedlich bewertet, geradezu kontrovers.11
Sanktionspolitik, Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Hier wird angenommen, dass die Wirksamkeit von Sanktionen eine deutliche wirtschaftliche Überlegenheit der sanktionierenden Staaten voraussetzt, da die Wirkung von der Abhängigkeit des sanktionierten Staates von Importen und damit von der Verknappung seiner Versorgungslage ausgeht. Wirtschaftlich gleich starke Staaten werden sich dagegen mit Sanktionen gleichermaßen schädigen. Während die Bevölkerung armer Staaten unter Sanktionen ähnlich wie unter Kriegseinwirkungen leidet, dürften Sanktionen zwischen Staaten gleichen wirtschaftlichen Gewichts allerdings weniger schmerzhaft sein. Dass der NATO-Staat Türkei von den Vereinigten Staaten wegen einer Kaufentscheidung sanktioniert wird, wirkt befremdlich, denn Sanktionen sind als Reaktion auf Vertrags- und Völkerrechtsverstöße gedacht, und nicht, um eine Korrektur von Kaufentscheidungen zu erzwingen.
Quellen und weiterführende Hinweise (zuletzt abgerufen am 31. August 2024):
1 unric.org/de/charta/#kapitel6.
2 wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/embargo-36710/version-163155.
3 Die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen, Seite 6, in: UN-Basisinformationen Heft 60, online: dgvn.de/publications/Bilder/Basis-Informationen/BI_60_UN-Sanktionen_web.pdf.
4 Judith Vorrath, UN-Waffenembargos auf dem Prüfstand, online: swp-berlin.org/publications/products/studien/2024S06_UN-Waffenembargos.pdf
5 Wazhma Sadat, Warum die Sanktionen gegen die Taliban nicht funktionieren, Aufsatz in Foreign Policy in deutscher Übersetzung auf merkur.de/politik/sanktionen-taliban-funktionieren-afghanistan-zr-92390383.html.
6 Peter Rudolf, Wirkungen und Wirksamkeit internationaler Sanktionen – Zum Stand der Forschung, online:
swp-berlin.org/publications/products/studien/2024S13_WirksamkeitSanktionen.pdf.
7 Peter Rudolf, a. a. O., Seite 21 f.
8 consilium.europa.eu/de/policies/sanctions-against-russia/timeline-sanctions-against-russia.
9 dw.com/de/usa-verhängen-sanktionen-gegen-türkei-wegen-russischem-raketensystem/a-55940569,
zeit.de/politik/ausland/2020-12/usa-tuerkei-sanktionen-nato-buendnispartner-raketensystem-russland-pompeo.
10 consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/11/08/eastern-mediterranean-council-prolongs-the-sanctions-regime-over-unauthorised-drilling-activities-for-a-further-year.
11 Zuversichtliche Bewertung: tagesschau.de/faktenfinder/kontext/russland-sanktionen-eu-114.html.
Skeptische Bewertung: ifo.de/publikationen/2023/aufsatz-zeitschrift/sanktionen-gegen-russland.
Regime Change
Die Politikwissenschaft bezeichnet als Transition, was umgangssprachlich Regime Change genannt wird,1 doch gemeint ist dasselbe:2 der Übergang von einem politischen System in das andere. In der Regel ist damit der Übergang von autoritären Staatsformen in die demokratische Staatsform gemeint. Die Politikwissenschaft unterscheidet drei
Fallgruppen:1
Gelenkte Transition: alte Regimeeliten initiieren Systemwechsel und kontrollieren weitgehend dessen weiteren Verlauf. Geläufigstes Beispiel sind die als Glasnost und Perestroika bekannt gewordenen Veränderungsprozesse in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow.
Ausgehandelte Transition: Alte Regimeeliten und oppositionelle Gruppen handeln den Systemwechsel aus und gestalten einvernehmlich dessen weiteren Verlauf. Geläufigstes Beispiel ist der 1975 in Spanien gelungene Übergang von der Diktatur in eine parlamentarische Monarchie.
Erzwungene Transition: Oppositionelle Kräfte stürzen die alten Regimeeliten und bestimmen den weiteren Verlauf selbst. Dies wird die häufigste Fallgruppe sein.
Zwei Vorgänge, die zweifellos Transitionen waren, passen überhaupt nicht in dieses dreiteilige Schema:
- 1918 verdrängte in Russland die neue bolschewistische Elite die alte zaristische Elite. Die neue Elite baute die russische Gesellschaft zwar in kürzester Zeit von Grund auf und in geradezu spektakulärer Weise um, aber dennoch ersetzte nur ein autoritäres Regime ein anderes.
- 2014 stürzte in der Ukraine eine außerparlamentarische Opposition die demokratisch gewählte Regierung und vertrieb sie ins Exil, um dann – wiederum demokratisch – eine neue Regierung zu wählen.
Die lange Liste der CIA…
Übersehen wird auch, dass Regime Change keineswegs immer in die Richtung Demokratie führte, sondern allzu oft in die entgegengesetzte Richtung. In der oben genannten Kategorisierung waren dies durchweg erzwungene Transitionen, bei denen die oppositionellen Kräfte von der CIA organisiert, geführt und mit Geld und Waffen unterstützt wurden. Dies sind keine antiamerikanischen Verschwörungstheorien, sondern eher der Allgemeinbildung zuzurechnende Tatsachen, die auf Wikipedia in ausführlichen Einträgen beschrieben werden. Die folgende Aufzählung solcher Transitionen ist keineswegs vollständig:
- 1953 stürzte die CIA-Operation AJAX im Iran den demokratisch gewählten Regierungschef Mossadegh und installierte das autoritäre Regime des Schah Reza Pahlewi.3
Verhaftung Mossagehs 1953
- 1954 stürzte die CIA Operation PBSUCESS in Guatemala den demokratisch gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz und installierte die Diktatur des Castillo Armas.4
- 1957 begannen in Indonesien Bemühungen der CIA, den demokratisch gewählten Präsidenten Sukarno zu stürzen, was erst 1965 mit der Einsetzung des Generals Suharto als Diktator gelang.5
- 1960 begann die CIA-Operation MONGOOSE zur Beseitigung der kubanischen Revolutionsregierung unter Fidel Castro, die allerdings scheiterte.6
- 1960 unterstützte die CIA im Kongo die Ermordung des ersten Präsidenten Lumumba und brachte das Militärregime des Oberst Mobutu an die Regierung.7
Patrice Lumumba 1961
- 1964 unterstützt die amerikanische Regierung in Brasilien den Sturz des demokratischen Präsidenten Goulart und die Einrichtung eines Militärregimes.8
- 1965 schlug die amerikanische Marineinfanterie in der Dominikanischen Republik den Volksaufstand gegen das Militärregime nieder und setzten 1966 als den Vereinigten Staaten genehmen Präsidenten Joaquin Balanguer ein, der ein sehr gewalttätiges Regime führte.9
- 1971 unterstützt die amerikanische Regierung in Bolivien den Putsch des Generals Banzer gegen den Präsidenten Torres, den die CIA 1976 im Rahmen der Operation CONDOR ermorden lässt.10
- 1973 unterstützt die CIA im Rahmen der Operation CONDOR in Chile den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Allende und die Einrichtung einer Militärdiktatur unter General Pinochet.11
Salvador Allende
Augusto Pinochet
- 1976 unterstützt die CIA im Rahmen der Operation CONDOR in Argentinien den Sturz der demokratisch gewählten Präsidentin Peron und die Einrichtung einer Militärdiktatur unter General Videla.12
- 1979 beginnt die CIA die Operation CYCLONE, mit der sie die islamistischen Mudschaheddin als bewaffnete Opposition gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung aufbaut.13 Damit beginnen in Afghanistan 42 Jahre Bürgerkrieg.
- 1980 beginnt die CIA in Polen die Unterstützung der Opposition.14
- Ab 1981 unterstützte die CIA in Nicaragua die konterrevolutionären Contras mit dem Ziel der Beseitigung der demokratisch geführten Regierung.15
- 1983 besetzten amerikanische Truppen Grenada und beseitigen seine sozialistische Regierung.16
- 1989 besetzen amerikanische Truppen Panama, beseitigen den von ihnen zuvor installierten Militärdiktator Noriega und tauschen ihn gegen Guillermo Endara als neuen Präsidenten aus.17
… und ihre Rechtfertigung
Alle aufgezählten Aktionen waren Teile des Kalten Kriegs und aus der Sorge der Vereinigten Staaten veranlasst, die betroffenen Staaten könnten von sozialistischen Regierungen aus dem amerikanisch geführten Lager ausscheren und in das von der Sowjetunion geführte Lager wechseln. Gemeinsam sind diesen Fällen des Regime Change zwei Aspekte:
- Im Völkerrecht werden, wie bereits zu sehen war, solche Transitionen als Aggression gegen einen anderen Staat bewertet. Dies kümmert die Vereinigten Staaten jedoch nicht, da sie sich, ihre Streitkräfte und die CIA nicht dem Internationalen Strafgerichtshof unterstellt haben und daher gegen eine Rechtsverfolgung immun sind. Sanktionen der Vereinten Nationen nach Artikel 41 der UN-Charta können sie mit ihrem Vetorecht im Weltsicherheitsrat verhindern, und eine militärische Intervention ist nach Artikel 42 der UN-Charta zwar rechtlich möglich, doch wird sich niemand finden lassen, der den Vereinten Nationen gegen die größte Militärmacht der Welt Truppen zur Verfügung stellt.
- Nach allen Regime Changes kam es zu schweren Menschenrechtsverletzungen durch die von den Vereinigten Staaten aufgezwungenen Machthaber. Oppositionelle wurden willkürlich verhaftet, an geheimen Orten festgehalten und gefoltert, um sie anschließend verschwinden zu lassen. Damit wurden aus demokratischen oder sozialistischen Politikern und ihren Unterstützern Desaparecidos.17 Die fachliche Ausbildung in den Foltermethoden erfolgte an der School of the Americas (ursprünglich Escuela de las Américas) durch qualifizierte Kräfte der US Army. Die Einrichtung trägt heute die euphemistische Bezeichnung Western Hemisphere Institute for Security Cooperation.18
Imageförderndes Facelifting…
Nach dem Kalten Krieg passten diese rüden Methoden nicht mehr in die Zeit, und weil sich die größten Teile der Welt vom Kommunismus losgesagt hatten, ließen sie sich auch nicht mehr mit dem Schutz der Freiheit vor dem Kommunismus rechtfertigen. Dennoch waren die Interessen der Vereinigten Staaten weiterhin auf Regime Changes gerichtet, um ihnen skeptisch gegenüberstehende Regierungen gegen aufgeschlossene auszutauschen. Da die von der CIA an die Macht gebrachten prowestlichen Militärregierungen durch ihre Menschenrechtsverletzungen nicht nur sich selbst, sondern auch die Vereinigten Staaten diskreditiert hatten, wurde aber ein neues Konzept erforderlich.
Das Mittel der Wahl sind nun zivile, vor allem von Studenten angeführte Protestbewegungen, die demokratisch gewählten, aber ihrer Auffassung nach verkrusteten Regierungen in erster Linie mit dem Vorwurf entgegentraten, sich mit gefälschten Wahlergebnissen an der Macht zu halten. Erfahrungsgemäß sind Studenten wirtschaftlich eher nicht in der Lage, die erforderlichen Marketing- und Kommunikationsstrukturen aufzubauen, um die Bevölkerung zu Massenprotesten auf die Straße zu rufen, in ärmeren Ländern erst recht nicht. Sie verfügen von sich aus auch über keine Möglichkeiten, internationale Medien wie CNN, BBC oder Al Jazeera dazu zu bringen, andauernd über ihre Aktionen zu berichten und zugleich die Reaktionen der angegriffenen Regierungen zu kritisieren. Beides ist aber unentbehrlich, um in der Weltöffentlichkeit Sympathie und Unterstützung zu gewinnen. Deshalb drängt es sich zwar auf, dass die örtlichen Initiatoren massiv mit Geld und Medienmacht unterstützt werden, doch lässt sich nicht stringent nachweisen, von wem die Unterstützung kommt.
…durch Blumen und Farben…
Der erste Regime Change dieser neuen Art war 2000 die Bulldozer-Revolution in Jugoslawien, die den Präsidenten Milošević stürzte. In diesem Fall offenbart sogar Wikipedia – allerdings nur auf der englischsprachigen Seite -, dass die treibende jugoslawische Protestbewegung Otpor! von den Vereinigten Staaten und sogar von der Europäischen Union unterstützt wurde.19 Verbesserungswürdig erschien allerdings das ruppig klingende Format (Bulldozer-Revolution), weshalb die schnell folgenden nächsten Regime Changes ihre Identifikation aus angenehmen Farben oder gar Blumen beziehen durften,20
- 2003 die Rosenrevolution in Georgien,
- 2004 die Orangene Revolution in der Ukraine,
- 2005 die Zedernrevolution im Libanon,
- 2005 die Tulpenrevolution in Kirgistan,
- 2007 die (allerdings gescheiterte) Safranrevolution in Myanmar.
Rosenrevolution in Georgien 2003, Foto: Zaraza CC BY-SA 3.0, OP13.JPG
…und philanthropische Unterstützung
Geheimnisvoll bleibt, wie die finanzielle, konzeptionelle und mediale Unterstützung erfolgte. DER SPIEGEL recherchierte dies über die Rosenrevolution in Georgien:21
In einigen Staaten arbeitet Soros mit Organisationen wie Freedom House zusammen – etwa in Jugoslawien und auch in Georgien. Grundsätzlich steht er der Bush-Regierung äußerst kritisch gegenüber; im letzten Wahlkampf hat er mit Millionengeldern den Demokraten John Kerry unterstützt. „Ob Guantanamo oder Abu Ghureib: Es gibt einen Gegensatz zwischen dem, was die USA in Sachen Menschenrecht predigen und was sie praktizieren. Und weil Amerika sich in den Augen so vieler in der Welt diskreditiert hat, werden alle Initiativen diskreditiert, die mit Amerika verbunden sind“, heißt es im jüngsten Jahresbericht der Stiftung. „Dies ist ein Rückschlag auch für unsere Bemühungen, offene Zivilgesellschaften zu schaffen.“ An diesem Tag im März 2003 hat Soros Besuch aus dem Kaukasus – angereist ist Alexander Lomaja, ein kahlköpfiger Ingenieur Ende zwanzig, der seit Jahresanfang die Tifliser Filiale von Soros‘ Open Society Institute leitet. Um im clangeprägten Südkaukasus für die Schaffung einer „offenen Gesellschaft“ einzutreten, bedarf es hartnäckiger Strategen. Lomaja ist so einer. Georgiens Präsident Eduard Schewardnadse habe in den beiden vergangenen Jahren sämtliche Vorschläge zur Korruptionsbekämpfung ignoriert, die man ihm unterbreitete. Soros ist im Bilde. „Schewardnadse ist nicht interessiert an einer offenen Gesellschaft“, sagt der Milliardär und Philanthrop. Was habe man ihm nicht alles nahegelegt, „nichts davon wurde realisiert“. Andere Wege müssten nun gewählt werden. Lomaja, der in Tiflis über 40 Soros-Mitarbeiter und einen für georgische Verhältnisse stolzen Jahresetat von 1,3 Millionen Dollar verfügt, hat zum Glück schon einen Plan.21
Spekulationen nach soll auch 2004 die Orangene Revolution in der Ukraine von Soros‘ Organisation betrieben worden sein.22 Sollte es so gewesen sein, bleibt unklar, ob die Unterstützung ausschließlich aus eigenem Antrieb geleistet wurde, oder ob die zivilen Organisationen nur eingesprungen sind, um das Wirken der diskreditierten CIA zu verdecken.
Orange Revolution 2004, Foto: Marion Duimel, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9027926
Arabischer Frühling
Die Farben– und Blumenrevolutionen sind eine Erscheinung der 2000er Jahre. Bis 2010 war dieses Format in allen Teilen erheblich überarbeitet und verfeinert worden, sodass es dazu imstande war, mit dem Arabischen Frühling nicht nur in einem Staat, sondern in allen Staaten des arabischen Kulturkreises über Nordafrika und den Nahen Osten hinweg mit einem Schlag Revolutionen auszulösen. Herbeigewünscht und vorausgesehen hatte einen Arabischen Frühling bereits 2003 die New York Times, die den positiv wirkenden Begriff erfunden zu haben scheint.23 Von den Aktivisten des Arabischen Frühlings selbst wurde der Begriff, als es soweit war, überwiegend kritisch gesehen.24 Ergebnis war, dass es in Ägypten, Libyen, Tunesien und im Jemen zwar zu Machtwechseln, aber in Libyen, in Syrien und im Jemen sogleich zu langjährigen Bürgerkriegen kam.25
Arabischer Frühling in Ägypten, Ramy Raoof CC BY 2.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12851187
Training und Finanzierung
Dem gängigen Narrativ zufolge waren es überall Studenten oder zumindest moderne junge Menschen aus den betroffenen Ländern, die über soziale Medien erst ihre Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen ausgetauscht und sich dann zu Protesten auf der Straße verabredet hätten. Da dies zu glauben schwerfällt, gibt sogar Wikipedia zu:26
Unter anderem gilt auch die serbische Demokratiebewegung Optor! als Vorbild für einige arabische Aktivisten. Mohamed Adel, Mitbegründer der Jugendbewegung des 6. April in Ägypten, nahm im Juli 2010 in Belgrad an einem Kurs von CANVAS teil. Die Finanzierung von CANVAS erfolgte durch das Ausland, insbesondere aus US-amerikanischen Quellen. Die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House unter der Leitung des ehemaligen CIA-Direktors James Woolsey bildet Trainer aus und finanziert Aktivistencamps. Zu den weiteren Sponsoren zählt das Open Society Institute von George Soros.26
Zur Erläuterung: Das Centre for Applied Nonviolent Action and Strategies (CANVAS) wurde 2004 in Belgrad gegründet und ist eine Nicht-Regierungsorganisation, die die Erfahrungen der Protestbewegung Otpor! aus der Bulldozer-Revolution 2000 an Nachahmungsinteressenten weitergibt.27 Zu Freedom House führt Wikipedia aus:28
Freedom House zählt mehrere Institutionen der US-Regierung zu seinen größten Geldgebern. Zu den drei größten Spendern gehörte 2010 der Demokratieförderfonds der Vereinten Nationen (UNDEF). Dazu kommen Mittel weiterer Regierungen sowie verschiedener halböffentlicher und privater Stiftungen, etwa der Open Society Foundations von George Soros. 2016 finanzierte sich Freedom House dem eigenen Finanzreport zufolge zu 86 Prozent durch Gelder der US-Regierung. Zu den wichtigen Unterstützern gehörten auch das EU-Menschenrechtsprogramm und die Regierungen von Kanada, der Niederlande und Norwegen. Google zahlte 2017 mehr als 100.000 Dollar, Facebook ebenso wie der britische Rüstungskonzern BAE Systems mehr als 50.000 Dollar. Aufgrund dieser Finanzierungsstruktur wird die Organisation häufig mit dem Vorwurf politischer Parteilichkeit konfrontiert.28
Das ist bedenklich, denn es ist weder hinnehmbar, dass ein Staat entscheidet, wer in einem anderen Staat regiert, noch ist akzeptabel, dass von Milliardären und anderen Staaten finanzierte Nicht-Regierungsorganisationen darauf Einfluss nehmen. Selbstbestimmungsrecht und Demokratie werden damit zur Formsache, und das Staatsvolk, das souverän über seine Politik entscheiden soll, wird manipulativ abgewertet.
