Es kann gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein, aber Amerikas Freund zu sein ist fatal.
Henry Kissinger
Die Mitgliedschaft in der NATO sorgt für äußere Sicherheit und ist deshalb etwas Gutes. Durch die Mitgliedschaft in der NATO werden Gefahren verringert, jedenfalls nicht vergrößert. So wird die NATO in den gängigen Medien geschildert, und dementsprechend ist der größere Teil der Bevölkerung froh, dass Deutschland NATO-Mitglied ist. Es ist jedoch auch eine andere Sichtweise vertretbar:
- Die NATO ist ausschließlich ein Machtinstrument der Vereinigten Staaten, um Einfluss auf Europa auszuüben, insbesondere auf die Bundesrepublik Deutschland.
- Die gängige Darstellung, die NATO funktioniere nach dem Prinzip: Einer für alle, alle für einen, ist falsch. Nichts davon steht im Nordatlantik-Vertrag, eher das Gegenteil: Kein Mitglied hat einen Anspruch auf Verteidigung, und kein Mitglied trifft die Pflicht, sich in bestimmter Weise zu engagieren.
- Die Risiken eines Krieges in Europa, vor allem zwischen der NATO und Russland, trägt allein Deutschland, und dies freiwillig. Obwohl die Vereinigten Staaten politisch von der NATO am meisten profitieren, geht ihr Risiko gegen null.
- Durch die Mitgliedschaft in der NATO gibt die Bundesrepublik Deutschland ihre außenpolitische Souveränität auf.
- Der Sinn der Europäischen Union, die eigentlich gegründet wurde, um den relativ kleinen Staaten Europas im Konzert der großen Weltmächte Gewicht und Stimme zu verleihen, wird durch die gleichzeitige NATO-Mitgliedschaft ihrer Mitgliedsstaaten konterkariert.
- Die Europäische Union selbst gerät hierdurch in das Fahrwasser amerikanischer Außenpolitik. Eine ausschließlich an europäischen Interessen ausgerichtete gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union wird durch die NATO zugunsten der Vereinigten Staaten verhindert.
- Dass sich Europa unter einem von den Vereinigten Staaten großzügig aufgespannten atomaren Schutzschirm sicher fühlen darf, ist nicht wahr. Dieser Schutzschirm existiert nicht.
- Die Geschichte von der NATO als einmalige Errungenschaft zum Wohle Europas wird nur geglaubt, weil sie seit 75 Jahren erzählt wird.
Dies alles klingt unangenehm, und das ist es in der Tat.
Inhaltsverzeichnis
Die Entstehung der NATO
Die NATO ist ein einzigartiges politisches Phänomen, das keinerlei historische Vorbilder hat, allenfalls gewisse Übereinstimmungen mit dem römischen Reich, wie es in den Vereinigten Staaten gern gesehen wird,1 und mit dem Vasallentum der Karolingerzeit.2 Letzteres passt nach diesseitiger Auffassung besser, denn der Beitritt zur NATO ist in erster Linie ein freiwilliger Treueschwur an die Vereinigten Staaten und lautet: Schutz gegen loyale außenpolitische Gefolgschaft.2 Sich selbst bezeichnet die NATO bescheiden als Verteidigungsbündnis.
Ausgangslage
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs durften sich Frankreich und Großbritannien neben den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zwar zu den vier Siegermächten zählen, waren aber wirtschaftlich am Ende und bei den Vereinigten Staaten hoch verschuldet. Allein aus finanziellen Gründen mussten sie ihre Streitkräfte nach dem Kriegsende rasch und rigoros abbauen. Italien, Belgien und den Niederlanden ging es nicht besser; sie standen vor denselben Notwendigkeiten.
Die Sowjetunion dagegen hatte zwar im 2. Weltkrieg mit 20 Millionen Menschen die größten Verluste erlitten, und ihr Land war durch die Kriegsereignisse geradezu verwüstet worden. Deshalb wurde damit gerechnet, dass auch die Soldaten der Roten Armee alsbald entlassen würden, um ihr schwer getroffenes Land wiederaufzubauen. Diese Rechnung erwies sich als falsch: Für den Wiederaufbau der Sowjetunion wurden zum größten Teil Kriegsgefangene eingesetzt,3 und deshalb musste die Rote Armee so gut wie nicht abgerüstet werden. Sie war dazu bestimmt, in den osteuropäischen Staaten und vor allem im östlichen Teil Deutschlands weiterhin militärisch präsent zu sein, um dort die politischen Vorstellungen der Sowjetunion durchzusetzen.
Die Vereinigten Staaten hatten den 2. Weltkrieg aufgrund ihrer geografischen Lage ohne Schäden im eigenen Land und – im Vergleich zu den europäischen Staaten – mit sehr geringen Menschenverlusten überstanden. Den wesentlichen Teil der materiellen Ausrüstung ihrer Verbündeten, auch der Sowjetunion, hatten die Vereinigten Staaten beigesteuert, aber keineswegs umsonst, weshalb der Krieg für die amerikanische Industrie ein gutes Geschäft war. Die amerikanischen Streitkräfte blieben nach wie vor in Europa, um die politischen Entwicklungen abzuwarten und darauf Einfluss zu nehmen.