Bulldozer Revolution, Foto: Viktor Sekularac – wagingnonviolence.org/2013/10/trapped-inside-military-day-milosevic-fell, CC BY 4.0
Historische Einteilung
Insgesamt wird man Regimes Changes in drei Epochen einteilen können:
- Während des Kalten Krieges, als es darum ging die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern, trat die CIA unverstellt in Erscheinung: Sie initiiere Staatsstreiche, finanzierte Konterrevolutionen und Menschenrechte waren nebensächlich, solange die installierten Militärregierungen loyal zu den Vereinigten Staaten waren.
- Nach dem Kalten Krieg blieb Russland als nach wie vor einziger weltweiter Konkurrent auf dem Gebiet der strategischen Nuklearwaffen weiterhin im Fokus der amerikanischen Außenpolitik, die auf eine Einkreisung Russlands bedacht war. Die Rosen- und Farbrevolutionen ereigneten sich vor allem in ehemaligen Sowjetrepubliken. Die CIA steuerte, trainierte und finanzierte aus dem Hintergrund nationale und internationale Nicht-Regierungsorganisationen mit überwiegend jungen Menschen, die sich mehr politische Teilnahme und durch Anlehnung an den Westen mehr wirtschaftliche Perspektive wünschten. Nur diese Sympathieträger wurden medial wahrgenommen und lenkten von den amerikanischen Interessen ab. Auffällt dabei die Übereinstimmung mit der Entwicklungspolitik, wo sich die Staaten (auch der deutsche) auf die Vorgabe der Programme sowie die Bereitstellung der Mittel beschränken und die eigentliche Arbeit in den Ländern Non-Regierungsorganisationen überlassen, deren allgemein bekannte humanitäre Ausrichtung davon ablenkt, dass es nur um politische Einflussnahme geht.
- In der dritten Epoche wurde nicht mehr die postsowjetische, sondern die arabische Welt bearbeitet, die seit 2001 als der erklärte Feind der Vereinigten Staaten und des Westens dargestellt wurde. Obwohl die Organisation noch mehr verfeinert worden war, war das Ergebnis nicht gelungen: In Libyen musste 2011 die NATO beim Sturz des Regimes nachhelfen,29 in Ägypten musste der frei gewählte Präsident Mursi eilig gegen ein amerikafreundliches Militärregime ausgetauscht werden,30 in Syrien und im Jemen brachen Bürgerkriege aus.31,32
Kritik und Verteidigung
Kritiker der auf weltweite Einmischung bedachten amerikanischen Politik setzen ihre Hoffnung auf Donald Trump. Sie vergessen aber, dass während seiner Präsidentschaft in Venezuela ebenfalls ein Regime Change stattfinden sollte, der allerdings scheiterte.33 Die anschließenden Bemühungen der neuerlich durch Wahlen bestätigten Regierung Maduro, die in Großbritannien eingelagerten Goldreserven ausgehändigt zu bekommen, scheiterten, da nach britischer (und amerikanischer) Auffassung ausschließlich der von den Vereinigten Staaten ausgerufene Gegenpräsident Guaidó die legitime Regierung Venezuelas sei.34 Dies beweist die bereits im Kapitel Währungspolitik aufgezeigten Abhängigkeitsstrukturen, mit denen Gold- und Währungsreserven zum machtpolitischen Pfand werden.
Russland wird vorgeworfen, es beeinflusse mit erheblichem Aufwand Wahlen in den Ländern des Westens, vor allem durch Desinformation.35 Ein Vergleich zu den amerikanischen Bemühungen in dieser Hinsicht wird zwar voraussichtlich als relativierender Whataboutismus abgetan, ist aber einiger Gedanken wert.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 1. September 2024):
1 de.wikipedia.org/wiki/Transition_(Politikwissenschaft).
2 en.wikipedia.org/wiki/Regime_change.
3 de.wikipedia.org/wiki/Operation_Ajax.
4 de.wikipedia.org/wiki/Operation_PBSUCCESS#Chronologie.
5 de.wikipedia.org/wiki/Beteiligung_der_Vereinigten_Staaten_an_Regierungswechseln_im_Ausland#1957–1959:_Indonesien,
de.wikipedia.org/wiki/Suharto.
6 de.wikipedia.org/wiki/Operation_Mongoose.
7 de.wikipedia.org/wiki/Kongo-Krise#Ermordung_Lumumbas.
8 de.wikipedia.org/wiki/Beteiligung_der_Vereinigten_Staaten_an_Regierungswechseln_im_Ausland#1961–1964:_Brasilien.
9 de.wikipedia.org/wiki/Joaquín_Balaguer#Präsidentschaft_1966–1978.
10 de.wikipedia.org/wiki/Beteiligung_der_Vereinigten_Staaten_an_Regierungswechseln_im_Ausland#1971:_Bolivien.
11 de.wikipedia.org/wiki/Putsch_in_Chile_1973.
12 de.wikipedia.org/wiki/Beteiligung_der_Vereinigten_Staaten_an_Regierungswechseln_im_Ausland#1976:_Argentinien.
13 de.wikipedia.org/wiki/Operation_Cyclone.
14 de.wikipedia.org/wiki/Beteiligung_der_Vereinigten_Staaten_an_Regierungswechseln_im_Ausland#1980–1989:_Polen.
15 de.wikipedia.org/wiki/Beteiligung_der_Vereinigten_Staaten_an_Regierungswechseln_im_Ausland#1981–1990:_Nicaragua.
16 de.wikipedia.org/wiki/US-Invasion_in_Grenada.
17 de.wikipedia.org/wiki/Desaparecidos#Festnahme,_Folter_und_Ermordung.
18 de.wikipedia.org/wiki/Beziehungen_zwischen_Lateinamerika_und_den_Vereinigten_Staaten#1970er_Jahre:_Die_Ära_der_Juntas,
de.wikipedia.org/wiki/Western_Hemisphere_Institute_for_Security_Cooperation#Kritik.
19 en.wikipedia.org/wiki/Overthrow_of_Slobodan_Milošević, gestützt auf:
washingtonpost.com/archive/politics/2000/12/11/us-advice-guided-milosevic-opposition/ba9e87e5-bdca-45dc-8aad-da6571e89448,
nytimes.com/2018/02/17/sunday-review/russia-isnt-the-only-one-meddling-in-elections-we-do-it-too.html.
20 de.wikipedia.org/wiki/Farbrevolutionen.
21 spiegel.de/politik/die-revolutions-gmbh-a-0ff5abd6-0002-0001-0000-000043103188.
22 de.wikipedia.org/wiki/George_Soros#Osteuropa.
23 George Packer, Dreaming of Democracy, 2. März 2003: nytimes.com/2003/03/02/magazine/dreaming-of-democracy.html.
24 disorient.de/magazin/dossier-arabischer-fruehling-kritik-eines-narratives.
25 de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Frühling.
26 de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Frühling#Ursachen_und_Beteiligte.
27 de.wikipedia.org/wiki/Centre_for_Applied_Nonviolent_Action_and_Strategies.
28 de.wikipedia.org/wiki/Freedom_House#Finanzierung.
29 de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Militäreinsatz_in_Libyen_2011.
30 de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_Mursi.
31 de.wikipedia.org/wiki/Bürgerkrieg_in_Syrien_seit_2011.
32 de.wikipedia.org/wiki/Militärintervention_im_Jemen_seit_2015.
33 en.wikipedia.org/wiki/Crisis_in_Venezuela.
34 spiegel.de/wirtschaft/soziales/venezuela-gericht-in-london-verweigert-herausgabe-von-gold-reserven-an-nicolas-maduro-a-9988f6b8-d640-4f68-9c7f-070fe210cead.
35 zeit.de/politik/ausland/2022-09/us-geheimdienste-russland-wahlbeeinflussung-kandidaten-parteien-millionen.
Das Paradoxon: Terror und Menschenrechte
Es mag befremdlich wirken, Terror und Menschenrechte in einem Zug als Thema vorgesetzt zu bekommen, denn das eine scheint das Gegenteil vom anderen zu sein. Diese Irritation ist hier beabsichtigt.
Terror – klassische Bedeutung
Das lateinische Wort terror bedeutet Schrecken oder Furcht.1 1651 wurde die Vokabel in die Politik eingeführt. Seitdem wurde ihre Bedeutung mehrfach gedreht und gewendet, bis sie schließlich sogar als Kriegsgrund herhalten konnte.
Für den englischen Philosophen Thomas Hobbes, dessen Schriften gewissermaßen die theoretischen Grundlagen des Absolutismus darstellen, ist Terror das Instrument des absoluten Staats, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten und damit sowohl legitim wie notwendig (terror of legal punishment).2 Grauenvolle Körperstrafen vermittelten dem erschreckten Publikum die Botschaft: Das kommt dabei heraus, wenn man gegen die natürliche staatliche Ordnung verstößt. Dies darf jedoch nicht dazu führen, Thomas Hobbes durchweg menschenverachtende Gedanken zu unterstellen, denn unter diesen finden sich auch die wesentlichen Grundlagen des modernen Liberalismus: die natürliche Gleichheit aller Menschen, die Freiheit unter dem Gesetz und die Konzeptualisierung des Staats als Ergebnis eines Vertrages rationaler Individuen.3
Thomas Hobbes nach einem zeitgenössischen Gemälde
Hundert Jahre später kritisierte die Aufklärung den von Hobbes noch für legitim gehaltenen Terror, vor allem der 1759 erschienene Roman des französischen Philosophen Voltaire Candide oder Der Optimismus: Fast auf jeder Seite geht es darum, was sich Menschen mit Auspeitschungen, Verbrennungen und Verstümmelungen antun können, und der Roman endet mit dem vielsagenden Satz: Gut gesagt, aber unser Garten muss jetzt kultiviert werden.4 Seine Kritik setzte Voltaire 1764 in seinem Dictionnaire philosophique portatife fort.5 Dieses Buch wurde 1765 in Paris öffentlich verbrannt. Einerseits führte die Aufklärung in Frankreich zur Revolution von 1789, in der die absolutistische Staatsform beseitigt wurde. Andererseits erwies sich die neue Republik als nicht viel menschenfreundlicher: Die 13 Monate von Juni 1793 bis Juli 1794 gingen als la terreur in die französische Geschichte ein.6
Hinrichtungen während der französischen Revolution
Der Terror behielt seine staatstragende Funktion weiterhin: 1918 erließ Lenin sein Dekret über den Roten Terror,7 und sein Nachfolger Stalin stellte mit dem Großen Terror alles Bisherige in den Schatten.8 In Deutschland ging es in derselben Zeit ab 1933 nicht besser zu, nur dass weder die Initiatoren noch die Kritiker Hitlers Konzentrationslagerregime ausdrücklich als Terror bezeichneten. Erst Historiker verwendeten nach und nach diesen Begriff.9
Terror – veränderte Bedeutung
Nach Hitler und Stalin verschwand Terror aus dem politischen Vokabular, um nach zwanzigjähriger Pause dorthin zurückzukehren, nun allerdings auf der anderen Seite: Terror war plötzlich nicht mehr der Ausdruck staatlicher Strenge, sondern das Instrument von Terroristen, erst – ab 1970 – zum Kampf gegen den Staat und seine Ordnung,10 später – nach 1990 – zum Kampf gegen die Werte des Westens, die zur gleichen Zeit als neuer Begriff in den politischen Wortschatz eingezogen waren.11 Diese Umkehr der begrifflichen Bedeutung von Terror fiel in der öffentlichen Debatte kaum auf.
New York, 11. September 2001, Foto: Robert J. Fisch, CC BY-SA 2.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11785564.
Heute: Terror als Kriegsgrund
In den Morgenstunden des 11. September 2001 kam es in New York und in Washington zu Akten des Terrors, als Terroristen zwei Verkehrsflugzeuge in das World Trade Center und eines in das amerikanische Verteidigungsministerium lenkten. Der amerikanische Präsident George W. Bush rief daraufhin den Krieg gegen den Terror aus und forderte die übrigen NATO-Staaten auf, sich daran zu beteiligen. Auszug aus seiner Rede vom 21. September 2001:12
Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al-Quaida, aber er endet nicht dort. Er wird nicht enden, bis jede terroristische Gruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und geschlagen ist. …
Die Amerikaner sollten nicht einen Kampf erwarten, sondern eine langwierige Kampagne, anders als alle, die wir je gesehen haben. Diese könnte dramatische Angriffe einschließen, die im Fernsehen übertragen werden, und versteckte Operationen, die auch bei Erfolg geheim bleiben. Wir werden den Terroristen ihre Geldmittel abschneiden, sie gegeneinander aufbringen, sie von Ort zu Ort treiben, bis es für sie keine Zuflucht oder Ruhe mehr gibt. Und wir werden die Staaten verfolgen, die dem Terrorismus Hilfe zur Verfügung stellen oder ihm einen sicheren Hafen bieten. Jedes Land in jeder Region muss sich jetzt entscheiden – entweder es steht an unserer Seite oder an der Seite der Terroristen.
Damit definierte Herr Bush jeden Staat zum militärischen Ziel, der nicht einschränkungslos auf der Seite der Vereinigten Staaten stehen und die Werte des Westens nicht einschränkungslos übernehmen wollte. Die NATO-Staaten hatten bereits neun Tage vor dieser Rede am 12. September 2001 beflissen den Bündnisfall ausgerufen.13
Menschenrechte – klassische Bedeutung
Was unter Menschenrechten verstanden wird, wurde in Europa erstmals am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung definiert, deren Erklärung zur begrifflichen Klarstellung auszugsweise zitiert wird:14
Artikel I: Die Menschen sind und bleiben von Geburt an frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.
Artikel II: Das Ziel einer jeden politischen Vereinigung besteht in der Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. …
Artikel IV: Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was dem anderen nicht schadet.
Artikel VI: Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens … Ob es schützt oder straft: es muss für alle gleich sein…
Artikel VII: Kein Mensch kann anders als in den gesetzlich verfügten Fällen und den vorgeschriebenen Formen angeklagt, verhaftet und gefangengenommen werden …
Artikel XI: Freie Gedanken- und Meinungsfreiheit ist eines der kostbarsten Menschenrechte …
Artikel XVII: Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, kann es niemandem genommen werden, außer im Falle öffentlicher Notwendigkeit unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung.
An dieser Definition, die sich inhaltlich auch im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes wiederfindet, hat sich seitdem nichts geändert, und diese Aussagen sind der Kern der Werte des Westens.11
Deklaration der Menschenrechte 1789
Heute: Menschenrechte als Kriegsgrund
Anlass für Sanktionen und Kriege waren bis 2001 neben der Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung hauptsächlich Verletzungen der Menschenrechte. Der einzige Krieg, der seit 1945 auf dem europäischen Kontinent zum Schutz der Menschenrechte geführt wurde, war 1999 der Krieg der NATO gegen Jugoslawien, um im Kosovo einen Völkermord zu beenden, der, wie sich im Nachhinein herausstellte, gar nicht stattgefunden hatte.15 In Deutschland hatte er zu einer rechtswissenschaftlichen Debatte geführt, ob ein Angriffskrieg entgegen der Charta der Vereinten Nationen ausnahmsweise gerechtfertigt sein könnte, wenn es darum geht, Völkermord zu verhindern.16
Narrative
Der Schutz von Menschenrechten als vorgeschobener Kriegsgrund erwies sich 1999 als schwierig. Die Bekämpfung des Terrors eignete sich dafür wesentlich besser und besaß eine ähnliche moralische Rechtfertigung, denn bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 waren immerhin 2.996 Menschen ums Leben gekommen und rund 6.000 verletzt worden.17
Der Krieg gegen den Terror dauerte von 2001 bis zur Wahl Donald Trumps 2016. Präsident Obama hatte zwar versprochen, den Krieg gegen den Terror zu beenden, führte ihn aber von der Sache her unverändert weiter. Lediglich die Bezeichnung wurde gegen den komplizierten Begriff Beharrliche Anstrengungen gegen Netzwerke von Extremisten ausgetauscht, nachdem die Zustimmung in der amerikanischen Bevölkerung zurückgegangen war.18,19 Die Forschungsergebnisse zu den Opferzahlen fallen je nach Studie zwischen einer halben Million Menschen20 und über eine Million Menschen21 in Afghanistan, Irak und Pakistan aus. Dies steht in einem bemerkenswerten Missverhältnis zu den Opferzahlen vom 11. September 2001.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf: 31. August 2024):
1 frag-caesar.de/lateinwoerterbuch/Terror-uebersetzung.html, analog: Der Kleine Stowasser.
2 Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 13. Kapitel.
3 osa.fu-berlin.de/politikwissenschaft_lehramt/beispielaufgaben/3_politische_theorie/index.html.
4 Inhaltsangabe für Ungeduldige: getabstract.com/de/zusammenfassung/candide/3831.
5 Zur näheren Befassung: traumdenken.de.
6 Weil es (fast) jeder weiß: geschichte-abitur.de/lexikon/uebersicht-aufklaerung-franzoesische-revolution/schreckensherrschaft-la-terreur.
7 bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/275169/vor-100-jahren-beschluss-des-roten-terrors.
8 bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/sowjetunion-i-1917-1953-322/189565/stalinismus.
9 bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/526169/der-terror-im-dritten-reich.