Europäische Initiativen: Westunion
In Europa drehten sich die politischen Gedanken nach 1945 in erster Linie darum, wie man in Zukunft eine neuerliche deutsche Aggression verhindern könnte. Diese Sorge bestimmte vor allem die französische Politik. Deshalb kam es im März 1947 zwischen Frankreich und Großbritannien zum Brüsseler Pakt, in dem sich beide Staaten auf 50 Jahre zu gegenseitigem Beistand verpflichteten, falls Deutschland neuerlich eine aggressive Rolle in Europa einnehmen sollte.4 Erst unter dem Eindruck des kommunistischen Umsturzes in der Tschechoslowakei wurde die Sowjetunion als wesentlich größere Gefahr ausgemacht. Deshalb wurde der Brüsseler Pakt bereits ein Jahr später, im März 1948, um Belgien, Luxemburg und die Niederlande zur Westunion erweitert. Er richtete sich nun nicht mehr allein gegen Deutschland, sondern gegen jeglichen bewaffneten Angriff in Europa, vor allem auf einen sowjetischen.
Viel gegen die Sowjetunion auszurichten wäre die Westunion nicht in der Lage gewesen. Dazu war sie aufgrund der schlechten Wirtschaftslage ihrer Mitgliedsstaaten militärisch zu schwach. Hinzukam, dass die großen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, aber auch Belgien und die Niederlande herausgefordert waren, ihren umfangreichen Kolonialbesitz zu erhalten, was ihnen aufgrund ihrer schwachen Verfassung schwerfiel. Der Brüsseler Pakt und der Vertrag über die Westunion betonten daher ausdrücklich, dass die Beistandspflichten nur bei kriegerischen Ereignissen in Europa gelten sollten, aber nicht für Kriege um die jeweiligen Kolonialreiche.
Die Sorge um ihre Kolonien war für die westeuropäischen Staaten ein wichtiges Thema, seit Großbritannien 1947 Indien aufgeben musste.5 Frankreich bemühte sich seit 1946, im Indochina-Krieg die Unabhängigkeit der späteren Staaten Vietnam, Laos und Kambodscha aufzuhalten, die damals noch französische Kolonien waren, nun aber in die Unabhängigkeit strebten.6
Indochinakrieg: Schlacht von Dien Bien Phu 1954
Skandinavische Bündnisbestrebungen
Ähnliche Bestrebungen wie in Westeuropa gab es auch in Nordeuropa, wo Dänemark, Norwegen und Schweden eine militärische Zusammenarbeit im Rahmen eines skandinavischen Verteidigungsbündnisses erwogen. Dem Beispiel Finnlands folgend sollte dieses Bündnis gewissermaßen neutral bleiben und nur vor möglicher Druckausübung durch die Sowjetunion schützen. Das Problem war, dass diese Staaten damals noch keine eigene Rüstungsindustrie besaßen. Sie baten daher die Vereinigten Staaten um die Lieferung der notwendigen Waffen. Dieses regionale Bündnis scheiterte jedoch an der kategorischen Weigerung der Vereinigten Staaten, einer neutralen Allianz Waffen zu liefern.4
Gründung der NATO
Während sich Frankreich und Großbritannien in den Bemühungen um die Erhaltung ihrer Kolonialreiche verzettelten, blockierten sowjetische Truppen ab Juni 1948 trotz des Vier-Mächte-Status die Zufahrten nach Berlin. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses baten die Westmächte die Vereinigten Staaten um Schutz und Beistand. Zumal die Vereinigten Staaten damals weltweit die einzige Macht mit Atomwaffen waren, schien dies alternativlos.
Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags 1949
Am 10. Dezember 1948 begannen die Verhandlungen eines Beistandspakts, der am 4. April 1949 schließlich zustande kam. Die Gründungsmitglieder waren zwölf Staaten: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die Vereinigten Staaten.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, deutsche Ausgabe 2015, Seite 24 ff.
2 mittelalter-lexikon.de/wiki/Vasall
3 bundestag.de/resource/blob/413294/8833b7bc64bda36d67a6ce811639bcf1/WD-1-011-11-pdf.pdf.
4 cvce.eu/de/collections/unit-content/-/unit/02bb76df-d066-4c08-a58a-d4686a3e68ff/a2ca068b-fa0c-4137-b58f-ce516c25fab0.
5 bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/511728/vor-75-jahren-unabhaengigkeit-indiens.
6 globalhistory.de/kriege/indochinakrieg/index.aspx.
Der vieldeutige Nordatlantikvertrag
Wie fast alle völkerrechtlichen Verträge ist der Nordatlantikvertrag kurz und leicht verständlich. Sein Text kann in der heute gültigen Fassung heruntergeladen werden:1
PDF: Nordatlantikvertrag 21,7 KB, 3 Seiten
Der Text wurde bislang nur zweimal geändert, und zwar in Artikel 6, zum ersten Mal beim Beitritt der Türkei, weil deren asiatisches Staatsgebiet sonst nicht in den geschützten geografischen Bereich gefallen wäre, zum zweiten Mal nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich, das damit aus dem Vertragsgebiet herausfiel.
Wie beim Brüsseler Pakt und der Westunion waren die Vertragspartner auch hier darauf bedacht, dass sich der Vertrag nur auf Europa und Nordamerika bezog, um nicht alle Mitglieder in Kolonialkriege einzelner Mitglieder hineinzuziehen, denn solche zeichneten sich damals durch die Unabhängigkeitsbestrebungen in den afrikanischen und asiatischen Ländern greifbar ab, die durch die Erschöpfung der europäischen Kolonialherren im 2. Weltkrieg nun ihre Stunde gekommen sahen. Wegen der geografischen Beschränkung der Beistandspflichten auf Europa ist übrigens ein Beitritt Israels zur NATO ausgeschlossen, auch wenn dieser Staat politisch in jeder Hinsicht wie die NATO-Staaten ausgerichtet ist.