10 RAF-Terror in Deutschland: hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-krisenmanagement/linksterrorismus-rote-armee-fraktion.html,
de.wikipedia.org/wiki/Rote_Brigaden,
Christian Jansen, Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion in: zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/jansen_0.pdf.
11 internationalepolitik.de/de/was-heisst-westliche-wertegemeinschaft,
amnesty.de/informieren/amnesty-journal/markus-beeko-kolumne-westliche-werte.
12 Redetext: web.archive.org/web/20051217122637/http://www.lpb.bwue.de/aktuell/terrorusa/bush2109.htm.
13 Presseerklärung der NATO: nato.int/docu/pr/2001/p01-124e.htm.
14 Übersetzung auf bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/233139/vor-225-jahren-frankreichs-erste-verfassung.
15 ag-friedensforschung.de/themen/NATO-Krieg/ard08-02-01.html,
taz.de/Zehn-Jahre-Kosovokrieg/!5165844,
ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama/archiv/2000/Enthuellungen-eines-Insiders-Scharpings-Propaganda-im-Kosovo-Krieg,erste7422.html.
16 Zum damaligen Meinungsstand: Christian Busse, Völkerrechtliche Fragen zur Rechtmäßigkeit des Kosovo-Krieges in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1999, Seiten 416 ff.
17 reuters.com/article/2007/09/11/us-sept11-factbox-idUSN1036268720070911.
18 sueddeutsche.de/politik/usa-bushs-kriegsrhetorik-hat-ausgedient-1.392897.
19 usnews.com/news/articles/2013/05/23/obama-global-war-on-terror-is-over.
20 aljazeera.com/news/2018/11/9/us-war-on-terror-has-killed-over-half-a-million-people-study.
21 ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/BodyCount_internationale_Auflage_deutsch_2015.pdf.
Asymmetrischer Krieg – der militärische Rechenfehler
Mit Ausnahme der nach nur 40 Tagen am 1. Mai 2003 abgeschlossenen Besetzung des Irak,1 die mit dem Irrtum des amerikanischen Präsidenten George W. Bush mission accomplished endete,2 war der Krieg gegen den Terror eine Summe mehrerer asymmetrischer Kriege. Die wichtigsten Schauplätze waren Afghanistan, der Irak, Pakistan und der Indische Ozean vor Somalia. Zählt man die in seinem Kontext von der CIA und islamischen Extremisten befeuerten Konflikte hinzu, griff er auch 2011 auf Syrien, 2012 auf Mali und 2015 noch auf den Jemen über. Der längste und wichtigste Teil wurde von der NATO Operation ENDURING FREEDOM genannt.
Diese vollmundige Bezeichnung passte nicht zum kläglichen Ende, das von Anfang an vorauszusehen war, und zwar nicht, obwohl diese Kriege so lange dauerten, sondern weil sie so lange dauerten:
In asymmetrischen Kriegen stehen sich nämlich zwei grundverschiedene Konfliktparteien gegenüber, und die Zeit arbeitet beharrlich für die schwächere und gegen die stärkere Seite. Dabei ist die stärkere Seite militärisch professionell aufgestellt, während die schwächere immerzu auf Improvisation und List angewiesen ist. In einem verallgemeinernden Schema lässt sich der asymmetrische Krieg ungefähr so beschreiben:3
Stärkere Konfliktpartei | Schwächere Konfliktpartei |
Die Führung erfolgt zentral. Alle Handlungen werden militärisch professionell geplant, nach taktischen Grundsätzen durchgeführt und logistisch abgesichert. | Eine zentrale Führung gibt es nicht immer. Oft gibt es nur regionale Führungsstrukturen. Improvisation herrscht gegenüber militärischer Professionalität vor. |
Es stehen zumindest überwiegend moderne Waffen- und Aufklärungssysteme sowie Fernmeldeverbindungen zur Verfügung. Waffen werden offen getragen. | Die Ausrüstung besteht aus Pistolen, Sturmgewehren, Hohlladungsgeschossen und improvisierten Sprengfallen. Waffen werden möglichst verdeckt getragen. |
In Übereinstimmung mit dem Völkerrecht sind die Teilnehmer an Kampfhandlungen durch das Tragen von Uniformen erkennbar. | Die Teilnehmer an Kampfhandlungen tragen meist landesübliche zivile Bekleidung und sind von der übrigen Zivilbevölkerung nicht zu unterscheiden. |
Es werden völkerrechtliche Schutzzeichen (etwa Rotes Kreuz) verwendet und deren Beachtung gegenüber Nichtkombattanten vom Gegner erwartet. | Eine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten auf der Seite des Gegners erfolgt nur selten. Schutzzeichen interessieren nicht. Feind ist Feind. |
Es handelt sich um reguläre Streitkräfte des sie entsendenden Staats, der für den Unterhalt der Soldaten und deren Ausrüstung aufkommt. | Allenfalls Angehörige früherer Streitkräfte befinden sich unter den Akteuren, der größte Teil sind improvisiert ausgebildete Zivilisten. Ihr Unterhalt wird von der Zivilbevölkerung freiwillig oder unter Zwang aufgebracht. Die Ausrüstung von auswärtigen Mächten oder aus organisierter Kriminalität finanziert. |
Die Streitkräfte operieren nicht auf eigenem Staatsgebiet und beherrschen die Landessprache meist nicht. | Die Operationen finden auf eigenem Staatsgebiet statt. Die Akteure beherrschen stets die Landessprache. |
Anfänglich kriegsrechtkonformes Handeln und die Beachtung zivilisatorischer Standards weichen, je länger der Krieg dauert, zunehmender Verrohung und Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung. Parallel sinkt die eigene Moral. | Kriegs- und Völkerrecht spielen von Anfang an keine Rolle, da im Gegner ein Aggressor gesehen wird, der rechtswidrig in das Land eingedrungen ist und es gegen den Willen der Bevölkerung besetzt hält. |
Der Begriff Krieg wird vermieden. Der Einsatz wird legitimiert, indem auf positive Anliegen und zivilisatorische Erfolge verwiesen wird, vor allem im Hinblick auf die Lage der Menschenrechte. Die andere Konfliktpartei wird als Terroristen oder Aufständische bezeichnet, um deren Illegitimität zu vermitteln. | Der Begriff Krieg wird ganz ausdrücklich verwendet, und dies im Sinne eines Krieges und die gerechte Sache. Die Teilnehmer werden von der Bevölkerung positiv als Freiheitskämpfer wahrgenommen. Gefallene gelten als Helden des Volkes, bei Bezug zum Islam auch als Märtyrer. |
Je länger der Krieg dauert, desto mehr nimmt der anfangs in Teilen der Zivilgesellschaft des Landes vorhandener Rückhalt ab. Im gleichen Verhältnis sinken Motivation und das Vertrauen auf einen erfolgreichen Ausgang des Einsatzes. | Je länger der Krieg dauert, desto stärker wird ihr Rückhalt in der Zivilgesellschaft des Landes. Im gleichen Verhältnis steigen Motivation, Siegeswille und Selbstbewusstsein. |
Am Ende stehen Zermürbung, Niederlage und Rückzug der professionellen Streitkräfte.
Asymmetrischer Krieg geht immer schief.
Diese salopp formulierte Einsicht drängt sich in Anbetracht der Geschichte auf:
- Die ungarischen Aufstände gegen die habsburgische Herrschaft zwischen 1677 und 1711 waren in heutiger Diktion asymmetrische Kriege und hätten ihr Ziel fast erreicht. Am Ende beging ihr Anführer Rákóczi aus Gründen politischen Prestiges den Fehler, seine asymmetrischen Kämpfer in reguläre Truppen umzuformieren, weil er den endgültigen Sieg in offener Feldschlacht erringen wollte. Damit scheiterte er gegen die wesentlich disziplinierteren und routinierteren österreichischen Truppen.4
Franz II. Rákóczy, Gemälde von A. Manyoki
- Die Besetzung Spaniens durch französische Truppen 1807, mit der die Einsetzung Joseph Bonapartes als König verbunden war, missfiel der spanischen Bevölkerung, die bis zum Ende des napoleonischen Regimes asymmetrischen Widerstand formierte. Er bestand in erster Linie aus Überfällen und Anschlägen, deren Ausführenden anschließend sogleich in der Zivilbevölkerung untertauchten. Zur Abschreckung entschlossen sich die französischen Truppen zu Grausamkeiten, mit denen sie die Bevölkerung erst recht gegen sich aufbrachten. Finanziert und unterstützt wurden die asymmetrisch kämpfenden Akteure durch Großbritannien.5 In der spanischen Guerilla (kleiner Krieg) wurde die Wirksamkeit der asymmetrischen Kriegführung erkannt: Sie besteht in der Demoralisierung der Invasionstruppen durch die permanente Angst vor Überfällen und Anschlägen sowie durch das wachsende Misstrauen, jeder Zivilist könnte ein Kämpfer sein. Auf Dauer zermürbt dies die Truppe und zwingt zur Einsicht, dass gegen die Bevölkerung eines Landes ein Krieg nicht gewonnen werden kann: Aus ihr gehen immer neue Kämpfer hervor, je länger der Krieg dauert. Zudem wird fast in jedem asymmetrischen Krieg von den regulären Truppen der Fehler begangen, den Widerstand der Bevölkerung mit Härte und Grausamkeit zu brechen. Damit werden jedoch Widerstandwille und Opferbereitschaft ihrer asymmetrischen Gegner erst recht gestärkt.3
- Nach einer Auswertung militärgeschichtlicher Erfahrungen warnte in der Wehrmacht die Vorschrift Truppenführung ausdrücklich vor dem Kleinen Krieg, den eine feindlich gesonnene Bevölkerung unmöglich macht.6 Sie blieb zwar unbeachtet, nachdem sich in Griechenland, Italien, Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion zivile Kämpfer (Partisanen) gegen die deutschen Besatzer gestellt hatten, doch der negative Verlauf bestätigte nachträglich ihre Richtigkeit. Fotos von den Partisanenkämpfen des 2. Weltkriegs stehen den zwischen 1810 und 1814 entstandenen Zeichnungen Desastres de la guerra des spanischen Malers Francisco de Goya ebenfalls in nichts nach.7
- Die Vereinigten Staaten erlebten ihr Desaster des Kleinen Krieges in Vietnam, waren aber intelligent genug, sich diese Erfahrungen zwischen 1979 und 1989 in Afghanistan für den Krieg der von ihnen unterstützten Mudschaheddin gegen die sowjetischen Truppen nutzbar zu machen. Aus dieser Zeit stammt der Satz Henry Kissingers: Die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt. Der Guerilla gewinnt, wenn er nicht verliert.8 Umso unverständlicher war es, dass sich die Vereinigten Staaten ab 2001 neuerlich und fast ausschließlich auf asymmetrische Kriege einließen, und der hastige Abzug aus Afghanistan 2021 lag nach der Logik dieser Art Krieg in der Natur der Sache.
Massaker von My Lai,
Foto: Ronald L. Haeberle – „The Acts of the Democracies“.krysstal.com/democracy_vietnam_mylai.html, Gemeinfrei
Wegen Menschenrechten gegen Menschenrechte
Ein merkwürdiger Bestandteil des asymmetrischen Krieges ist die Erfahrung, dass der Respekt vor den Menschenrechten umso schneller nachlässt, je länger der Erfolg auf sich warten lässt. Dies war in der Operation Enduring Freedom deutlich zu sehen:
- 2004 gingen die Bilder der Folter im irakischen Gefängnis Abu Ghraib um die Welt.9 Sie sind nicht anders als die Desastres de la guerra.7
- Dann wurde bekannt, dass gefangene Taliban-Kämpfer im amerikanischen Stützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba jahrelang festgehalten wurden, ohne ihnen die Rechte von Kriegsgefangenen oder die Möglichkeit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zuzugestehen.10 Um nach Guantanamo Bay gebracht zu werden, genügte auch ein bloßer Verdacht, womöglich ein Extremist zu sein, auch gegen deutsche Staatsangehörige (Fall Kurnaz).11
- Die CIA verhaftete auch in Europa willkürlich Menschen, die sie verdächtigte muslimische Extremisten zu sein, verbrachte sie in Black Sites (Foltergefängnisse) in und außerhalb Europas und hielt sie jahrelang dort fest (Fall Khaled el Masri).12 Dass die CIA unter anderem in Polen, Litauen und Rumänien Black Sites betrieb13 und die Gefangenen über Deutschland dorthin zur Folter geflogen wurden,14 bestimmte die öffentliche Debatte in Deutschland jahrelang. Polen wurde später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt, an zwei CIA-Häftlinge Schadensersatz zu bezahlen.15
Entstaatlichung des Krieges
Neben der offenkundigen Verrohung brachten die zwischen 2001 und 2021 geführten asymmetrischen Kriege ein Phänomen hervor, die den Historiker Herfried Münkler eine Entstaatlichung des Krieges befürchten lässt:15 Schwierige militärische Einsätze lassen sich professionell von privaten Militärunternehmen durchführen, deren Mitarbeiter meist gediente Soldaten aus Eliteeinheiten sind und über viele Erfahrungen – und eine ausreichend abgesenkte Hemmschwelle – verfügen. Bekanntheit erlangt haben das 1997 gegründete, unter seiner früheren Bezeichnung BLACKWATER bekannt gewordene amerikanische Unternehmen ACADEMI16 und die russische GRUPPA WAGNER.17 Sie sind keine Ausnahmeerscheinungen mehr, denn die Liste privater Militärunternehmen ist lang.18
Private Militärunternehmen bieten Vorteile: Man braucht ihre Verluste nicht zu veröffentlichen, die innenpolitisch der häufigste Anlass für Kritik an Militäreinsätzen sind. Sie unterliegen auch nicht dem Kriegsvölkerrecht, das nur für Staaten und deren Streitkräfte gilt. Sie beauftragt zu haben, lässt sich im diplomatischen Verkehr leicht abstreiten. Als private Unternehmen stellen sie sich allerdings jedem zur Verfügung, der bereit ist, sie zu bezahlen. Dies können auch nichtstaatliche Akteure sein, etwa Nicht-Regierungsorganisationen oder vermögende Privatpersonen. Damit hört der Krieg auf, Sache von Staaten zu sein.
Söldner der Gruppa Wagner in Afrika, Foto: Corbeau News Centrafrique, CC BY-SA 4.0, Russian mercenaries in Koundili.jpg
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 1. September 2024):
1 Zahlen, Daten, Fakten: tagesschau.de/ausland/asien/20-jahre-irak-krieg-101.html.
2 responsiblestatecraft.org/2023/05/04/mission-accomplished-was-a-massive-fail-but-it-was-just-the-beginning.
3 sicherheitspolitik.bpb.de/de/m1/articles/definitions-of-war-and-conflict-typologies.
4 Allgemeines Geschichtswissen: de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_von_Franz_II._Rákóczi.
5 Allgemeines Geschichtswissen: de.wikipedia.org/wiki/Napoleonische_Kriege_auf_der_Iberischen_Halbinsel.
6 Borgert, Grundzüge der Landkriegsführung in: Deutsche Militärgeschichte 1618 bis 1939, herausgegeben vom
Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Band 6, Seite 560.
7 museogoya.fundacionibercaja.es/los-desastres.php.
8 motivierende.com/60-zitate-von-henry-kissinger-ber-politik-fhrung-und-krieg.html.
9 spiegel.de/fotostrecke/photo-gallery-the-abu-ghraib-pictures-fotostrecke-29031.html.
10 Verschiedene Beträge auf amnesty.ch/de/themen/folter/folter-im-krieg-gegen-terror/guantanamo.
11 stern.de/politik/deutschland/frank-walter-steinmeier–warum-ihn-der-fall-murat-kurnaz-wieder-einholt-7327042.html.
12 1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/tiefenblick/tiefenblick-el-masri-entfuehrung-100.html.
13 sueddeutsche.de/politik/cia-folter-in-polen-im-wald-des-schreckens-1.1593451,
daserste.de/unterhaltung/film/themenabend-grundrechte-terror/chronologie/geheimdienst-ueberwachung-120.html.
14 tagesspiegel.de/politik/mitgewusst-mitgefangen-1281784.html,
rp-online.de/politik/ausland/folter-ueber-den-wolken_aid-8701449.
14 lto.de/recht/nachrichten/n/cia-folter-polen-urteil-endgueltig.
15 Bernd Schlipphak, Herfried Münkler, Die neuen Kriege, 2014, Seiten 377 ff.
16 tagesanzeiger.ch/investorengruppe-kauft-sicherheitsfirma-blackwater-500618836238.
17 zdf.de/nachrichten/politik/ausland/wagner-soeldner-russland-afrika-niger-putsch-100.html.
18 de.wikipedia.org/wiki/Liste_privater_Sicherheits-_und_Militärunternehmen.
Die Folge: Migration
Kein Thema polarisiert im öffentlichen Diskurs so stark wie Migration. In den zurückliegenden Kapiteln wird aber deutlich geworden sein: Ohne die von der NATO unterstützte amerikanische Machtpolitik hätten
- nach 1990 kein Albaner, kein Bosnier, kein Kosovare, kein Kroate und kein Serbe,
- nach 2000 kein Afghane, kein Pakistani, kein Tschetschene, kein Armenier und kein Georgier,
- nach 2010 kein Syrer, kein Afghane, kein Iraker und kein Nordafrikaner,
- nach 2022 kein Ukrainer
Anlass gehabt, ihren Ländern den Rücken zu kehren und ihre Hoffnung auf Europa zu richten. Die NATO ist die wesentliche Ursache dafür, dass sich die Zahl der in Deutschland aufhaltenden Ausländer seit 2010 mehr als verdoppelt hat.
Syrische Flüchtlinge überschreiten 2015 die slowenische Grenze,
Foto: Robert Cotičderivative, abgeleitet von: Slovenska vojska tudi med vikendom v velikem številu pri podpori Policiji 01.jpg:, CC BY 3.0.
Begriffe
Im Interesse der Sachlichkeit müssen die teils rechtlichen, teils politischen Begriffe Ausländer, Zuwanderer, Asylbewerber, Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund richtig verstanden und verwendet werden:
Zuwanderer ist ein politischer Begriff und meint alle Menschen, die aus einem anderen Staat nach Deutschland kommen. Die meisten kommen wegen der 1994 im Schengen-Abkommen vereinbarten Niederlassungsfreiheit aus Staaten der Europäischen Union. Da sie meist berufsbedingt und deshalb nur vorübergehend in Deutschland sind, zählen sie nach einigen Jahren wieder zu den ähnlich zahlreichen Abwanderern, zu denen allerdings auch Deutsche gerechnet werden, die ins Ausland ziehen1
- Ausländer im rechtlichen Sinn sind Menschen mit ausschließlich fremder Staatsangehörigkeit. Größte Gruppen sind (2020) 1.461.910 türkische und 866.690 polnische Staatsangehörige.