Die Schlupflöcher
Kernstück des Nordatlantikvertrages ist Artikel 5. Die gängige Interpretation lautet, er bedeute: Einer für alle, alle für einen.2 Das klingt nach einem Automatismus, in dem sich augenblicklich alle NATO-Staaten gemeinsam mit allen ihren Streitkräften einem Aggressor entgegenwerfen. So ist es aber nicht:
- Wird ein NATO-Staat angegriffen, muss dieser Angriff erst einmal von allen NATO-Mitgliedern als solcher anerkannt werden. Erst dann wird gemeinsam der Bündnisfall im Nordatlantikrat ausgerufen.2 Dabei geht es ausdrücklich um Einstimmigkeit: Ist ein einziges Mitglied (von heute 32 Mitgliedern) der Auffassung, es gäbe keinen Angriff, kann der Bündnisfall nicht eintreten, selbst wenn die Auffassung des widerspenstigen Mitglieds evident falsch ist. Umso erstaunlicher war es nach den Anschlägen vom 11. September 2001, dass kein Mitglied die Fragen aufwarf, ob ein von nichtstaatlichen Akteuren verübter Terroranschlag überhaupt als Angriff auf einen Staat gelten kann, und warum man als angemessene Verteidigung ausgerechnet in Afghanistan einmarschieren müsste. In Anbetracht der Szenarien eines hybriden Krieges werden sich diese Fragen noch häufig stellen.
- Selbst wenn der Bündnisfall einstimmig festgestellt wird, darf jeder Mitgliedstaat über Art und Ausmaß seiner Unterstützung frei entscheiden. Diese Entscheidungsfreiheit soll jedem Staat ermöglichen, seine nationalen, möglicherweise von seiner Verfassung vorgegebenen Prinzipien einzuhalten. Die Unterstützung des Angegriffenen kann daher sehr unterschiedlich ausfallen: Man kann freilich auch mit militärischen Mitteln Beistand leisten, doch auch finanzielle Zuwendungen, Munitions- und Materiallieferungen oder andere Hilfen genügen vollauf als Verteidigungsbeitrag. Jeder Staat kann sich sogar gegen eine direkte Unterstützung entscheiden, wenn er dies nicht erforderlich hält.
- Im Umkehrschluss entsteht konsequenter Weise aus Artikel 5 kein rechtlicher Anspruch von Staat zu Staat auf Beistand und vor allem nicht auf militärische Unterstützung.2 Der Vertrag enthält deshalb nicht einmal die Verpflichtung, Streitkräfte aufzustellen. Island besaß beispielsweise noch nie Streitkräfte. Dennoch gehört es zu den Gründungsmitgliedern der NATO.
Schlussfolgerungen
Weiter hinten wird die aufwändige Organisationsstruktur der NATO erläutert. Im Nordatlantikvertrag selbst steht davon kein Wort. Auch der atomare Schutzschirm, den die Vereinigten Staaten über Europa aufzuspannen versprechen, ist dort nicht erwähnt. Alles, was die NATO ausmacht, steht dort nicht. Dass vieles offen oder zumindest vage bleibt, liegt durchaus in amerikanischem Interesse, denn gerade die Vereinigten Staaten wollen frei darüber entscheiden können, ob überhaupt und wie sie den europäischen Partnern helfen.
Darüber, dass der Nordatlantikvertrag eben keinerlei belastbare Garantie enthält, war sich nach dem NATO-Beitritt Polens 1999 der frühere polnische Außenminister Radoslaw Sikorski bewusst geworden. In einem privaten, in einem Restaurant geführten Gespräch sagte er 2014 zum damaligen Finanzminister Jacek Rostowski: Du weißt, dass das polnisch-amerikanische Bündnis wertlos ist. Es ist sogar schädlich, da es Polen das falsche Gefühl von Sicherheit gibt. Völliger Bullshit! Wir bekommen Probleme mit Deutschland, mit Russland, und sind der Meinung, dass alles super ist, weil wir den Amerikanern einen geblasen haben. Das ist absolut naiv. Das Gespräch wurde abgehört und das Protokoll dem Nachrichtenmagazin Wprost zugespielt.3 Wer es abgehört hat, blieb offen. Nachdem etwa zur gleichen Zeit (2013) bekannt geworden war, dass das Funktelefon der Bundeskanzlerin Merkel seit 2002 vom amerikanischen Nachrichtendienst NSA ebenfalls abgehört wurde,4 ist die Spekulation nicht allzu gewagt, dass dieser Dienst auch in diesem Fall tätig war.
Jedenfalls erstaunt in Anbetracht des knappen geschriebenen Vertragsinhalts, warum sich vor allem Deutschland mit so großer Selbstverständlichkeit auf die NATO verlässt. Zwar hat die NATO im Kalten Krieg funktioniert. Dies lag aber nicht an den Regelungen des Nordatlantikvertrags, sondern allein faktisch an der amerikanischen Truppenpräsenz entlang der deutsch-deutschen Grenze, an der die Vereinigten Staaten selbst interessiert waren.
Der heutige Frontstaat Polen wollte deshalb ebenfalls eine solche faktische Versicherung erreichen und bat daher seit dem Beitritt zur NATO um die feste Stationierung amerikanischer Truppen auf polnischem Staatsgebiet. Derselbe Radoslaw Sikorski war es, der diese Bitte seines Landes mehrfach vorgetragen hatte: Wir würden uns dann sicherer fühlen. Wir wären dankbar für alles, was wir bekommen.5 Die Vereinigten Staaten dachten jedoch nicht daran, auf diesen Wunsch einzugehen, was Sikorski als enttäuschend bezeichnete.5 Auf diese Erfahrung wird seine oben zitierte Äußerung zurückzuführen gewesen sein. Erst seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine meinten die Vereinigten Staaten, um eine feste Truppenstationierung in Polen nicht mehr herumzukommen, weil sie als Schutzmacht sonst unglaubwürdig würden. Ihr Engagement hält sich dennoch in Grenzen.6
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de.
2 bpb.de/themen/internationale-organisationen/nato/547059/der-buendnisfall-der-nato.
3 spiegel.de/politik/ausland/polen-aussenminister-sikorski-haelt-buendnis-mit-den-usa-fuer-wertlos-a-976787.html.
4 spiegel.de/politik/deutschland/handy-der-kanzlerin-die-wichtigsten-fakten-der-abhoeraffaere-a-930411.html.
5 dw.com/de/polen-bittet-um-nato-truppen/a-17534837.
6 table.media/security/analyse/us-truppen-in-polen-gekommen-um-zu-bleiben.
Die sogenannte Wertegemeinschaft
Alle Politiker und die gängigen Medien schwärmen, die NATO sei eine Wertegemeinschaft.1 Abgeleitet wird dies aus der Präambel des Nordatlantikvertrags:
Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten.7
Ernst gemeint kann dies nie gewesen sein: Das Gründungsmitglied Portugal war bis 1974 keine Demokratie, sondern eine Diktatur, die sich um Menschenrechte sehr wenig scherte.2 Später änderte auch die griechische Militärdiktatur an der NATO-Mitgliedschaft des Landes nichts.3 Auch die Vereinigten Staaten – immerhin die Führungsmacht des Bündnisses – nahmen es mit den zivilisatorischen Werten wie Menschenrechten nie so genau. So unterhielt die CIA in der Bundesrepublik Deutschland, Japan und Panama Geheimgefängnisse (Black Sites), in denen schon immer gefoltert wurde.
Auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fand dies vor allem in Camp King und in der abgelegenen Villa Schuster in Oberursel im Taunus statt. Vor allem an sowjetischen Überläufern, denen man zutraute, eingeschleuste Agenten zu sein, wurden im Rahmen der Operation ARTISCHOCKE bewusstseinssteuernde Drogen ausprobiert, woran auch ehemalige KZ-Ärzte ihrer geschätzten Expertise wegen beteiligt waren. Der damalige Bundeskanzler Adenauer war genau darüber im Bilde, was in Camp King und in der Villa Schuster im Taunus vor sich ging, sah aber geflissentlich darüber hinweg.4
Villa Schuster, Foto: Renate Hoyer
Der amerikanische Wissenschaftler Frank Olson, der an diesen Verhören teilnahm, schrieb empört an einen Freund: Sie bringen Leute zum Sprechen. … Sie setzen alle möglichen Drogen ein. … Und sie nehmen Nazis, Gefangene, Russen und es interessiert sie nicht im mindesten, ob die da lebendig rauskommen oder nicht.5 Im November 1953 stürzte Olsen aus einem Fenster des New Yorker Hotels Statler, und zwar aus dem 13. Stock. Angeblich war es ein Suizid. Als wahrscheinlicher darf gelten, dass Wiederholungen seiner Indiskretion ausgeschlossen werden sollten.
CIA-Offizier Frank Olson
Hotel Statler, New York
Die deutsche Bevölkerung wurde erst rund vierzig Jahre später in einigen beiläufigen Medienberichten darüber in Kenntnis gesetzt, was zwischen 1949 und 1960 in Camp King und in Oberursel vor sich gegangen war. Sie waren so beiläufig, dass nie eine öffentliche Debatte darüber zustande kommen konnte, wie sich dies mit dem Anspruch an eine Wertegemeinschaft verträgt. Unter anderem deshalb änderte sich in dieser Hinsicht nie etwas, schon gar nicht bei den amerikanischen Streitkräften und der CIA. 2004 wurde die Folter von irakischen Gefangenen durch amerikanische Militärpolizisten im Gefängnis Abu Ghraib 2004 bekannt.6 Bald folgten die Bilder der Gefangenen von Guantanamo Bay.7
Der mit Elektroschocks gefolterte Kapuzenmann von Abu Ghraib, Foto gemeinfrei
Gefangene in Guantanamo Bay, Foto gemeinfrei
Zu beidem hat noch keine Bundesregierung ein Wort der Missbilligung verloren (gegenüber Staaten wie China trat bislang jede Bundesregierung fordernder auf, wenn es um Menschenrechte ging). Eine Wertegemeinschaft, die sich der Freiheit, der Demokratie und dem Recht verpflichtet fühlt, kann die NATO nicht sein, solange die Vereinigten Staaten als Führungsmacht der NATO derartige Menschenrechtsverstöße begehen.