- Menschen mit Migrationshintergrund sind ein politischer Begriff. Gemeint ist die Summe der Ausländer und jener Menschen, die nach 1955 die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben.2
- Asylbewerber sind Ausländer, die sich bei ihrer Einreise nach Deutschland auf das von Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes garantierte Asylrecht für politisch Verfolgte berufen. Ob ein Asylgrund vorliegt, wird anschließend in einem Verwaltungsverfahren ermittelt.
- Flüchtlinge sind Ausländer, die vor der persönlichen Gefährdung durch Krieg oder Bürgerkrieg geschützt werden sollen. Die führt zur Anerkennung als Flüchtling oder zur Gewährung subsidiären Schutzes.
Am 31. Dezember 2023 lebten in Deutschland 84.669.326 Menschen. Davon haben 71.761.258 die deutsche Staatsangehörigkeit, wobei Menschen mit einer doppelten Staatsangehörigkeit in dieser Zahl enthalten sind. 12.908.068 sind im rechtlichen Sinn Ausländer.3 Die Zahl der deutschen Staatsangehörigen ohne jeglichen Migrationshintergrund wurde 2021 mit nur noch 59.664.000 ermittelt, weniger als die Einwohner der Bundesrepublik vor 1990.4
Ausgangslage 2010
2010 hatten in Deutschland weniger Menschen gelebt, nur 81,8 Millionen.5 Bei einer Geburtenrate von 1,39 Kindern je Frau (2010) war bis 2024 ein signifikanter Bevölkerungsrückgang zu erwarten.6 Die Zahl der Ausländer betrug 2010 noch 6,3 Millionen.7 Völlig unproblematisch war dies schon damals (2010) nicht, wie sich an der Publizistik und den politischen Einsichten dieser Jahre zu diesem Thema zeigt:
2006 war der Bestseller Henryk M. Broders Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken erschienen, der einerseits die Haltung der Regierungen Europas gegenüber Islamisten, andererseits eine unverständliche Zurückhaltung und Selbstzensur der linken Intellektuellen in Deutschland gegenüber dem Islam kritisiert. 2010 argumentierte Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab ähnlich. Die Bundeskanzlerin Merkel bezeichnete Sarrazins Thesen zwar als nicht hilfreich, räumte aber auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im gleichen Jahr ein: Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!8
Bis 2010 bereits zugewandert (und somit in der Zahl der damals in Deutschland lebenden 6,3 Millionen Ausländer enthalten) waren die Flüchtlinge der von der NATO angezettelten Jugoslawienkriege, die es vorzogen, in Deutschland zu bleiben. Ihre Gesamtzahl beträgt heute (2024) 2,5 Millionen Menschen.9 Ein weiterer großer Anteil waren 2010 1,5 Millionen türkische Staatsangehörige.10 Diese Zahl ist bis 2024 nahezu konstant geblieben.11 Drittgrößte Gruppe waren 2010 (und blieben bis heute) rund 0,9 Millionen polnische Staatsbürger als Teilnehmer des Schengen-Raums, meist Arbeitsmigranten.11
Zuwanderung seit 2010
Die 6,6 Millionen seit 2010 zugewanderten Ausländer lassen sich in drei Gruppen gliedern:
- Die größte Gruppe (50 Prozent der Zuwanderer) kommt aus Ländern in denen die NATO Krieg führt. Sie besteht zum einen Teil aus 972.460 Syrern, 281.340 Irakern und 419.410 Afghanen, somit 1.673.210 Menschen, die unmittelbar aus Staaten kommen, in denen die NATO Krieg führte. Sie – zu zwei Dritteln Männer – machen recht genau ein Viertel der Zunahme an Ausländern von 2010 bis 2024 aus. Weitere 1.239.705 Menschen kamen seit 2022 aus der Ukraine, wo die NATO eine Art Stellvertreterkrieg führt. Die Regime Changes des Arabischen Frühlings und die anschließende Destabilisierung ihrer Herkunftsstaaten veranlassten 230.000 Menschen der nordafrikanischen Staaten, ihren Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen. Aus dem in die Kriegsereignisse in Afghanistan hineingezogenen Pakistan kommen 91.425 und aus dem im Zuge der westlichen Machtpolitik gescheiterten Staaten Eritrea und Somalia rund weitere 144.000 Menschen.11 Als Umkehrschluss drängt sich auf: Etwa die Hälfte der seit 2010 nach Deutschland gekommenen Menschen hätten ohne die von der NATO ausgelösten Kriege und die amerikanischen Regime Changes in ihren Herkunftsländern keinen Anlass gehabt, nach Deutschland aufzubrechen.
- Die zweitgrößte Gruppe (44 Prozent der Zuwanderer) wird von rund 900.000 Rumänen und 500.000 Bulgaren angeführt, die infolge des Beitritts ihrer Länder zum Schengen-Raum im Jahr 2014 von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machten. Alle übrigen, hier nicht ausdrücklich besprochenen Zuwanderer kommen ebenfalls nahezu ausschließlich aus Staaten der Europäischen Union.11 Diese Gruppe ist eine Folge der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union und seiner Teilnahme am Schengen-Abkommen.
- Die dritte Gruppe ist die kleinste (6 Prozent der Zuwanderer) und enthält etwa 350.000 Menschen aus der Subsahara-Zone Afrikas und rund 100.000 Menschen, bei denen Identität und Herkunft unbekannt sind.11
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum nur ein Teil von rund 42,3 Prozent aller zugewanderten Ausländer als Asylbewerber oder Kriegsflüchtlinge anerkannt wird. Viele haben mit Krieg und Verfolgung nichts zu tun.12
Framing: Fluchtursachenbekämpfung
Mit der vorstehenden Betrachtung dürfte sich die aufgeladene Migrationsdebatte teilweise entschärfen. Das Einzige, was man zur Eindämmung aus Staaten außerhalb der Europäischen Union unternehmen kann, sind Maßnahmen zur Beendigung der machtpolitischen Einflüsse der Vereinigten Staaten und der NATO auf die Herkunftsländer. Diese Art Fluchtursachenbekämpfung erfordert jedoch, wie sich noch zeigen wird, einen Austritt Deutschlands aus der NATO.
Erstaunlich sind dagegen die tatsächlich ergriffenen Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung. Sie kosteten 2020, als der politische Begriff Fluchtursachenbekämpfung aufkam, 9,9 Milliarden Euro, doch schon 2023 nur noch 7,9 Milliarden Euro.13 Der größte Teil dieser Mittel geht nach Afrika, obwohl von dort, wie zu sehen war, nicht die meisten Flüchtlinge nach Deutschland drängen. Dabei wird Fluchtursachenbekämpfung von den meisten Menschen so verstanden, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern gemeint sind.14 Diese Annahme deckt sich nicht mit der Wirklichkeit. Die Organisation Brot für die Welt schreibt dazu:15
Als Fluchtursachenbekämpfung werden von der EU unterschiedlichste Maßnahmen deklariert: Sie umfassen grenzpolizeiliche Kooperationen, entwicklungspolitische Projekte, privatwirtschaftliche Investitionsinitiativen, Maßnahmen zur „Reintegration“ von Abgeschobenen sowie die Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten für potentielle „Schleuser“. Das Ziel jeder dieser Maßnahmen ist es, Schutzsuchende an der (Weiter-) Flucht nach Europa zu hindern. Die Aktivitäten, die seit dem Gipfeltreffen in Valletta initiiert wurden, scheinen viel stärker auf die Kontrolle der Mobilität in den afrikanischen Ländern zu zielen als auf die Bekämpfung von Fluchtursachen. Man finanziert die Küstenwache und Polizei in Libyen. Man bildet Polizei und Migrationsbeamte in Niger und Senegal aus. Man führt biometrische Pässe ein und verstärkt die Kontrollen entlang der Grenzen westafrikanischer Staaten. Das Gravierendste aber ist, dass die afrikanischen Länder gezwungen werden, mit dieser Politik der Versicherheitlichung gegen die Mobilität ihrer Staatsangehörigen vorzugehen. Sonst bekommen sie keine Entwicklungshilfsgelder aus Europa mehr, mit denen sie gegen die Armut im Land vorgehen könnten. Das ist schlicht Erpressung.16
Fluchtursachenbekämpfung ist hiernach nur ein Framing zur Besänftigung der Migrationsdebatte. Die wirkungsvollste Fluchtursachenbekämpfung ist die Beendigung der Kriege.
Unerklärliche Einzelfälle?
Ein weiteres Problem ist eine gewisse Neigung der Zuwanderer zur Gewalt, die von öffentlich-rechtlichen Medien oft relativiert wird.17 Oft werden die Täter als psychisch krank beschrieben, weil sie keinen durch Vernunft erklärbaren Grund für ihre Messerattacken hätten. Den haben sie vielleicht doch:
Deutschland trägt die Außenpolitik der Vereinigten Staaten blindlinks mit, ist deshalb Mitglied der NATO und gehört – pauschal – zum Westen, der ihre Herkunftsländer zerstört und sich arrogant über ihre Kultur erhebt. Messerattacken ändern daran zwar unterm Strich freilich nichts, sind aber möglicherweise ein Ausdruck der Ablehnung dieser Politik. Ein NATO-Austritt wäre wiederum ein Ausdruck der Distanzierung von der als arrogant empfundenen Politik des Westens. Dies nimmt potentiellen Tätern vielleicht das Motiv, welches hinter ihren Taten freilich nur vermutet werden kann.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 2. September 2024):
1 de.statista.com/statistik/daten/studie/157440/umfrage/auswanderung-aus-deutschland. Die Zahl der Abwanderer lag im Durchschnitt der
Jahre bis 2012 etwa bei 650.000, erhöhte sich dann auf etwa 1.000.000 im Jahresdurchschnitt.
2 Definition des statistischen Bundesamts: destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-
Integration/Glossar/migrationshintergrund.html.
3 destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen/liste-zensus-geschlecht-staatsangehoerigkeit.html#651186.
4 praxistipps.focus.de/wie-viele-rein-deutsche-gibt-es-noch-in-deutschland-zahlen-und-fakten-zur-bevoelkerung_181920.
5 bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61532/bevoelkerungsentwicklung.
6 datatopics.worldbank.org/world-development-indicators.
7 bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61622/auslaendische-bevoelkerung.
8 spiegel.de/politik/deutschland/integration-merkel-erklaert-multikulti-fuer-gescheitert-a-723532.html.
9 culturalrelations.ifa.de/fokus/artikel/kosovo-kommt.
10 .bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/WorkingPapers/wp81-tuerkeistaemmige-in-deutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=12
11 alle Zahlen nach: de.statista.com/statistik/daten/studie/1221/umfrage/anzahl-der-auslaender-in-deutschland-nach-herkunftsland.
12 bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl.
13 bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265776/asylbedingte-kosten-und-ausgaben/#node-content-title-0.
14 Steffen Angenendt und Anne Koch, Fluchtursachenbekämpfung: Ein entwicklungspolitisches Mantra ohne Inhalt? am 18. Januar 2016
online swp-berlin.org/en/publication/fluchtursachenbekaempfung- ein-entwicklungspolitisches-mantra-ohne-inhalt.
15 brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/Fachinformationen/Sonstiges/SP-Fluchtursachenbekaempfung-v07.pdf.
16 Samir Abi, Visions Solidaires Togo/West African Observatory on Migrations.
17 swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/cdu-bw-messerangriffe-auslaender-100.html,
berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/berlin-zehn-messer-angriffe-am-tag-verdaechtige-oft-auslaender-nur-zufall-li.2220351.
Unscharfe Grenzen: Hybrider Krieg
Das Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen führte dazu, dass sich seit 1945 Militärs und Politiker in allen Teilen der Welt unablässig Gedanken machen, mit welchen Mitteln man einen Konflikt zwischen Staaten austragen kann, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, einen Angriffskrieg zu führen. Da dieses Verbot immer wieder umgangen wurde, wurde 1998 im Römischen Statut zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs der Umfang des völkerrechtlich Verbotenen weiter und deutlicher formuliert, sodass nun nicht mehr von Angriffskrieg die Rede ist, sondern von Aggression. Aus diesem rechtlichen Spannungsfeld entstanden bis 2006 Überlegungen, wie sich machtpolitische Ziele erreichen lassen, ohne offensichtlich die Schwelle zum Krieg und ohne beweisbar die Schwelle zu sonstigen Arten verbotener Aggression zu überschreiten. In amerikanischen Studien tauchte dabei erstmals der Begriff Hybrider Krieg auf, den ein amerikanischer Offizier namens Frank G. Hoffman erstmals gebraucht hatte.1
Ziel und Methodik
Ziel der Angreifer ist es nicht nur, materiellen Schaden anzurichten, sondern die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angegriffenen zu destabilisieren sowie die öffentliche Meinung zu beeinflussen.2
Auf der Seite des Angreifers handeln die Akteure entweder anonym oder zumindest so, dass sie ihre Beteiligung an Vorfällen und Konflikten jederzeit abstreiten können, um unter der Schwelle zu einem offenen Krieg zu bleiben. Dies macht es dem Angegriffenen schwer: Seine Schwierigkeiten beginnen bei der Auswahl geeigneter Abwehrmittel und setzen sich fort, wenn es darum geht, völkerrechtliche Hilfe anzurufen.2
Die angewandten und vorstellbaren Mittel der hybriden Kriegsführung sind – neben Sanktionen – folgende:
- Mit Hackerangriffen wird die digital gesteuerte Infrastruktur des Gegners lahmgelegt (Cyber-Krieg),2 sodass die Versorgung mit Strom und Wasser ausfällt. Der österreichische Wissenschaftsautor Marc Elsberg spielte in seinem 2012 erschienen Roman Blackout – Morgen ist es zu spät durch, wie sich die europäische Gesellschaft verändern würde, wenn sie etwa eine Woche lang auf Strom verzichten müsste: Nach wenigen Tagen herrscht Anarchie und die Wirtschaft versinkt in Plünderung und Chaos. Das Buch erfuhr von Politik und Wissenschaft ganz überwiegend Zustimmung und gilt als realitätsnah.3
- Dieselben Folgen an digitaler Infrastruktur und an Elektronik überhaupt können auch Sabotage oder die Erzeugung eines elektromagnetischen Impulses (EMP) bewirken, was das Bundesinnenministerium als schwerwiegendste Gefahrenquelle einschätzt:4 Der EMP kann alle elektronisch gestützten Maschinen vom Flugzeug bis zum Herzschrittmacher stören oder zerstören, er gefährdet die zentralen Systeme von Rundfunk, Rettungswesen, Krankenhäusern, Energieversorgung und Bahntransport – mit entsprechender Gefahr für das Warnwesen, die Patientenversorgung und Evakuierungen.4 Der elektromagnetische Impuls ist eine zwangsläufige Nebenwirkung von Nuklearwaffen, die in dieser Hinsicht sehr weiträumig wirken. Im Rahmen der elektronischen Kampfführung wurden jedoch auch bodengebundene und flugzeuggestützte EMP-Waffen entwickelt, die keine nuklearen Strahlungsquellen verwenden.5
- Über soziale Medien lassen sich Falschinformationen und Gerüchte verbreiten, welche die Bevölkerung zu falschen Annahmen verleiten und sie zur eigenen Regierung auf Distanz gehen lassen. Deutschsprachige russische Medien sind nach offizieller Auffassung für solche Aufgaben bestimmt,6 weshalb sie nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine 2022 nicht mehr in Deutschland berichten dürfen.7
- Eine besondere Art der Desinformation der Bevölkerung sind unter falscher Flagge ausgeführte Attentate und Anschläge, bei denen falsche Ermittlungsergebnisse den Verdacht bewusst in eine gewünschte Richtung lenken (false flag).8 Öffentlich geäußerte Zweifel werden unabhängig von der Plausibilität als Verschwörungstheorien abgetan; Erfinderin dieses medienwirksamen Begriffs soll die CIA nach dem Anschlag auf Präsident Kennedy gewesen sein, was aber als widerlegt gilt.9
- In begrenztem Rahmen werden auch militärische Kräfte eingesetzt, vor allem sogenannte Spezialkräfte, die weitgehend unentdeckt operieren können. Ideal eignen sich auch die aus den asymmetrischen Kriegen (siehe oben) bekannt gewordenen privaten Militärunternehmen, deren Einsatz sich leichter abstreiten lässt. Bekannt wurde 2014 bei der russischen Annektion der Krim der Einsatz (vermutlich russischer) Spezialkräfte, die ohne Hoheits- und Dienstgradabzeichen an den Uniformen auftraten und deshalb nicht klar einer Seite zugeordnet werden konnten.10
- Tötung von politischen Anführern und sonstigen Personen, die in der Lage sind, die öffentliche Meinung im gegnerischen Staat maßgeblich zu prägen (targeted killing).
Hybrider Krieg seit 2014
Seit 2014 ist ein hybrider Krieg zwischen Russland und der NATO im Gang, der seit 2022 die Gefahr enthält, dass er zum offenen Krieg eskaliert. Dies sehen auch die maßgeblichen Akteure so: Das seit 2001 ständig gepredigte Narrativ, Terror und Terrorismus seien die größten Gefahren für die Welt, wurde still und leise aufgegeben. Die asymmetrischen Kriege hörten bis 2021 nach und nach auf, und Afghanistan, Pakistan, Syrien, Mali und der Irak verschwanden plötzlich aus den Nachrichten. Das Verhältnis der NATO-Staaten zu Russland wurde währenddessen mehr und mehr von den Merkmalen eines hybriden Kriegs geprägt:
- Der erste typische Akt war die russische Besetzung der Krim durch die grünen Männchen.10 Die östlichen Gebiete der Ukraine, die wie die Krim sprachlich, kulturell und ethnisch russisch geprägt sind, treten aus dem ukrainischen Staatsverband aus.
- Die Annektion der Krim führte zu ersten Sanktionen der Europäischen Union wegen eines Verstoßes gegen das Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen.11
- Im Juli 2014 wird über der Ukraine die Verkehrsmaschine des Malaysian-Airlines-Fluges MH-17 durch eine BUK-Flugabwehrrakete abgeschossen, was sofort Russland angelastet wird, obwohl die Ukraine über dieselben Raketen verfügt. Eine vollständige Aufklärung steht nach wie vor aus.12 Dennoch wird Russland seitdem dafür mit Sanktionen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten belegt.11 Die Sanktionen verringern das russische Bruttoinlandsprodukt bis 2016 etwa um beachtliche 44 Prozent.13
- Die Minsker Abkommen I (2014) und II (2015) werden abgeschlossen und von den Vereinten Nationen gebilligt.14 Neben einer Waffenruhe wurde vereinbart, dass die russische Bevölkerung im Osten der Ukraine in sprachlicher und kultureller Hinsicht eine in der ukrainischen Verfassung garantierte Autonomie erhalten sollte. Diese Zusagen wurden von der Ukraine nicht umgesetzt.15
- Im Nachhinein räumt die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel ein, die Minsker Abkommen seien nur ein Mittel gewesen, um der Ukraine Zeit für die Aufrüstung zu geben.16 Währenddessen rüsten die Vereinigten Staaten die Ukraine massiv mit Waffen auf.17 Deutschland erbringt bereits ab 2014 erhebliche Unterstützungszahlungen und gewährt Kredite.18
- Die Gasleitung North Stream 2 wird 2022 gesprengt. Eine Ermittlung der Täter hat immer noch nicht 19 Der amerikanische Investigativ-Journalist Seymour Hersh versucht zu beweisen, dass die Vereinigten Staaten die Sprengung veranlasst haben.20
- Im August 2022 wurde die russische Journalistin Darja Dugina bei einem Anschlag getötet, die als maßgebliche Propagandistin der Politik des russischen Präsidenten Putin galt.21 Sie war die Tochter des Philosophen Dugin, der als geistiger Vater von Putins politischem Denken gilt.22
Weitere Anhaltspunkte für einen seit 2014 bestehenden hybriden Kriegszustand zwischen der NATO und Russland aufzuzählen, würde hier zu weit führen. Eine Frage drängt sich dennoch auf: Die deutsche Gesellschaft ist überwiegend pazifistisch eingestellt, und trotzdem trägt die Mehrheit den Regierungskurs mit, einen derzeit (noch) hybriden Krieg mit Russland zu führen. Die Antwort liefert das nächste Kapitel.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Abruf 4. September 2024):
1 John Jacobs, Martijn Kitzen, Hybrid Warfare, Zusammenfassung online: oxfordbibliographies.com/display/document/obo-
9780199743292/obo-9780199743292-0260.xml#obo-9780199743292-0260-div2-0001.
2 bmvg.de/de/themen/sicherheitspolitik/hybride-bedrohungen/was-sind-hybride-bedrohungen—13692.
3 abendblatt.de/kultur-live/article113229279/Wenn-der-Strom-ausfaellt.html,
zeit.de/2012/50/Stromversorgung-Winter-Blackout-Marc-Elsberg-Jochen-Homann.
4 bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/Forschung-und-Medizin/sds-4-vierter-gefahrenbericht-
sk.pdf?__blob=publicationFile.
5 welt.de/wissenschaft/article112021103/Wie-man-ein-Land-mit-einer-Blitzwaffe-lahmlegt.html.
6 spiegel.de/politik/deutschland/darum-ist-deutschland-das-top-ziel-fuer-russische-fake-news-a-fab21190-979d-496a-93b4-
c0b7d7446bca.
7 sueddeutsche.de/medien/rt-sputnik-verboten-1.5539839.
8 spiegel.de/politik/die-dunkle-seite-des-westens-a-4c36b621-0002-0001-0000-000039997525?context=issue.
9 Michael Butter: Verschwörungs(theorie)panik. „Filter Clash“ zweier Öffentlichkeiten in: Heiner Hastedt, Deutungsmacht von Zeitdiagnosen.
Interdisziplinäre Perspektiven, 2019, Seite 210.
10 bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/krim-2024/545057/rekonstruktion-einer-annexion.
11 consilium.europa.eu/de/policies/sanctions-against-russia/timeline-sanctions-against-russia.
12 zdf.de/nachrichten/politik/ausland/flug-mh17-abschuss-opfer-aufarbeitung-10-jahre-100.html.
13 datacommons.org/place/country/RUS?utm_medium=explore&mprop=amount&popt=EconomicActivity&cpv=activitySource,
GrossDomesticProduction&hl=de#.
14 un.org/depts/german/sr/sr_14-15/sr2202.pdf.
bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/201881/dokumentation-das-minsker-abkommen-vom-12-februar-2015.
15 laender-analysen.de/ukraine-analysen/261/die-umsetzung-der-minsker-vereinbarungen-was-ist-moeglich.
16 fr.de/politik/von-putins-luegen-und-merkels-unwahrheiten-92037711.html,
zeit.de/2022/53/angela-merkel-russland-krieg-wladimir-putin.
17 zeit.de/politik/ausland/2017-12/ukraine-konflikt-moskau-russland-waffenlieferung-usa.
18 bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/unterstuetzung-ukraine-2003926,
genaue Aufzählung aller Hilfen: de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Auslandshilfen_für_die_Ukraine_seit_2014#cite_note-:10-43.
19 zeit.de/thema/nord-stream-2.
20 cicero.de/aussenpolitik/meistgelesene-artikel-2023-februar-nord-stream-2-usa-hersh.
21 spiegel.de/ausland/darja-dugina-tochter-von-russischem-nationalisten-stirbt-bei-bombenanschlag
-a-d0359731-8dd7-427c-b610-e2154b4d6674
22 spiegel.de/ausland/russland-wer-ist-der-rechtsextreme-ideologe-alexander-dugin-a-a112c8ee-20c6-4d86-b201-678cbec73ee3.
Wie Medienkrieg funktioniert
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer. Diese Erkenntnis wird dem amerikanischen Senator Hiram Johnson zugeschrieben, der sie 1914 geäußert haben soll.1 Inhaltlich trifft sie wohl zu. 1914 gab es nur gedruckte Zeitungen als Informationsquelle. Während des 20. Jahrhunderts kamen Radio, Fernsehen und schließlich das Internet dazu. Entsprechend stiegen die Möglichkeiten, die öffentliche Meinung zu bearbeiten, vor allem, wenn es darum geht, eine Mehrheit zu bilden, die dem Krieg zustimmt. Die Methodik der Meinungsmanipulation scheint in den Grundzügen einfach zu sein:
Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. … Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.
So äußerte sich Hermann Göring 1946 während der Nürnberger Prozesse gegenüber dem amerikanischen Psychologen Gustave M. Gilbert.2 Damit ist eigentlich alles gesagt. Die Umsetzung erfolgt bis heute immer nach demselben Schema:
Die zehn Kernaussagen
Näher untersucht hatte bereits 1928 der Friedensaktivist Arthur Ponsonby in seinem Buch Falsehood in Wartime, wie die manipulative Kriegsrhetorik im Ersten Weltkrieg funktioniert hatte. Sie beruht auf zehn politischen Kernaussagen:3
- Wir wollen den Krieg nicht.
- Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung.
- Der Führer des Gegners ist ein Teufel.
- Wir kämpfen für eine gute Sache.
- Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen.
- Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich.
- Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.
- Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache.
- Unsere Mission ist heilig.
- Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.
Arthur Ponsonby 1938
Die belgische Historikerin Anne Morelli untersuchte in ihrem 2001 erschienenen Buch Principes élémentaires de propagande de guerre (deutsche Übersetzung 2004: Die Prinzipien der Kriegspropaganda4), ob sich an Ponsonbys Erkenntnissen von 1928 etwas geändert hätte. Ihr Ergebnis lautet, dass alles nach wie vor gleich funktioniert.
Sämtliche politisch-medialen Aussagen zum derzeitigen Krieg in der Ukraine lassen sich mühelos unter das oben vorgeführte Schema subsumieren, und man kann im täglichen Selbstversuch feststellen: Es passt nach wie vor. Weil wir täglich dieser Berichterstattung ausgesetzt sind, bedarf es keiner Beispiele. Auch in dieser Hinsicht sitzt man bei ARD und ZDF buchstäblich in der ersten Reihe.5
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 5. September 2024):
1 Stefan Hartwig, Konflikt und Kommunikation, 1999, Seite 4.
2 Gustave M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch, deutsche Übersetzung von 1962, Seite 270.
3 Zusammengefasst von Mathias Bröckers, Lüge in Kriegszeiten online: telepolis.de/features/Luege-in-Kriegszeiten-3366598.html.
4 Rezension auf: deutschlandfunk.de/anne-morelli-die-prinzipien-der-kriegspropaganda-100.html.
5 Slogans der Marke ARD/ZDF, Werbeagentur Young & Rubicam, 1989 (slogans.de/slogans.php?BSelect[]=592).
Erfundene Kriegsgründe
Der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama brachte ab 1989 den Gedanken auf, mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion sei das Ende der Weltgeschichte erreicht (End of History).
Francis Fukuyama 2015 (cropped).jpg, Gobierno de Chile
Er berief sich auf Hegel und Marx, nach deren Theorien sich Geschichte in Kämpfen abwickle und schließlich zu einem Endzustand gelange. Marktwirtschaft und liberale Demokratie hätten sich in diesen Kämpfen gegen alle anderen Staats- und Wirtschaftssysteme durchgesetzt. Damit seien alle grundsätzlichen Fragen geklärt und somit gäbe es nun keinen weiteren Fortschritt mehr.1 Fukuyamas Gedanken passten in die Zeit: Vor allem in Deutschland herrschte nach der (sogar noch 1989 unvorstellbaren) Wiedervereinigung zwischen den Jahren 1990 bis 1999 ein großer Optimismus, als ob die Weltgeschichte ein großartiges Ende gefunden hätte. Vor allem militärische Gegensätze schienen nunmehr der Vergangenheit anzugehören. Dies war ein Irrtum, dem man sich gern hingab.
In diesem Kapitel geht es um die zwischen 1991 und 2021 ausgetragenen Kriege, über die im Optimismus dieser Epoche gern hinweggesehen wurde. Militärische Aspekte interessieren hier nicht, sondern lediglich die Frage, warum sie trotz des Gewaltverbots in der Charta der Vereinten Nationen überhaupt geführt wurden, und wie die Zustimmung der öffentlichen Meinung erreicht werden konnte.
Irak 1990
Schon 1990 begann der Zweite Golfkrieg. Der Irak war nach dem acht Jahre dauernden Ersten Golfkrieg gegen den Iran hoch verschuldet, vor allem bei seinem reichen Nachbarn Kuwait. Mit Kuwait hatte es außerdem bereits jahrzehntelang Streit um die gemeinsame Grenze und damit um Ölfelder gegeben. Dies ließ den irakischen Diktator Hussein in Betracht ziehen, beide Probleme durch eine Eroberung Kuweits zu lösen.2 Zuvor erkundigte er sich bei der amerikanischen Botschafterin Glaspie, ob die Vereinigten Staaten in einem solchen Fall intervenieren würden. Glaspie antwortete, sie möchte vom amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush den Wunsch nach Freundschaft übermitteln und sagte auf die Frage: Wir haben keine Meinung zu den arabisch-arabischen Konflikten wie bei Ihren Grenzstreitigkeiten mit Kuwait.3 Daraufhin besetzten am 2. August 1990 irakische Truppen Kuweit.
Botschafterin Glaspie mit Saddam Hussein 1990, Foto: unscharf, aber gemeinfrei.
Die Vereinten Nationen verurteilten zwar schon am 9. August 1990 die irakische Eroberung und forderten den Irak zum Rückzug auf,4 doch erst auf Druck der Vereinigten Staaten kam Ende November 1990 eine weitere Resolution zustande, die eine militärische Intervention gegen den Irak erlaubte.5 Die Vereinigten Staaten übernahmen die Führung einer Militärkoalition, die überwiegend aus NATO-Truppen bestand, doch die öffentliche Meinung bezweifelte die Notwendigkeit und Angemessenheit eines Krieges. Darauf beauftragte die kuweitische Regierung die PR-Agentur Hill + Knowlton Strategies mit einer Medienkampagne, die als Brutkastenlüge bekannt wurde: Angebliche Zeugen traten in Fernsehsendungen auf und behaupteten, irakische Soldaten hätten in kuweitischen Krankenhäusern Babys aus den Brutkästen gerissen und getötet. Alles war zwar frei erfunden, aber die Stimmung der amerikanischen Bevölkerung schlug auf Krieg um.6
Die Folgen des rund sechs Wochen dauernden Krieges waren vor allem für den Irak verheerend: Während und infolge der Kampfhandlungen gab es auf der Seite des Irak geschätzte 200.000 militärische und zivile Todesopfer (auf der Seite der Angreifer nur 400). Nach Ansicht des UN-Beauftragten Martti Ahtisaari wurden das Land in ein vorindustrielles Zeitalter zurückgebombt und die meisten Mittel moderner Lebenshaltung zerstört oder geschwächt.
Auf dem Schlachtfeld von 1991, Foto gemeinfrei.
Zu den massiven Zerstörungen der zivilen Infrastruktur – Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung, Ölraffinerien, Eisenbahnen, Straßen und Brücken – kamen langfristige wirtschaftliche Probleme, die durch das bereits im August 1990 verhängte und – gegen Kritik – auch nach dem Waffenstillstand aufrechterhaltene Wirtschaftsembargo ausgelöst wurden.2
Irak 2003
2003 begannen die Vereinigten Staaten den Dritten Golfkrieg gegen den Irak. Da eine Ermächtigung durch die Vereinten Nationen nicht vorlag, fiel die Koalition der Willigen, die die Vereinigten Staaten unterstützten, wesentlich kleiner aus als noch zwölf Jahre zuvor. Der Kriegsgrund bestand in der amerikanischen Behauptung, der Irak stelle Massenvernichtungswaffen her. Der Krieg dauerte bis zum vollständigen Sieg nur 40 Tage, denn das seit 1990 von Wirtschaftssanktionen geschüttelte Land konnte keinen nennenswerten Widerstand mehr leisten. Trotz sorgfältiger Suche wurden weder Massenvernichtungswaffen noch Produktionsvoraussetzungen dafür gefunden.7 Auch diesmal war der Kriegsgrund eine Lüge. Sie wurde nachträglich gerechtfertigt, immerhin sei das irakische Volk von seinem Diktator Saddam Hussein erlöst worden.
Festnahme Saddam Husseins, Foto gemeinfrei
Deutschland nahm an der Koalition der Willigen ausdrücklich nicht teil. Die damalige Oppositionsführerin Merkel kritisierte den Bundeskanzler Schröder mit den vielsagenden Worten, ein deutscher Weg sei immer ein falscher Weg8 und schrieb sogar einen Artikel für die Washington Post mit der Überschrift Schröder spricht nicht für alle Deutschen.9
Der Krieg und das bürgerkriegsähnliche Chaos, das er hinterlassen hatte, kosteten den Irak weitere 500.000 Tote.10 Er war ein Völkerrechtsbruch.
Jugoslawien 1999
Dem am 24. März 1999 ohne Mandat der Vereinten Nationen begonnenen Krieg der NATO gegen Jugoslawien lag die Behauptung zugrunde, im Kosovo ereigne sich ein Völkermord an der ethnisch albanischen Bevölkerung.11 Vorausgingen die im französischen Schloss Rambouillet geführten Verhandlungen der NATO mit Vertretern der Kosovaren und der jugoslawischen Regierung, die einen von der NATO entworfenen Text eines Friedensvertrages unterzeichnen sollten, was Jugoslawien verweigerte.
Schloss Rambouillet, Jules78120 – CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27984966
Als der Außenminister Fischer vom Bundestag die Zustimmung zum Einsatz der Bundeswehr verlangte, legte er den Abgeordneten einen Text des Vertragsentwurfes vor, unterschlug aber die Teile, die die jugoslawische Regierung zuvor als unannehmbar bezeichnet hatte, vor allem den Anhang B: Darin sollte ein Recht der NATO auf freie Beweglichkeit in ganz Jugoslawien einschließlich ihres Luftraumes, die Duldung von NATO-Manövern und NATO-Operationen auf jugoslawischem Gebiet, die völlige Immunität von NATO und NATO-Personal gegenüber jugoslawischen Behörden sowie die kostenlose Nutzung der gesamten Infrastruktur Jugoslawiens versprochen werden.
Ohne Kenntnis dieses Vertragsteils konnten die Abgeordneten nicht verstehen, warum die jugoslawische Seite den Friedensvertrag abgelehnt hatte und stimmte der deutschen Kriegsteilnahme zu. Als der verheimlichte Anhang B nachträglich herauskam, meinte die Abgeordnete Beer (Bündnis 90/Die Grünen), ihr sei völlig klar, dass Milosevic so etwas nicht unterschreiben konnte, und die JuSo-Vorsitzende Andrea Nahles fand, mit diesem Anhang B hätte den Serben quasi ein Nato-Besatzungsstatut aufdiktiert werden sollen.12 Hätten sie den vollständigen Text vorgelegt bekommen, hätten sie niemals für den Krieg gegen Jugoslawien gestimmt. In diesem Zeitpunkt war der Krieg aber schon vorbei und Jugoslawien existierte nicht mehr.
Afghanistan 2001
Nach den Anschlägen am 11. September 2001 stellte die NATO gleich am 12. September 2001 auf amerikanisches Betreiben den sogenannten Bündnisfall fest, wonach alle Mitglieder dem angegriffenen Bündnispartner beizustehen haben, in diesem Fall den Vereinigten Staaten.
11. September 2001 in New York, Foto gemeinfrei
Die Vereinten Nationen verabschiedeten am gleichen Tag die Resolution 1368, in der den Vereinigten Staaten ausdrücklich das Recht zur Selbstverteidigung zuerkannt wurde. Da der Anschlag nicht von einem anderen Staat verübt worden war, sondern von auf eigene Faust handelnden Angehörigen vieler Staaten (die meisten waren saudi-arabische Staatsangehörige, ihr angeblicher Anführer Ägypter) ließ die Resolution offen, wer der Angreifer sei.13
Die Vereinigten Staaten betrachteten diese Resolution als Freibrief und suchten sich Afghanistan als Kriegsgegner aus, da sie dort den Anführer der Terrororganisation Al Qaida und zahlreiche andere Mitglieder vermuteten, die dort angeblich eine Art Staat im Staate bildeten. Schon am 7. Oktober 2001 begann die Invasion der NATO. Das ist eine beachtlich kurze Vorbereitungszeit. Der deutsche Verteidigungsminister Struck begründete die Teilnahme der Bundeswehr gegen Kritik mit dem bekannten Satz: Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt.14
Nachdem Afghanistan besetzt und von der NATO eine neue Regierung installiert worden war, verabschiedeten die Vereinten Nationen am 20. Dezember 2001 auf Bitte der Besatzer und der neuen Regierung die Resolution 1386, wonach die Besatzer nun die Sicherheit für Afghanistan zu gewährleisten hätten.15 Daraufhin wurde von der NATO die International Security Assistance Force (ISAF) aufgestellt. Sie verhinderte nicht, dass das Land in bürgerkriegsähnliche Umstände verfiel, und sie selbst wurde von den Anhängern der gestürzten Regierung, den Taliban, in einem langen asymmetrischen Krieg bekämpft. Die Entwicklung gleicht in dieser Hinsicht der des Irak.