Interessen und…
Eigentlich hätte den Vereinigten Staaten einerlei sein können, was aus Europa wird, und ob Europa unter kommunistischen Einfluss gerät oder nicht. Sie wollten jedoch damals bereits zur einzigen Weltmacht aufsteigen und die weltweite Vorherrschaft erringen. Dabei störte die Sowjetunion als zweite Weltmacht, zumal deren Modell einer kommunistischen Gesellschaft für die nun nach und nach in Afrika und Asien neu entstehenden, von europäischer Kolonialherrschaft ausgeplünderten Staaten durchaus attraktiv war, vgl. Kapitel Entwicklungspolitik. Die Sowjetunion und der Kommunismus wurden daher das amerikanische Feindbild, das von der NATO gläubig übernommen wurde.
Wirtschaftlich bot die Gründung der NATO ein hervorragendes Geschäft für die amerikanische Rüstungsindustrie, die abgesehen von Frankreich und Großbritannien den meisten NATO-Staaten 1949 und auch danach noch über viele Jahre hinweg fehlte. Nicht von ungefähr bildete sich in diesen Jahren nach und nach der Begriff vom militärisch-industriellen Komplex heraus, zunächst – ab 1956 – als military establishment, während der heute etablierte Begriff erstmals von Präsident Eisenhower 1961 verwendet wurde, was eine gewisse Ironie darstellt, da Eisenhower im Grunde als typischer Vertreter des military establishment gelten darf.8
…Strategie
Die Gründung der NATO war daher auf dem politischen Weg der Vereinigten Staaten zur einzigen Weltmacht ein großer Erfolg. Island hatte man dazugebeten, obwohl es bis heute keinerlei Streitkräfte unterhält. Seine geografische Lage im Nordatlantik ist aber ideal, um eine Linie von Luftwaffen- und Marinestützpunkten von Norwegen bis Grönland ziehen zu können, von denen aus die sowjetische Nordflotte von der Einfahrt in den Atlantik abgehalten werden kann.9 Portugal ist trotz seiner wirtschaftlichen und militärischen Schwäche nützlich, weil die Azoren die Beherrschung des Atlantiks ermöglichen.10 Die strategische Position der Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion verbesserte sich durch die Gründung der NATO wesentlich.
Für die Europäer hatte die NATO nach den Worten ihres ersten Generalsekretärs Hasting Ismay zugleich den Sinn, to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down.11 Um Letzteres war es schon beim Brüsseler Pakt gegangen.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 bundesregierung.de/breg-de/themen/sicherheit-und-verteidigung/nato-faq-206618.
2 de.wikipedia.org/wiki/Estado_Novo_(Portugal).
3 de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Militärdiktatur.
4 fnp.de/lokales/hochtaunus/kronberg-ort79545/geheimnisse-villa-schuster-10632941.html,
spiegel.de/politik/das-geheimnis-der-villa-im-taunus-a-4cb335e5-0002-0001-0000-000140390016.
spiegel.de/politik/unorthodox-unethisch-illegal-a-a3bd531b-0002-0001-0000-000013508748?context=issue,
Tim Weiner, CIA. Die ganze Geschichte, 5. Auflage, 2009, Seite 103 ff.
5 fnp.de/lokales/hochtaunus/kronberg-ort79545/geheimnisse-villa-schuster-10632941.html.
6 de.wikipedia.org/wiki/Abu-Ghuraib-Folterskandal.
7 de.wikipedia.org/wiki/Gefangenenlager_der_Guantanamo_Bay_Naval_Base.
8 Charles W. Mills, The Power Elite, Seite 219 (deutsche Ausgabe: Die amerikanische Elite: Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg 1962)
9 nzz.ch/international/die-nato-will-den-flugzeugtraeger-island-wieder-mehr-nutzen-ld.1356585.
10 deutschlandfunk.de/portugal-und-die-nato-100.html.
11 spiegel.de/geschichte/die-nato-in-den-sechzigerjahren-angst-vor-den-deutschen-a-1246455.html.
Im Kalten Krieg
Die Sowjetunion gratulierte der NATO zur Gründung, indem sie am 24. August 1949, somit unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Nordatlantikvertrags, demonstrativ ihre erste Kernwaffe zündete. Die Vereinigten Staaten dankten für diese Glückwünsche, indem sie 1952 Griechenland und die Türkei in die NATO aufnahmen. 1955 trat die Bundesrepublik der NATO bei. Dafür revanchierte sich die Sowjetunion augenblicklich mit der Herbeiführung des Warschauer Pakts. Die Beitritte der Türkei und der Bunderepublik waren strategische Sensationen:
Kontrolle des Schwarzen Meers
Mit der Türkei trat erstmals ein Staat bei, der eine lange gemeinsame Landgrenze mit der Sowjetunion hatte (bis dahin hatte lediglich Norwegen im äußersten Norden Europas ein kurzes Stück Grenze mit der Sowjetunion). Außerdem kontrolliert die Türkei bis heute den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen. Nach Artikel 18 des Vertrages von Montreux müssen sich Kriegsschiffe vor der Durchfahrt durch diese Meerengen vorher ankündigen und dürfen sich nicht länger als 21 Tage im Schwarzen Meer aufhalten, wenn sie nicht einem Staat gehören, der selbst an das Schwarze Meer angrenzt. Nach Artikel 19 darf die Türkei den Verkehr von Kriegsschiffen jeder kriegführenden Macht untersagen.1 Dass die Türkei nun zur NATO gehörte, war für die Sowjetunion ein erheblicher Nachteil.
Bosporus bei Istanbul, Foto: Julian Nyča, Istanbul Bosporus Stückgutfrachter.jpg
Ausgang des Bosporus ins Schwarze Meer, Foto: Michael König, Mk Istanbul SchwarzesMeer.jpg
Eiserner Vorhang
Die Bundesrepublik wiederum grenzte unmittelbar an die von sowjetischen Truppen besetzte DDR. Sie war zwar schon zuvor von amerikanischen, britischen und französischen Truppen besetzt gewesen, doch nun trug die Bundesrepublik durch die Aufstellung der Bundeswehr selbst den größten Anteil der Truppen an der Konfrontationslinie mit der Sowjetunion bei, für den damals der Begriff Eiserner Vorhang aufkam.
Berliner Mauer 1986, Foto: Thierry Noir – CC BY-SA3.0, Berlinermauer.jpg
Innerdeutsche Grenze 1970, Foto: HBrüning – CC BY-SA 4.0, Innerdeutsche Harz.jpg
Stalin-Note
Den NATO-Beitritt der Bundesrepublik und überhaupt deren Westbindung wollte die Sowjetunion um jeden Preis verhindern. In der sogenannten Stalin-Note bot sie 1952 den Westmächten an, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zuzulassen und sich aus der DDR zurückzuziehen, wenn dieser gesamtdeutsche Staat neutral bliebe. Adenauer tat dies spontan als Bluff und als bloßes politisches Störmanöver ab, um die von ihm forcierte Westbindung der Bundesrepublik aufzuhalten. Seitdem streiten Historiker, ob das sowjetische Angebot eine verpasste, von Adenauer bewusst ausgeschlagene Chance zur Wiedervereinigung war oder nicht.2
Kuba-Krise
1959 stationierten die Vereinigten Staaten in Süditalien und in der Türkei nukleare Mittelstreckenraketen, die auf das Gebiet der Sowjetunion gerichtet waren. Die in der Türkei stationierten Raketen galten aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe als die gefährlichsten für die Sowjetunion. Die Sowjetunion revanchierte sich prompt, indem sie daraufhin ab 1960 die antiamerikanische Revolution in Kuba und die dortige neue Regierung unterstützte. Im Gegenzug gestattete die kubanische Regierung der Sowjetunion die Aufstellung nuklearer Raketen auf ihrem Staatsgebiet und somit in kürzester Entfernung zum amerikanischen. 1962 wurden die ersten sowjetischen Raketen in Kuba aufgestellt. Die daraus entstandene Krise wurde damit beigelegt, dass die amerikanischen Raketen aus Italien und der Türkei und die sowjetischen Raketen aus Kuba im gegenseitigen Einvernehmen abgezogen wurden.3 Im gängigen Narrativ wird die Vorgeschichte mit den amerikanischen Raketen in der Türkei meist weggelassen und die Kuba-Krise ausschließlich auf ein unfreundliches Verhalten der Sowjetunion reduziert.
Feste Organisationsstrukturen
In der Bundesrepublik wurde nach deren NATO-Beitritt ein dichtes Verteidigungssystem angelegt, in welchem drei deutsche, zwei amerikanische, ein belgisches, ein britisches, ein niederländisches und ein deutsch-dänisches Korps (LANDJUT) jeweils feste Gebiete zur Verteidigung zugewiesen wurden.
Grafik Corps sectors in NATO’s Central Region.jpg von 1984, gemeinfrei
Unmittelbar unterstellt waren diese Korps zwei Heeresgruppenkommandos, im nördlichen Teil der Northern Army Group (NORTHAG) und im südlichen Teil der Bundesrepublik der Central Army Group (CENTAG). NORTHAG wurde stets von einem britischen, CENTAG von einem amerikanischen General geführt.4,5 Beide Heeresgruppen unterstanden dem AFCENT (Allied Forces Central Europe), bis 1966 stets einem französischen General. Nachdem sich Frankreich 1966 aus den festen Strukturen der NATO zurückgezogen hatte, durfte ab da ein deutscher General das AFCENT leiten.6 Dies war zudem ein amerikanischer Vertrauensbeweis für die Loyalität des NATO-Partners Bundesrepublik Deutschland.
Über allem stand (und steht bis heute) jedoch das SHAPE (Supreme Headquarter Allied Powers Europe).7 Geführt wird es vom SACEUR (Supreme Allied Commander Europe), der stets ein amerikanischer General ist. Sein Stellvertreter ist ein britischer General. Beiden ist ein deutscher General als Chef des Stabes unterstellt.8 Wie sich weiter unten zeigen wird, hat sich an dieser Organisationsstruktur nicht viel geändert.
Spanien
1982 trat Spanien der NATO als 16. Mitglied bei. Dies wirkte sich auf die bis dahin fest etablierten Strukturen der NATO in Europa kaum aus, vervollständigte jedoch die Beherrschung des Mittelmeers.
Mit diesem Mitgliederkreis kam die NATO 1990 am Ende des Kalten Krieges an. Sie fühlte sich als Siegerin über die Sowjetunion, doch es war allein ein Sieg der Vereinigten Staaten, für die nun der Weg zur weltweiten Vorherrschaft offen zu stehen schien.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 Text: cia.gov/readingroom/docs/CIA-RDP08C01297R000500030013-2.pdf.