Amerikanische Truppen in Afghanistan, Foto gemeinfrei
2013 wurde die Verantwortung für die Sicherheit Afghanistans an die afghanische Regierung zurückübertragen. Die NATO-Truppen blieben jedoch im Land, um die neuen afghanischen Sicherheitskräfte im Rahmen der Mission Resolute Support auszubilden.16 Zielführend war dies nicht, denn die meisten Ausgebildeten liefen gleich nach Abschluss ihrer Ausbildung zu den Taliban über, die damit über immer besser ausgebildetes Personal verfügten.17
Insgesamt tötete der Krieg in Afghanistan schätzungsweise 176.000 Menschen, darunter 46.319 Zivilisten.18 Es kamen rund 3.600 NATO-Soldaten ums Leben, darunter 59 von der Bundeswehr sowie drei deutsche Polizeibeamte.19 Da in Afghanistan seit 2021 wieder die Taliban regieren und somit wieder alles beim Alten ist, scheinen die Opfer vergeblich gewesen zu sein. Nach dem Abzug der Bundeswehr gab die Bundeskanzlerin Merkel am 25. August 2021 eine Regierungserklärung ab, die den Einsatz rechtfertigte. Sie und die anschließende Debatte wurde von DER SPIEGEL folgendermaßen kommentiert.
Die Entwicklung in Afghanistan sei „der schwärzeste Punkt“ in der Kanzlerschaft Merkels, sagt Bartsch (Anm.: Fraktionsvorsitzender Die Linke), die Taliban seien heute stärker als je zuvor. Aber vielleicht ist es auch der Blick auf die Bundeswehrveteranen auf der Tribüne, das Wissen um die vom Afghanistan-Einsatz traumatisierten und die 59 dort getöteten Soldatinnen und Soldaten, warum sich Merkel jetzt an Erfolgen festzuhalten versucht: Kindersterblichkeit, Zugang zu Wasser und Strom, Bildung – auf all diesen Feldern habe man viel geleistet, betont sie. Und nicht zu vergessen, das ursprüngliche Ziel des Einsatzes nach den Anschlägen vom 11. September 2001: Es seien keine Anschläge mehr von afghanischem Boden geplant worden. Merkels Botschaft: Es war nicht alles schlecht in Afghanistan. Es soll und darf aus ihrer Sicht nicht komplett vergebens gewesen sein, was Deutschland und seine Verbündeten in Afghanistan versucht haben.
Die mediale Darstellung des Einsatzes in Afghanistan war tatsächlich immer positiver als die Wirklichkeit. Dies zeigte sich beim Abzug in der Debatte um die afghanischen Ortskräfte, die bis heute andauert. Ein ehemaliger Oberst der Bundeswehr schrieb dazu – und überhaupt zum Einsatz in Afghanistan – am 24. August 2021 einen Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung:20
Was die Ortskräfte angeht, so habe ich einen anderen Zugang als der, der üblicherweise in den Medien verbreitet wird. Als Kommandant von Camp Warehouse hatte ich einige Ortskräfte. Diese jungen Männer (bei Radio Andernach gab es sogar einige Afghaninnen) kannten haargenau die Situation in der sie umgebenden Gesellschaft. Selbstlosigkeit war das Letzte, was diese Leute angetrieben hat, um für uns zu arbeiten. Diese romantisch-idealisierenden Vorstellungen sind dort unbekannt beziehungsweise stoßen auf völliges Unverständnis. Das Leben ist viel zu hart, um sich mit derartigen Wohlstandsgefasel zu beschäftigen. Unsere Ortskräfte wurden für afghanische Verhältnisse fürstlich entlohnt, gut behandelt und nahmen wie selbstverständlich an unserer ausgezeichneten Mittagsverpflegung teil. Von den Soldaten des deutschen Kontingents wurden sie in der Regel bei Kontingentwechseln mit Kleidung, Schuhen und so weiter beschenkt. … Es hat sich also gelohnt, für uns zu arbeiten. Dies war selbstverständlich auch ihrer Umgebung bekannt. Gehörten sie starken Familien, Stämmen, Clans an, haben auch diese davon profitiert und schützten diese Leute. Gut zu wissen: Ein Afghane definiert sich ausschließlich über seine Familien- beziehungsweise Stammeszugehörigkeit; Individualismus ist unbekannt. Gehörten sie zu schwächeren Gruppen, waren Schutzgeldzahlungen fällig, um nicht umgebracht zu werden. Darüber hinaus waren Informationen zu liefern. Die Taliban oder ähnliche Gruppierungen waren somit bis ins Detail über unsere Zahl, Ausrüstung, gegebenenfalls sogar über unsere Absichten informiert. … Innerlich verachten uns diese Menschen, was sie aus nachzuvollziehenden Gründen natürlich nie zugeben werden. Sie wollen ja etwas erreichen: den Wohlstandsmagneten Deutschland. Ich will nicht verkennen, dass es Ausnahmen geben mag. Nur: mir sind sie nicht begegnet. Aber vielleicht war und bin ich ja blind. Mit Letzterem befinde ich mich, wenn ich mir die Berichterstattung über den Zusammenbruch der durch die westlichen Staaten geförderten politischen Ordnung in Afghanistan betrachte, jedoch in bester Gesellschaft.
Die klingt wie die Erinnerungen des Helmuth von Moltke an seine Zeit als Militärberater im Osmanischen Reich zwischen 1835 und 1839.21
Libyen 2011
Ihr seid jetzt also auch mit den Facebook-Kids zusammen. Mit diesen Worten soll der libysche Diktator Gadhafi am 6. Februar 2011 die Anführer des Arabischen Frühlings in seinem Land empfangen haben. Als sie ihm ihre Forderungen nach einer Verfassung, Presse- und Meinungsfreiheit, politischer Teilhabe, Wohnungen, guter Ausbildung und nach Arbeitsplätzen vortrugen, habe er interessiert zugehört, aber ihre Forderungen am Ende abgelehnt: Alles, was das Volk braucht, ist Essen und Trinken, wird Gadhafi zitiert. Niemand in Libyen sei scharf auf derartige Freiheiten, solche intellektuellen Diskussionen seien im Lande nicht gefragt.22 Auf die am 17. Februar 2011 beginnenden Demonstrationen zur Durchsetzung dieser Forderungen reagierte Gadhafi mit massivem Einsatz von Polizei und Streitkräften, die alsbald sogar mit Panzern vorgingen. Darüber brach ein Bürgerkrieg aus, in dem die Gewalt nahezu täglich eskalierte.23 Die Vereinten Nationen hielten die Forderungen der Aufständischen für berechtigt. Zur Deeskalation verhängten sie mit der Resolution 1970 erst ein Waffenembargo, und mit Resolution 1973 erlaubten sie, eine Flugverbotszone einzurichten und außer mit Bodentruppen in die Auseinandersetzungen in Libyen militärisch einzugreifen.24
Während die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und acht weitere Staaten für die Annahme der Resolution stimmten, enthielt sich neben Brasilien, China, Indien und Russland auch Deutschland der Stimme und beteiligte sich konsequenter Weise auch an der Umsetzung der Resolution 1973 nicht. Dafür wurde die Regierung Merkel aus dem In- und Ausland kritisiert, doch war ihr Standpunkt richtig: Bei einem Bürgerkrieg (einem nicht internationalen Konflikt) ist die Einmischung auswärtiger Mächte nach Artikel 3 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 ausdrücklich unzulässig.25 Aus diesem Grund hatte der Internationale Gerichtshof in seinem Urteil vom 27. Juni 1986 bereits die Vereinigten Staaten wegen ihres Eingreifens in den nicaraguanischen Bürgerkrieg verurteilt.26 Ein militärisches Eingreifen von außen ist in einem Bürgerkrieg nur ausnahmsweise zulässig, wenn im Zuge eines Bürgerkriegs ein Völkermord stattfindet oder ein anderes systematisch ausgedehntes Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung im Sinne des Artikels 7 des Rom-Status.27 Für beides lagen keine Anhaltspunkte vor.
So war der anschließende (Luft-) Krieg der NATO in Libyen von März bis Oktober 2011 zwar von einer Resolution der Vereinten Nationen gedeckt, die ihrerseits aber gegen das Völkerrecht verstieß.28 Nicht von ungefähr kommentierte der nicaraguanische Präsident Ortega in Erinnerung an das einstige amerikanische Eingreifen in seinem Land: Das ganze Interesse ist, Öl zu schnappen. Demokratie ist reine Geschichte. Was sie wollen, ist Libyens Öl, und sie werden miteinander darüber streiten. Also laufen sie, um zu sehen, wer zuerst Libyen besetzen kann.29
Amerikanischer Bomber landet nach dem Einsatz in Libyen, Foto gemeinfrei
Im Ergebnis wurde aus Libyen ein gescheiterter Staat, in dem nach wie vor zwei Gruppen um die Macht streiten, die von verschiedenen auswärtigen Staaten mit sehr unterschiedlichen Interessen unterstützt werden.30 Die Zahl der libyschen Flüchtlinge hält sich in Anbetracht des angerichteten Chaos in erstaunlichen Grenzen, wie bereits im Kapitel Migration zu sehen war.
Syrien 2011
Auch der Krieg in Syrien war ein Bürgerkrieg. Er war wahrscheinlich bereits seit 2005 oder 2007 auf eine Initiative der Vereinigten Staaten geplant worden. Dies ergaben Forschungen des Hochschullehrers Günther Meyer, der an der Universität Mainz das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt leitet und zugleich Vorsitzender des Weltkongresses für Studien zum Vorderen Orient sowie des World Congress for Middle Eastern Studies ist. Während des Krieges in Syrien wurde er in Deutschland bis 2018 durch über 1000 Interviews und Beiträge in verschiedenen Medien einem breiteren Publikum bekannt.31 Anhaltspunkte dafür bezog Meyer unter anderem aus im Zuge des Cablegate32 durchgestochenen Depeschen des diplomatischen Dienstes der Vereinigten Staaten, die von der Washington Post 2011 für authentisch gehalten33 und von ihr sowie der israelischen Zeitung Haaretz34 mit gleichem Ergebnis interpretiert wurden. Für etliche Politologen war Syrien ein Stellvertreterkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und der NATO auf der einen Seite und Russland, Iran und China auf der anderen Seite.35
Russische Truppen in Aleppo, Foto: Mil.ru, CC BY 4.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=54615666
Das von amerikanischen und europäischen Politikern und Medien aufgestellte Narrativ lautete, es gehe darum, den Aufstand eines Volkes gegen einen Diktator zu unterstützen. Darum ging es am allerwenigsten.36 Manche vermuten, es sei um eine Gaspipeline von Katar durch Syrien gegangen, die gegen die Interessen des traditionell mit Syrien befreundeten Russland gewesen sei.37,38 Gewiss spielte Russland eine erhebliche Rolle in diesem Konflikt, doch wird es hier für naheliegender gehalten, dass es um die von Syrien Russland zur Verfügung gestellten Stützpunkte Tartus und Latakia ging, ohne die sich die russische Marine im Mittelmeer nicht halten kann, das damit ausschließlich von der NATO kontrolliert würde.39
Russischer Marinestützpunkt Tartus, Foto gemeinfrei.
Die völkerrechtlichen Fragen waren dieselben wie in Libyen (siehe oben): Die Vereinigten Staaten bildeten – unter anderem in der CIA-Operation TIMBER SYCAMORE – die syrischen Rebellen (in der Türkei, in Jordanien und in Katar) aus, belieferten sie (über Jordanien) mit Waffen und unterstützten sie mit Geld.40 Das Auftauchen von Al Qaida und die Ausrufung des islamischen Staates boten den Vereinigten Staaten und der NATO ab 2015 Gelegenheit, auf syrischem Staatsgebiet militärisch tätig zu werden. Dazu wurde die Resolution 2253 der Vereinten Nationen durch bewusste Fehlinterpretation als Freibrief missbraucht.41 Das direkte Eingreifen der NATO führte zur direkten Unterstützung der syrischen Regierung durch Russland.
Um den syrischen Staatspräidenten Assad zu diskreditieren, wurde ihm von einer 2013 aufgetauchten syrischen Zivilorganisation Weißhelme42 vorgeworfen, gegen die Bevölkerung Fassbomben und chemische Waffen einzusetzen. Dies rief im Westen die medial erwünschte Empörung gegen den Diktator hervor. Im Lauf der Zeit kamen Zweifel an der Lauterkeit der Weißhelme und der Verdacht auf, dass die schrecklichen Ereignisse von ihnen selbst mit Hilfe des NATO-Staats Türkei inszeniert würden. Diese Ansicht vertraten in Deutschland der bereits erwähnte Günter Meyer43 und in den Vereinigten Staaten der bekannte Journalist Seymour M. Hersh.44 Zu Ende ging der Krieg in Syrien erst Ende 2024, nachdem sich die europäische Öffentlichkeit lange nicht mehr dafür interessiert hatte,45 dann aber überraschend schnell und mit erstaunlichem Ergebnis.46
Ukraine 2022
Um was es seit 2022 (oder vielleicht schon seit 2014) keim Krieg in der Ukraine geht, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Wir haben unsere Gedanken dazu in einem Text zusammengefasst, der in der
PDF Krieg_in_der_Ukraine 1,03 MB, 16 Seiten
angehängt ist. Der Text ist das Manuskript eines im Januar 2023 in Weimar gehaltenen Vortrags. Der Verlauf dieses Krieges ist mittlerweile zwar fortgeschritten, doch an seinen Gründen hat sich nichts geändert.
Um Demokratie, Menschenrechte und Freiheit von Diktatur ging es seit 1990 jedenfalls nie. Dies führt zur nächsten Frage: Um was geht es dann?
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 6. September 2024):
1 Zusammenfassung und Kritik: zeithistorische-forschungen.de/1-2009/4543.
2 bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/212301/der-erste-golfkrieg-1980-1988/
3 Authentisch: wikileaks.org/plusd/cables/90BAGHDAD4237_a.html.
4 Resolution 662: un.org/Depts/german/sr/sr_90/sr662-90.pdf.
5 Resolution 678: un.org/depts/german/sr/sr_90/sr678-90.pdf.
6 www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/video-erster-irakkrieg-die-baby-luege-der-usa–102.html.
zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/die-grossen-luegen-der-geschichte–propaganda-auf-der-saeuglingsstation-100.html.
7 tagesschau.de/ausland/asien/20-jahre-irak-krieg-101.html,
dw.com/de/irak-krieg-nach-der-lüge-folgte-der-völkerrechtsbruch/a-64942299.
8 spiegel.de/spiegel/peter-gauweiler-und-willy-wimmer-zu-merkels-position-zum-irakkrieg-a-1103322.html.
9 sueddeutsche.de/politik/merkel-und-der-irak-krieg-ein-golfkriegssyndrom-ganz-eigener-art-1.747506.
10 sueddeutsche.de/politik/us-studie-500-000-iraker-starben-im-irak-krieg-1.1795930.
11 spiegel.de/politik/ausland/umstrittene-ard-dokumentation-es-begann-mit-einer-luege-a-182302.html,
taz.de/Zehn-Jahre-Kosovokrieg/!5165840.
12 spiegel.de/politik/der-etwas-andere-krieg-a-13926bd0-0002-0001-0000-000015376096?context=issue.
13 documents.un.org/doc/undoc/gen/n01/533/82/pdf/n0153382.pdf?OpenElement.
14 spiegel.de/politik/deutschland/peter-struck-die-praegnantesten-zitate-a-873892.html.
15 un.org/Depts/german/sr/sr_01-02/sr1386.pdf.
16 nato.int/cps/en/natohq/topics_113694.htm.
17 spiegel.de/spiegel/vorab/a-667848.html.
18 watson.brown.edu/costsofwar/figures/2021/human-and-budgetary-costs-date-us-war-afghanistan-2001-2022.
19 de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan_2001–2021#Opfer.
20 noch erwähnt auf tagesspiegel.de/politik/innerlich-verachten-uns-diese-menschen-5751847.html, Wortlaut nur noch auf
open-speech.com/threads/820940-Afghanische-Ortskräfte-Sie-verachten-uns-den-Westen?p=1907389.
21 deutschestextarchiv.de/book/show/moltke_zustaende_1841.
22 zeit.de/politik/ausland/2011-03/gadhafi-bengasi-uebergangs-rat.
23 Chronologische Darstellung der Ereignisse auf de.wikipedia.org/wiki/Chronik_des_Bürgerkriegs_in_Libyen_(2011).
24 securitycouncilreport.org/un-documents/document/libya-s-res-1973.php.
25 Deutscher Text auf: fedlex.admin.ch/eli/cc/1982/1432_1432_1432/de.
26 iilcc.uni-koeln.de/fileadmin/institute/iilcc/Dokumente/Voelkerrecht2/Nicaragua_vs._USA_Stand_100212.pdf.
27 un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html#T27.
28 faz.net/aktuell/feuilleton/voelkerrecht-contra-buergerkrieg-die-militaerintervention-gegen-gaddafi-ist-illegitim-1613317.html.
29 web.archive.org/web/20110922084630/http://www.elnuevodiario.com.ni/nacionales/97554_daniel-ortega-pide-a-potencias-
atender-llamado-de-libia, spanisch, übersetzt mit Google-Übersetzer.
30 bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/54649/libyen.
31 idw-online.de/de/news690414.
32 heise.de/news/DDoS-Attacke-auf-Wikileaks-vor-angekuendigter-Veroeffentlichung-Update-1143468.html,
foreignpolicy.com/2010/11/30/why-do-diplomats-still-send-cables,
spiegel.de/politik/ausland/amerikas-diplomaten-berichte-geheimdepeschen-enthuellen-weltsicht-der-usa-a-731389.html.