2 Für die Theorie der verpassten Chance:
Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Seite 184.
Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands, 2005, Seite 280.
Für die Theorie, es sei nur Bluff und Störmanöver gewesen: Peter Ruggenthaler: Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, 2007.
3 de.wikipedia.org/wiki/Kubakrise.
4 de.wikipedia.org/wiki/Northern_Army_Group#Organisation.
5 de.wikipedia.org/wiki/Central_Army_Group#Kommandeure.
6 de.wikipedia.org/wiki/Allied_Joint_Force_Command_Brunssum#Leitung.
7 de.wikipedia.org/wiki/Supreme_Allied_Commander_Europe.
8 de.wikipedia.org/wiki/Supreme_Allied_Commander_Europe.
Erweiterung nach Osten
Nach dem Kalten Krieg dehnte sich die NATO in Europa in mehreren Beitrittsrunden beträchtlich aus:
- 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn,
- 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien,
- 2009 Albanien und Kroatien,
- 2017 Montenegro,
- 2020 Nord-Mazedonien,
- 2023 Finnland und
- 2024 Schweden bei.
Damit verdoppelte sich die Zahl der Mitglieder seit 1990 von 16 auf 32 Staaten. Auf den Beitritt drängen Bosnien-Herzegowina, der Kosovo, Georgien und die Ukraine. Letztere sind auf der folgenden Karte grün, die NATO-Staaten blau und die nicht zur NATO gehörenden Staaten rot eingezeichnet.
Grafik: Patrickneil, NATO enlargement.svg, gemeinfrei
Russland fühlt sich in dieser geografisch-strategischen Lage systematisch eingekreist, vor allem wenn es zum Beitritt Georgiens und der Ukraine käme. Vor allem sieht es ein im Zuge der Verträge über die deutsche Wiedervereinigung abgegebenes Versprechen als gebrochen an: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und vor allem die Vereinigten Staaten hatten zugesagt, die Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen und die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Ob es dieses Versprechen gab, ist umstritten. Dies ist allerdings keine abstrakte Frage, sondern Ursache für den 2022 ausgebrochenen Krieg in der Ukraine.
Unterstützung der Ukraine
Übersehen wird in der Debatte um den Ukraine-Krieg fast immer, dass die Ukraine von den NATO-Staaten in diesem Krieg in einer Weise unterstützt wird, als sei sie bereits ein NATO-Mitglied: Nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags muss die Unterstützung eines angegriffenen Mitglieds nämlich keineswegs zwingend durch den Einsatz von Streitkräften der anderen NATO-Staaten bestehen. Die stattfindende Unterstützung mit Waffenlieferungen und Geld kann, wie vorn zu sehen war, auch gegenüber einem Bündnispartner genügen.2 Die Frage ist also, ob 1990 das Versprechen an die Sowjetunion gegeben wurde, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen oder nicht.
Das umstrittene Versprechen
Schriftlich vereinbart ist im sogenannten 2-Plus-4-Vertrag vom 12. September 1990 (amtlich: Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland) lediglich in Artikel 6, dass dem vereinten Deutschland ein Recht auf freie Bündniswahl zusteht, allerdings mit der Einschränkung in Artikel 5 Satz 3, dass im Gebiet der früheren DDR nur deutsche Streitkräfte stationiert werden dürfen, aber keine ausländischen.
Diese im Interesse der Sicherheit der Sowjetunion getroffene Vereinbarung hat nur dann einen Sinn, wenn auch in den übrigen Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts keine ausländischen Streitkräfte stationiert werden dürfen. Denkt man diese Einschränkung konsequent weiter, und überträgt man sie sinngemäß auf die Staaten Osteuropas, wird man feststellen: Die Unterlassung, die Stationierung ausländischer Streitkräfte zu erlauben, ist nicht gleichzusetzen mit der Unterlassung, der NATO beizutreten. Wie Deutschland können auch die osteuropäischen Staaten der NATO beitreten, nur dürften sie, wenn für sie die Einschränkung des 2-Plus-4-Vertrages sinngemäß gelten soll, als NATO-Mitglieder die Stationierung auswärtiger Streitkräfte auf ihrem Staatsgebiet nicht erlauben, und die NATO müsste von sich aus die Stationierung von Streitkräften dort unterlassen. Dies ist allerdings das Äußerste, was zu Gunsten Russland aus dem Wortlaut und dem Sinn des 2+4-Vertrages hergeleitet werden kann.
Außer dem 2+4-Vertrag gibt es keine weiteren völkerrechtlichen Quellen zu dieser Frage. Der Vertragstext hängt an als
PDF: 2+4-Vertrag 22,7 KB, 6 Seiten
Erste Verhandlungsrunde zum Zwei-plus-vier-Vertrag am 14. März 1990 im Auswärtigen Amt,
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F083821-0005/Arne Schambeck/CC-BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5473158.
Die Tutzing-Formel
Am 31. Januar 1990 erklärte der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einer Rede vor der Akademie für politische Bildung in Tutzing (leicht gekürzt):
Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. … Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen dürfen.3
Diese Äußerung Genschers wurde später als Tutzing-Formel bezeichnet. Am 2. Februar 1990 gaben Genscher und der amerikanische Außenminister Baker, in Washington nach einem Treffen einige Statements vor Pressevertretern. Genscher erklärte bei dieser Gelegenheit im Beisein Bakers, es bestehe nicht die Absicht, das NATO-Verteidigungsgebiet nach Osten auszudehnen, und dies beziehe sich nicht nur auf die DDR, sondern allgemein.4 Damit wiederholte Genscher die Tutzing-Formel.