33 washingtonpost.com/world/us-secretly-backed-syrian-opposition-groups-cables-released-by-wikileaks-
show/2011/04/14/AF1p9hwD_story.html.
34 haaretz.com/2011-04-18/ty-article/wikileaks-reveals-u-s-funding-anti-government-syrian-groups/0000017f-f779-d460-afff-ff7fd4160000.
35 Adam Baczko, Gilles Dorronsoro, Arthur Quesnay, Civil War in Syria: Mobilization and Competing Social Orders, 2018, Seiten 147 ff.
36 faz.net/aktuell/feuilleton/syrien-und-ihr-denkt-es-geht-um-einen-diktator-11830492.html.
37 theguardian.com/environment/earth-insight/2013/aug/30/syria-chemical-attack-war-intervention-oil-gas-energy-pipelines,
deutschlandfunk.de/krieg-in-syrien-russland-hat-das-machtspiel-gewonnen-100.html,
nzz.ch/meinung/der-syrien-krieg-wahrheiten-und-verdrehungen-ld.1503834.
38 Michael Lüders, Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte. 2017, Seiten 67 ff.
39 taz.de/Syrisch-russische-Beziehungen/!5911444.
project-syndicate.org/commentary/us-true-role-in-syria-by-jeffrey-d-sachs-2016-08/german.
40 nytimes.com/2017/08/02/world/middleeast/cia-syria-rebel-arm-train-trump.html,
nytimes.com/2016/06/27/world/middleeast/cia-arms-for-syrian-rebels-supplied-black-market-officials-say.html,
nytimes.com/2016/01/24/world/middleeast/us-relies-heavily-on-saudi-money-to-support-syrian-rebels.html?_r=0.
41 un.org/depts/german/sr/sr_15/sr2253.pdf.
42 whitehelmets.org/de.
43 focus.de/politik/deutschland/guenter-meyer-syrien-experte-verbreitet-propaganda-im-tv-von-ihren-gebuehren-finanziert_id_8764212.html
44 lrb.co.uk/the-paper/v36/n08/seymour-m.-hersh/the-red-line-and-the-rat-line.
45 nzz.ch/international/syrien-die-neusten-entwicklungen-im-buergerkrieg-ld.1536230.
46 nzz.ch/international/syrien-die-neusten-entwicklungen-im-buergerkrieg-ld.1536230.
Das stets gleiche Kriegsziel
Die Vereinigten Staaten wollen eine Weltordnung gestalten, in der sie von allen Staaten als einzige Führungsmacht anerkannt werden. Gemeint ist damit, dass alle Staaten der Erde im Großen und Ganzen die Marktwirtschaft als einzig richtige Wirtschaftsordnung und die parlamentarische Demokratie als einzig richtige Staatsordnung übernehmen und somit überall dieselben Investitionsbedingungen für das Kapital herbeigeführt werden. Soweit es dafür erforderlich ist, geben die anderen Staaten ihre Kultur und ihre eigenen Traditionen zumindest teilweise auf. Die weltweit und regional maßgeblichen Entscheidungen werden in den Vereinigten Staaten getroffen. Das Buch des früheren Politikberaters Zbigniew Brzeziński The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives räumt ausdrücklich ein, dass es um diese Art von Weltherrschaft geht.1
Allerdings gab es die amerikanische One-World-Vision längst, bevor das Buch 1997 erschien.
Die erste Chance 1945
Wann die One-World-Vision genau entstanden ist, und wer den ersten Anstoß für diese Idee gab, werden Historiker herausfinden. Feststeht jedenfalls, dass es sie während des 2. Weltkriegs längst gab. 1944 und 1945 passte alles zusammen, um diese Vorstellung einer amerikanischen Weltordnung endlich umzusetzen. Die Staaten der Welt waren durch den 1. und den 2. Weltkrieg völlig erschöpft und verarmt. Die Vereinigten Staaten dagegen waren in beiden Kriegen unbeschädigt geblieben, und ihre Wirtschaft hatte an beiden Weltkriegen mit Erfolg verdient.
- Durch die Verträge von Bretton Woods bestimmen die Vereinigten Staaten seit 1944 die weltweite Währungspolitik und damit auch die Wirtschaftspolitik. Da der Dollar auf vielen Wirtschaftsgebieten die Währung ist, in der bezahlt werden muss, hat sich daran nichts geändert.
- Die Vereinten Nationen sollten zu einer Art weltweitem Parlament werden, in dem die Vereinigten Staaten ein Veto-Recht haben, sodass nie gegen ihre Interessen entschieden werden kann. Pro Forma teilten sie ihre Vormachtstellung mit Großbritannien und Frankreich, die auf Dauer mit im Weltsicherheitsrat sitzen dürfen, obwohl sie an weltweiter Bedeutung längst hinter China und Indien zurückgefallen sind.
- Mit der demonstrativ gleich zweimal eingesetzten Atombombe waren sie 1945 die unbesiegbare Militärmacht, die alle anderen Militärmächten überlegen war.
- Damit blieb den anderen Staaten der Welt nichts anderes übrig, als sich dem amerikanischen Führungsanspruch zu unterwerfen. Lediglich die Sowjetunion erklärte, dass sie dies nicht im Sinn hätte, und um keinen Zweifel daran zu lassen, dass es ihr Ernst war, zündete sie eine eigene Atombombe. Daraus entstand der Kalte Krieg.
Der Kalte Krieg war in erster Linie ein Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion um internationale Gefolgschaft. In Europa entstanden daraus im amerikanischen Einflussbereich die NATO und im sowjetischen Einflussbereich der Warschauer Pakt. Im Wettbewerb um weltweite Gefolgschaft wurden die Entwicklungspolitik und die humanitäre Hilfe das Mittel der Wahl.
In zweiter Linie war der Kalte Krieg ein wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, der auf dem Gebiet der Rüstungswirtschaft ausgetragen wurde: Bei jedem amerikanischen Vorsprung bei der Technologie war die Sowjetunion gezwungen nachzuziehen, und zum ersten Mal zeigte sie 1969 Schwächen, als den Vereinigten Staaten die bemannte Mondlandung gelang, die sich die Sowjetunion wirtschaftlich nicht leisten konnte. Ronald Reagans Programm Krieg der Sterne brachte den Konkurrenten Sowjetunion schließlich zum Kollaps. Sie musste schließlich die DDR aufgeben, um an deutsche Unterstützung zur Verhinderung einer Hungersnot im eigenen Land zu kommen.2 Nur dadurch kam es zur deutschen Wiedervereinigung und keineswegs durch Demonstrationen in der DDR.
Die zweite Chance 1990
Damit konnten die Vereinigten Staaten endlich an ihrer One-World-Vision weiterarbeiten, an der sie Stalin 1945 aufgehalten hatte.
Um Europa schwach und weiterhin auf die Vereinigten Staaten angewiesen sein zu lassen, wurden in einem ersten Schritt augenblicklich die großen Flächenstaaten Jugoslawien und Tschechoslowakei in insgesamt neun ineffektive Kleinstaaten aufgeteilt, die zusammen mit den winzigen baltischen Staaten und den wirtschaftlichen Schlusslichtern Bulgarien, Polen, Rumänien und Ungarn in die NATO und die Europäische Union aufgenommen wurden. Damit sollte erreicht werden, dass die Europäische Union wirtschaftlich gerade nicht effektiv, da von Transferzahlungen und sozialen Aufwendungen belastet, und der europäische Teil der NATO militärisch ebenfalls nicht effektiv, da sehr uneinheitlich, bleibt. Dies ist den Vereinigten Staaten zwischen 1991 und 2000 sehr gut gelungen.
Anschließend wandten sich die Vereinigten Staaten ab 2001 im zweiten Schritt mit europäischer Unterstützung gegen die muslimische Welt, gegenüber der es die größten kulturellen Gegensätze gibt, die allerdings im Krieg gegen den Terror nicht überwunden werden sollten. In den wenigsten Ländern dieser bislang am härtesten von amerikanischen Kriegen betroffenen Welt konnten dauerhaft amerikafreundliche Regierungen installiert werden, eigentlich in gar keinem.
Im dritten Schritt soll nun seit 2014 Russland überwunden werden, obwohl der zweite Schritt noch nicht vorstellungsgemäß abgeschlossen ist. Russland ist zwar militärisch – in Wirklichkeit – nicht stark, wie sich in anderen Teilen dieser Seite zeigen wird, aber es ist wie im Kalten Krieg nach wie vor weltweit der einzige Staat, der ein ähnliches Arsenal an strategischen Atomwaffen besitzt wie die Vereinigten Staaten.
Weltweiter Widerstand
Die bevölkerungsreichsten Staaten China und Indien, in denen zusammen 40 Prozent der Weltbevölkerung leben, haben nicht vor, sich auf eine unipolar von den Vereinigten Staaten beherrschte Welt einzulassen, Brasilien, Russland und Südafrika ebenfalls nicht. Daraus entstand die Gruppe der BRICS-Staaten, die für Multipolarität statt Unipolarität steht. Alle Kriege, die seit 1991 geführt wurden, sind Kriege um die Frage: amerikanische Unipolarität oder Multipolarität. Weil der Westen dies nicht einräumen will, werden immer Demokratie und Menschenrechte als Kriegsgründe vorgeschoben und die Anführer der widersetzlichen Staaten als Diktatoren oder – neuerdings – als Autokraten dämonisiert, womit dasselbe gemeint ist.
Die Ziele der amerikanischen Politik sind ohne Anstrengung durchschaubar. Erreichbar sind sie für die Vereinigten Staaten durch die Vereinnahmung der Eliten der anderen Länder. Dies wurde bereits im Kapitel Entwicklungspolitik sichtbar, doch findet sie auch in den Staaten des wohlhabenden Westens statt, nur anders.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Abruf am 7. September 2024):
1 spiegel.de/politik/krieg-der-sterne-krise-im-buendnis-a-601ded69-0002-0001-0000-000013512647,
freitag.de/autoren/konrad-ege/star-wars-plan-wie-die-usa-das-gleichgewicht-des-schreckens-aushebeln-wollen.
2 mannheimer-morgen.de/deutschland-welt_artikel,-welt-und-wissen-geld-fuer-gorbi-einheit-fuer-kohl-das-wunder-vom-kaukasus-_arid,683175.html,
mdr.de/geschichte/ddr/deutsche-einheit/wiedervereinigung/kohl-gorbatschow-verhandlungen-kaukasus-102.html.
3 bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/159944/brics-staaten.
Eliten als Träger der Machtpolitik
Der Begriff Elite wurde bis 1990 in der Bundesrepublik möglichst vermieden. Dies hat sich seitdem verändert, spätestens als Bundespräsident Gauck 2016 sagte: Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem, dass wir stärker wieder mit denen das Gespräch suchen.1
Nach Herrn Gauck gibt es offenbar zwei Gesellschaftsschichten, die Elite und die Bevölkerung. Das erinnert an die in Patrizier und Plebejer eingeteilte Gesellschaft der römischen Republik.2 Unklar ist aber, was Herr Gauck unter Elite als neuem Patriziat versteht und wo er die Grenze zwischen ihr und der plebejischen Bevölkerung zieht.
Die Rolle der Medien
Schon in der römischen Republik war die Standeszugehörigkeit keine Frage des Vermögens. Die Patrizier hatten im staatlichen Gefüge schlicht mehr Rechte und konnten sich in Ämter wählen lassen, die Plebejern nicht zugänglich waren.2 Eine solche Grenze entwickelte sich auch in der Bundesrepublik. Über die Vorgaben des Grundgesetzes hinaus gibt es viele ungeschriebene Schranken, die überwunden werden müssen, um sich überhaupt einer Wahl stellen zu können.3 Über die Chancen von Kandidaten und Parteien entscheiden die Medien.
Unverblümt beschrieb der Vorstand Döpfner des Medienkonzerns Springer die Macht seiner Bild-Zeitung, den damaligen Bundespräsidenten Wulff zum Rücktritt zu zwingen: Wer mit Bild im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.4
Für die Macht der Medien sind aber nicht die Redakteure maßgeblich, sondern die Besitzverhältnisse an den Medienunternehmen. Ihre Besitzer bestimmen, was und wie publiziert wird und damit, wer welche Politik machen darf. Insofern haben die Medien keineswegs eine kontrollierende Funktion, sondern eigene Gestaltungsmacht. Es ist somit ein Geflecht aus Politik, Medien und Wirtschaft, das den Lauf der Dinge bestimmt. Die Teilhabe der Plebejer beschränkt sich darauf, alle vier Jahre zwischen Menüs auswählen zu dürfen, die von diesem Geflecht vorher sorgfältig zusammengestellt wurden.
Moderne Adelsstrukturen
Innerhalb dieser Elite gibt es zwei Ebenen, die leitende und die ausführende. Die Zugehörigkeit zur leitenden Ebene ist erblich. Cicero zitiert den Konzernchef Arend Oetker: Die USA wird von 200 Familien regiert und zu denen wollen wir gute Kontakte haben.5,6 Der Zitierte gehört seinerseits zu den Familien, die aus dem Hintergrund Deutschland regieren, was mit diesem Satz zugleich eingeräumt wird. Welche Plebejer in die ausführende Ebene der Elite aufsteigen dürfen, die aus Abgeordneten, Redakteuren und Führungskräften der Wirtschaft besteht, entscheiden von der leitenden Ebene ins Leben gerufene private Organisationen, Think Tanks, Stiftungen und Vereine. Die Ausgesuchten durchlaufen dort – unabhängig vom Alter – Young-Leader-Programme, die Casting und Training zugleich sind. Weil den Ausgesuchten bewusst ist, dass ihnen damit eine einmalige Aufstiegschance geboten wird, sind sie anschließend loyal.
Es würde hier zu weit führen, diese Organisationen allesamt und in allen Einzelheiten darzustellen. Wir beschränken uns daher auf vier, die als exemplarisch gelten dürfen:
WEF
Das 1971 gegründete Weltwirtschaftsforum (WEF) versteht sich nach seinem Leitspruch Committed to improving the state of the world als internationale Nicht-Regierungsorganisation zur Verbesserung des Zustands der Welt, die eine Zusammenarbeit politischer, geschäftlicher, akademischer und anderer Führungspersonen der Gesellschaft ermöglichen will, um globale, regionale und industrielle Agenden zu gestalten, immer im Geiste der globalen Bürgerschaft.7 An den Young Global Leader Programmen des WEF nahmen beispielsweise teil8
- der derzeitige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier,
- der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD),
- die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU),
- der frühere Bundestagspräsident, Innen- und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU),
- die derzeitige Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen),
- der derzeitige Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen),
- der derzeitige Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen),
- die frühere Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU),
- der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU),
- der frühere Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU),
- der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU),
- der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen),
- der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU),
- der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CDU),
- der frühere Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU),
- der Vorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour,
- der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger,
- der frühere Bundesbankpräsident Jens Weidmann,
- der ZDF-Moderator Claus Kleber,
- die Fernsehmoderatorin Sandra Maischberger,
- Kardinal Reinhard Marx.
GMF – German Marshall Fund of the United States
Der German Marshall Fund of the United States (GMF) ist eine amerikanische Stiftung, die sich der Förderung der transatlantischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft widmet und dafür sechs Büros in Europa unterhält, eines in Berlin.
Sitz des GMF in Washington, Foto: AgnosticPreachersKid CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36237783
Das Stiftungsvermögen beruht zu großen Teilen auf Schenkungen der Bundesrepublik Deutschland als Dank an die Bevölkerung der Vereinigten Staaten.9 Die geförderten Persönlichkeiten sind überwiegend dem linken Spektrum der Politik zuzurechnen:10
- Thorben Albrecht (früherer Geschäftsführer der SPD),
- Niels Annen (SPD),
- Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen),
- Martin Dörmann (SPD),
- Kerstin Griese (Parlamentarische Staatssekretärin SPD),
- Eva Högl (Wehrbeauftragte, SPD),
- Johannes Kahrs (SPD),
- Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen),
- Gerhard Schick (Bündnis 90/Die Grünen),
- Tabea Rößner (Bündnis 90/Die Grünen),
- Özcan Mutlu (Bündnis 90/Die Grünen),
- Constanze Stelzenmüller (Direktorin des Center on the United States and Europe),
- Sascha Müller-Kraenner (Bundesgeschäftsführer Umwelthilfe),
- Thomas Kleine-Brockhoff (vormals Redenschreiber für Bundespräsident Gauck),
- Walter Homolka (Oberrabbiner, Hochschullehrer und Oberst der Reserve).
Atlantikbrücke
Der Verein Atlantik-Brücke wurde 1952 mit dem Ziel gegründet, eine wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland zu bilden. Der Mitgliederkreis besteht aus etwa 800 führenden Persönlichkeiten aus Bank- und Finanzwesen, Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft. Die Atlantik-Brücke versteht sich als Netzwerk und privates Forum für transatlantische Zusammenarbeit. Vorstand ist derzeit der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) und Norbert Röttgen (CDU) als Stellvertreter, davor war es Friedrich Merz (CDU). Im derzeitigen Vorstand sind viele Persönlichkeiten anzutreffen, die bereits oben bei WEF und GMF aufgezählt sind.11
Das Vereinshaus Am Kupfergraben in Berlin, Foto: Jörg Zägel – CC BY-SA 3.0,
commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7188106
Der Mitgliederkreis wird auf einer Wikipedia-Seite12 und anderen, eher spekulativen Seiten13,14 beschrieben, allerdings nie vollständig. Auch bleibt bei diesen Quellen offen, ob die Mitgliedschaften überhaupt noch bestehen. Diese Vorbehalte treffen auch auf die dort aufgezählten Medienschaffenden zu. Selbst wenn die folgende Auswahl nur in Teilen zutrifft, bildet sie das wesentliche Spektrum ab, das die öffentliche Meinung formt:
- Nikolaus Blome (Bild Zeitung, Leitung Hauptstadtbüro),
- Dietrich von Klaeden (Springer-Verlag, Leiter Regierungsbeziehungen),
- Kai Diekmann (Chefredakteur Bild Zeitung),
- Matthias Döpfner (Vorstand Springer Verlag),
- Jan Fleischhauer (FOCUS),
- Alexander Görlach (Herausgeber The European),
- Tina Hassel (ARD-Studio Washington),
- Ingo Zamperoni (ARD Tagesthemen, Nachtmagazin),
- Thomas Roth (ARD-Korrespondent New York),
- Bodo Hombach (Geschäftsführer WAZ-Mediengruppe),
- Dirk Ippen (Verleger des Münchner Merkur),
- Josef Joffe (Herausgeber Die Zeit),
- Theo Sommer (Herausgeber Die Zeit),
- Paul-Bernhard Kallen (Vorstand Burda Media),
- Udo van Kampen (ZDF, Leiter Studio Brüssel),
- Claus Kleber (ZDF-Moderator Heute-Journal),
- Theo Koll (ZDF, Hauptredaktion),
- Elmar Theveßen (sogenannter Terrorismusexperte, stellvertretender Chefredakteur ZDF),
- Stefan Kornelius (Süddeutsche, Leiter Ressort Außenpolitik),
- Gabor Steingart (Handelsblatt-Gruppe).
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags ging bereits der Frage nach, welche Abgeordneten nun dem GMF oder der Atlantikbrücke oder beiden zugleich angehören.15
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik – DGAP
Zum Spektrum dieser Organisationen gehört auch die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, deren Vorstand der bereits oben beim GMF erwähnte Herr Kleine-Brockhoff ist.
Sitz der DGAP in Berlin-Tiergarten, Foto Sargoth – CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4663167
Die DGAP stellt sich selbst folgendermaßen vor (leicht gekürzt):16
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik engagiert sich für eine nachhaltige deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die auf Demokratie, Frieden und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet ist. Die 1955 gegründete Organisation ist parteipolitisch unabhängig und prägt als Forschungs- und Mitgliederorganisation die außenpolitische Debatte in Deutschland. Expertinnen und Experten der DGAP beraten Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auf der Basis ihrer außenpolitischen Forschungsarbeit und bilden künftige Entscheiderinnen und Entscheider in internationalen Leadership-Programmen aus. … Bei der DGAP in Berlin Tiergarten redet über Außenpolitik, wer sie macht: Regierungsmitglieder aus Deutschland und andere Staaten, Abgeordnete und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Botschafterinnen und Botschafter kommen in jährlich über 150 Veranstaltungen und Hintergrundgesprächen zusammen. In der DGAP engagieren sich rund 2.800 Mitglieder für die Ziele dieses gemeinnützigen Vereins. Die Junge DGAP vernetzt außenpolitisch Interessierte unter 35 Jahren. Mehr als 900 Mitglieder schätzen sie als einzigartiges Kompetenz- und Karrierenetzwerk.
Sonstige
Auch die Hamburger Körber-Stiftung ist zu diesen Organisationen zu zählen,17 die als Beitrag zur Völkerverständigung, eines ihrer Satzungsziele, zusammen mit der Münchener Sicherheitskonferenz das Munich Young Leaders-Programm aufgelegt hat.18,19
Der Atlantic Council beschreibt seine Ziele recht unverblümt: The Atlantic Council is a nonpartisan organization that galvanizes US leadership and engagement in the world, in partnership with allies and partners, to shape solutions to global challenges (Übersetzung: Der Atlantic Council ist eine überparteiliche Organisation, die in Partnerschaft mit Verbündeten und Partnern die Führung und das Engagement der Vereinigten Staaten in der Welt aktiviert, um Lösungen für globale Herausforderungen zu entwickeln).20,21
Veranstaltung des Atlantic Counsil, Foto gemeinfrei
Von diesen Organisationen gibt es noch etliche mehr. Sie alle sind selbstbewusst und darauf bedacht sind, eine Elite hervorzubringen, die
- transatlantisch denkt,
- die NATO für alternativlos hält und
- die Vereinigten Staaten als unipolare Führungsmacht einer nach ihren Vorstellungen globalisierten Welt bejaht.
Wer dem nicht zustimmt, ist – im Umkehrschluss zu Gaucks Definition als Elite – ein Plebejer, der krude Thesen vertritt. Dennoch erlaubt nun das Internet diesen heutigen Plebejern, den Ständekampf gegen diese Elite und ihre Gedankenwelt aufzunehmen.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Abruf am 8. September 2024):
1 bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Interviews/2016/160619-Bericht-aus-Berlin-Interview.html.
2 geschichte-abitur.de/lexikon/lexikon-antike/patrizier-und-plebejer-rom.
3 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik Deutschland?, 1968, Seiten 128 ff.
4 taz.de/Kommentar-Wulff-und-die-Bild/!5103829.
5 cicero.de/innenpolitik/ein-praesident-fuer-die-eliten/48408.
6 ebenso: zeit.de/politik/ausland/2016-08/usa-wirtschaft-wahlkampf-hillary-clinton-donald-trump/seite-3.
7 lobbyfacts.eu/datacard/world-economic-forum?rid=953426816942-83.
8 business-leaders.net/wef-young-global-leaders-die-liste-der-deutschen-teilnehmer.
9 spiegel.de/international/europe/founder-of-german-marshall-fund-guido-goldman-retires-a-834696.html.
10 de.wikipedia.org/wiki/German_Marshall_Fund#Auswahl_geförderter_Personen.
11 atlantik-bruecke.org/gremien.
12 de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Mitgliedern_der_Atlantik-Brücke
13 lobbypedia.de/wiki/Atlantik-Brücke,
14 anonymousnews.org/medien/korrumpiert-das-sind-die-deutschen-mitglieder-der-us-lobbyorganisation-atlantikbruecke.
15 bundestag.de/resource/blob/855616/119369c60378e929d3d597801e4c5c07/WD-1-014-21-pdf-data.pdf.
16 dgap.org/de/ueber-uns.
17 koerber-stiftung.de.
18 de.wikipedia.org/wiki/Körber-Stiftung#Internationale_Verständigung.
19 Urheber des abgebildeten Logo: Designagentur Basics09, Logo Körber Stiftung.svg, gemeinfrei.
20 de.wikipedia.org/wiki/Atlantic_Council.
21 atlanticcouncil.org.
Fazit
Seit Konrad Adenauer bekannte sich bislang jede Bundesregierung zur Westbindung, und in keiner Partei gehört dies so ausdrücklich zum Parteiprogramm wie bei der CDU. Westbindung meint, die Machpolitik der Vereinigten Staaten zu unterstützen und sich jeder Kritik daran zu enthalten. Dass sich daran nichts ändert, verhindern in Deutschland die ausschließlich zu diesem Zweck eingerichteten Netzwerke der Eliten, die ihrerseits wiederum keine Eliten sein dürften, wenn sie sich nicht dem Glauben an die amerikanische Führungsrolle verschrieben hätten.
Westbindung bedeutet Abhängigkeit
Für die meisten Menschen in Deutschlands hört sich Westbindung so an, als hätte sich Deutschland damit gewissermaßen für die Sonnenseite des Daseins entschieden. So ist es nicht. Die Schweiz ist neutral, Österreich ebenfalls, und Finnland und Schweden waren bis 2022 neutral. Diese vier europäischen Staaten sind allesamt nicht für Armut und Rückstand bekannt. Westbindung bedeutet NATO-Mitgliedschaft, bedingungslose Freundschaft zu den Vereinigten Staaten und somit Unterwerfung. Damit werden von den sogenannten Eliten bewusst zwei Grundsätze amerikanischer Außenpolitik ignoriert, die der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger in zwei Sätzen ausdrückt hatte:1
Amerika hat keine dauerhaften Freunde oder Feinde, nur Interessen.
Es kann gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein; aber Amerikas Freund zu sein, ist verhängnisvoll.
Die Ignoranz dieser beiden in geradezu brutaler Offenheit ausgesprochenen Sätze durch die Eliten entspricht der naiven Gläubigkeit vieler Menschen gegenüber der CDU als Partei der alternativlosen Westbindung, die der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder in vier Zeilen ausdrückte:2
Wenn in Deutschland die Sonne lacht, hat’s die CDU gemacht. Gibt es winters Eis und Schnee, war’s die böse SPD.
Eine andere Äußerung brachte ihn 2005 wegen seiner Weigerung, Deutschland 2003 am Krieg gegen den Irak teilnehmen zu lassen, wahrscheinlich um die Kanzlerschaft: Oberster Grundsatz muss sein, die Bundesregierung darf nicht zum Hilfssheriff der Vereinigten Staaten in anderen Gebieten der Welt werden. Die Anerkennung einer Führungsmacht, die diktiert, ist nicht akzeptabel.3
Das von den Vereinigten Staaten seit 1944 nach und nach aufgebaute System von Abhängigkeiten, beschönigenden Narrativen, Nötigung und Zwang muss man durchschauen. Wenigstens einen oberflächlichen Durchblick durch dieses System zu vermitteln, war das Anliegen der zurückliegenden Kapitel. Versteht man es, lautet die logische Konsequenz, aus der NATO auszutreten. Es ist der einzige Weg, um aus dem gefährlichen Strudel der Kriege herauszukommen, die letztendlich wegen der fixen Idee der Vereinigten Staaten geführt werden, eine unipolare Weltordnung zu schaffen.
Geheuchelte Humanität
Für die deutsche Tagespolitik ist die NATO freilich eine angenehme Sache, vor allem, wenn es um den Bundeshaushalt geht. Unter Verweis auf den angeblichen Schutz, den die amerikanische Militärpräsenz bietet, lassen sich eigene Militärausgaben sparen, was in der pazifistischen deutschen Gesellschaft für jeden Politiker und jede Partei hilfreich ist. Die frühere Bundeskanzlerin Merkel hat dies erkannt und ab 2011 die Bundeswehr verkleinert, die mit nur noch 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auskommen muss. Das eingesparte Geld verwendete sie für entwicklungspolitische Maßnahmen, die während ihrer Kanzlerschaft mit 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts finanziert wurden. Damit verfünffachte sie die Ausgaben für Entwicklungspolitik, unter deren humanitärem Anstrich das von der NATO vorgegebene machtpolitische Ziel auch für gut informierte Medienkonsumenten unsichtbar wird. Warum Radwege in Peru ausgerechnet aus dem Bundeshaushalt finanziert werden,4 konnte in der kurzen öffentlichen Debatte darüber kaum jemand verstehen, der den machtpolitischen Sinn der Entwicklungspolitik nicht kennt. In dieser Debatte fiel zwar die Erklärung
Entwicklungspolitik ist ein ganz wichtiges Instrument, um internationale Agenden mitgestalten zu können. Deutschland ist ein international wichtiges Land und wenn man gestalten will, auch im Eigeninteresse, ist Entwicklungszusammenarbeit unerlässlich,5
doch ohne Kenntnis des machtpolitischen Kontexts lässt sie sich nicht verstehen: Nach einem NATO-Austritt muss man keine internationalen Agenden mehr umsetzen, denn es sind durchweg amerikanische Agenden.
Keiner der Einsätze der Bundeswehr seit 1990 diente auch nur indirekt deutschen Interessen. In Somalia, Jugoslawien, Afghanistan oder Syrien ging es um amerikanische, in Mali ausnahmsweise um französische Machtpolitik. Die pazifistische deutsche Gesellschaft wurde beruhigt, eigentlich finde dort gar kein richtiger Krieg statt, die deutsche Teilnahme an diesen Aktionen sei in erster Linie humanitärer Art und bestünde hauptsächlich im Brunnenbohren oder im Bau von Mädchenschulen. Dennoch ging es keinem der betroffenen Länder hinterher besser, sondern durchweg allen schlechter.
Ursachen der Migration
Dass es Politik und Medien gelingt, den sich geradezu aufdrängenden Ursachenzusammenhang der Migration – und damit des heftigsten Reizthemas der öffentlichen Debatte – mit den Kriegen der NATO zu verschleiern, ist schon ein Kunststück. Überspitzt lässt sich sagen: Die Kriege der NATO reduzieren die Lebensperspektive der Menschen aus den betroffenen Ländern auf staatliche Unterstützungszahlungen für Flüchtlinge, die in Deutschland etwas höher ausfallen als in anderen Staaten. Insofern trifft der Satz des früheren CSU-Vorsitzenden Seehofer nicht zu, die Migration sei die Mutter aller Probleme: Für den größeren Teil der Migration sorgen die Kriege der NATO, für den etwas kleineren Teil die Freizügigkeit des Schengen-Raums. Die Probleme, die die Debatte anfeuern, gibt es aber hauptsächlich mit den Menschen, die wegen der Kriege der NATO aus ihren Herkunftsländern fliehen – und deshalb vom NATO-Staat Deutschland keine allzu hohe Meinung haben. Die effektivste Fluchtursachenbekämpfung sind nicht biometrische Pässe für Afrikaner, sondern ist der Austritt aus der NATO.
Das Pfand
Der nach wie vor in den Vereinigten Staaten eingelagerte Teil der Goldreserven der Bundesbank liegt dort in erster Linie als Pfand zur Verhinderung außenpolitischer Abweichungen vom Kurs der Vereinigten Staaten, unter denen ein NATO-Austritt die größte Eigenmächtigkeit wäre. Dies war gleich im ersten Kapitel über die Währungspolitik zu sehen. Darüber, dass das dort eingelagerte Gold ein Pfand für die Treue zur NATO und den Vereinigten Staaten ist, wird zwar in der öffentlichen Debatte selten spekuliert, doch ist dies offenes Geheimnis: Als sich ab 2016 die Beziehungen zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten nach und nach verschlechterten, zog die Türkei 2018 vorsichtshalber ihre Goldbestände aus New York ab.7 Ein Jahr zuvor, 2017, hatte die Türkei erstmals öffentlich über einen NATO-Austritt nachgedacht.8 Ungarn folgte diesem Beispiel im gleichen Jahr.9 Auch Ungarn hatte nach der Flüchtlingskrise 2015 und in Anbetracht der sich seit 2014 über den Bürgerkrieg in der Ukraine verschlechternden Beziehungen der Europäischen Union zu Russland eine zunehmend skeptische Haltung zur Europäischen Union10 und zur NATO eingenommen.11 Im Mai 2024 wurde auch von Ungarn mitgeteilt, die Mitgliedschaft in der NATO zu überdenken.12 Offenbar werden immer, wenn sich eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit mit den Vereinigten Staaten abzeichnet, vorsorglich erst die Goldreserven zurückgeholt. Dies würde niemand tun, wenn nicht jedermann wüsste, dass sie ein politisches Pfand sind.
Ein paradoxes Ergebnis
Ein NATO-Austritt wird sicher zusätzliche Geldausgaben notwendig machen. Es wird sich in den weiteren Teilen zeigen, dass die Bundeswehr personell keineswegs zu klein ist, aber über zu wenig Ausrüstung verfügt, um als eigenständige Verteidigungsorganisation gelten zu können. Diese zusätzliche Ausrüstung kostet Geld.
Wenn Deutschland aber nicht mehr NATO-Mitglied ist, fällt auch die lästige Verpflichtung weg, in Ländern des globalen Südens die heuchlerisch als Entwicklungspolitik bezeichnete Einmischungspolitik zu betreiben. Dies entlastet ihren jährlichen Haushalt um 28 bis 33 Milliarden Euro. Damit lässt sich der erforderliche Aufwand ohne weiteres decken. Es sind bei einem NATO-Austritt also keine zusätzlichen Ausgaben erforderlich. Es genügt, vorhandene Haushaltsmittel umzuwidmen, und dies keineswegs für immer, sondern nur über einen Zeitraum von wenigen Jahren hinweg.
Nach den gewohnten ethischen und politischen Parametern mag der Gedanke befremdlich wirken, zusätzliche Rüstung ausgerechnet durch Einsparungen auf humanitären Politikfeldern zu finanzieren. Diese sind in Wirklichkeit aber gar nicht humanitär, wie bereits aufgezeigt wurde, auch wenn diese Überlegungen von vielen Lesern bestimmt mit Skepsis oder gar Unbehagen aufgenommen wurden. In der Politik gilt es aber, wie beim Schachspiel, immer mehrere Züge voraus zu denken. Bei diesen Berechnungen werden wir noch sehen:
- Tritt Deutschland aus der NATO aus, wird es keine NATO mehr geben. Die NATO wird gewissermaßen undurchführbar.
- Endet die NATO, scheitert zugleich die amerikanische Vision von der unipolar auf die Vereinigten Staaten als einzige Führungsmacht ausgerichteten Weltordnung.
- Endet die Vision der unipolaren Welt, enden nach und nach auch alle Kriege, die derzeit ausschließlich wegen dieser fixen Idee geführt werden: Ohne Kriegsgrund gibt es kein Krieg.
Im gleichen Verhältnis, wie die Vereinigten Staaten an Macht verlieren, wird die Welt friedlicher, und vor allem die vom Krieg heimgesuchten Länder des Globalen Südens erhalten durch Frieden bessere Entwicklungsperspektiven als in der Rolle von Schlachtfeldern. Die Ausbreitung von Frieden löst zwar nicht alle Probleme der Welt, aber das größte, wie schon der frühere Bundeskanzler Willy Brandt herausgefunden hatte, dem die Worte zugeschrieben werden:
Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Natürlich werden sich die Vereinigten Staaten nicht ohne Widerstand die Butter vom Brot nehmen lassen. Darüber denken andere Teile dieser Seite nach.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Abruf am 13. September 2024):
1 beruhmte-zitate.de/autoren/henry-kissinger.
2 gutezitate.com/zitat/
3 gutezitate.com/zitat/165873.
4 tagesschau.de/faktenfinder/radwege-peru-entwicklungshilfe-100.html.
5 Stephan Klingebiel vom German Institute of Development and Sustainability:
tagesschau.de/faktenfinder/kontext/interview-entwicklungshilfe-100.html.
6 welt.de/politik/deutschland/article181434586/Seehofer-nach-Chemnitz-Mutter-aller-Probleme-ist-die-Migration.html.
7 goldreporter.de/tuerkei-zieht-ihr-gold-aus-new-york-ab/gold/73917.
8 deutschlandfunk.de/tuerkei-das-verhaeltnis-zur-nato-leidet-100.html.
9 goldreporter.de/ungarn-holt-goldreserven-nach-hause/news/72786.
10 n-tv.de/politik/Kann-Ungarn-aus-der-EU-geworfen-werden-article24515461.html.
11 mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/nato-ungarn-usa-schweden-orban-100.html.
12 politico.eu/article/hungary-nato-prime-minister-viktor-orban-country-russia-vladimir-putin-west-official.
bloomberg.com/news/articles/2024-05-24/hungary-working-to-redefine-its-nato-membership-orban-says.
13 zitate-fibel.de/zitate/willy-brandt-frieden-ist-nicht-alles-aber-ohne-frieden-ist-alles-nichts.