Hans Dietrich Genscher übergibt dem amerikanischen Präsidenten am 21. November 1989 ein Stück der Berliner Mauer, Foto gemeinfrei
Die Tutzing-Formel wurde noch oft wiederholt. Auch in einem Gespräch zwischen Bundeskanzler Kohl und Michail Gorbatschow soll sich Kohl in diesem Sinn geäußert haben.5 Damit mag bei der sowjetischen Seite Vertrauen gebildet und eine Erwartungshaltung erzeugt worden sein, doch sprachen Genscher und Kohl nie für die NATO oder für andere Staaten. Sich im Sinne eines Versprechens darauf verlassen durfte die Sowjetunion nicht.
Widersprüche
Fast vergessen ist, dass sich die Sowjetunion und später Russland mehrfach selbst um einen Beitritt zur NATO bemüht hatten.
- 1951 wandte sich der sowjetische Außenminister Andrei Wyschinskij an die britische Regierung mit dem Vorschlag, über die Möglichkeit eines NATO-Beitritts zu sprechen, der jedoch unbeantwortet blieb, da man ihn für nicht ernst gemeint hielt.
- Stalins Nachfolger Chruschtschow stelle dagegen 1954 ein offizielles Beitrittsgesuch, das mit der Begründung abgelehnt wurde, die Mitgliedschaft der Sowjetunion sei mit dem demokratischen Charakter und den Verteidigungszielen der NATO unvereinbar.6 Völlig unsinnig oder bloßer Sarkasmus waren die damaligen Vorstöße der Sowjetunion dennoch nicht. Sie gelten sogar als erste Initiativen zum OSZE-Vertrag.
- Der erste russische Präsident Jelzin formulierte im Dezember 1991 das Ziel, bis 2000 den Beitritt Russlands zur NATO zu erreichen, und gleich nach seinem Amtsantritt erkundigte sich Jelzins Nachfolger Putin beim amerikanischen Präsidenten Clinton, was er von Jelzins Idee von 1991 halte.7
- Der ersten Erweiterungsrunde der NATO 1997 um Polen, Ungarn und Tschechien war Jelzin erst noch entgegengetreten, hatte ihr dann aber doch zugestimmt.8 Putin wiederum stellte den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen den Beitritt zur NATO 2001 ausdrücklich frei.9
Die russischen Beitrittsbemühungen zwischen 1991 und 2000 waren naiv, aufrichtig und aussichtslos. Sie waren aussichtslos, weil die Vereinigten Staaten niemals den weltweit einzigen Konkurrenten auf dem Gebiet der strategischen Nuklearwaffen in der NATO geduldet hätten, weil sie damit ihr Alleinstellungsmerkmal innerhalb des Bündnisses und damit ihre Führungsrolle verloren hätten. Ihrem Ziel, die alleinige weltweite Vorherrschaft zu erringen, wäre dies erst recht abträglich gewesen, denn es wäre auf eine Aufteilung dieser Hegemonie hinausgelaufen. Dass Russland diese amerikanischen Vorstellungen übersehen hatte, war naiv, wenngleich der amerikanische Hegemonieanspruch damals noch nicht so deutlich eingefordert wurde wie heute.
Die Stimmung kippt
Eine erste Eintrübung erfuhr das zunächst gute amerikanisch-russische Verhältnis 1999 durch den Krieg der NATO gegen Jugoslawien und setzte sich 2003 durch die amerikanische Kündigung des ABM-Vertrags fort (dazu unten).
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 nato.int/cps/en/natohq/topics_52044.htm.
2 vgl. Fußnote 8 im Kapitel Entstehung der NATO (Vertragstext).
3 Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte, 1991, Seite 191.
4 upi.com/Archives/1990/02/02/German-reunification-creates-allied-unease/7915633934800.
5 nsarchive.gwu.edu/document/16120-document-09-memorandum-conversation-between.
6 pressenza.com/de/2019/04/heute-vor-65-jahren-sowjetunion-wollte-der-nato-beitreten.
7 faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/nato-und-russland-vom-beitrittswunsch-zur-bedrohung-17345639.html.
8 ardaudiothek.de/episode/archivradio-geschichte-im-original/russland-stimmt-nato-osterweiterung-zu/ard/10326563.
9 derstandard.at/story/698889/putin-will-baltische-staaten-ueber-nato-beitritt-entscheiden-lassen.
Organisation der NATO
Die NATO ist eine internationale Organisation ohne Hoheitsrechte, was bedeutet, dass ihre Mitgliedstaaten ihre Souveränität und Unabhängigkeit uneingeschränkt behalten. Dennoch ist sie rechtsfähig und verfügt über eigenes Eigentum und eigenes Vermögen. Ihre Organisation weist gleichzeitig militärische und zivile Strukturen auf. Letztere setzen sich aus legitimierten Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen. Die militärische Ebene wird aus militärischen Repräsentanten der Mitgliedstaaten gebildet. Alle Entscheidungen werden nach dem Konsensprinzip getroffen, wonach nur eine Gegenstimme die Entscheidung verhindert. Die militärische Ebene hat den Weisungen der zivilen Ebene zu folgen.1
Zivile Ebene
Die zivile Ebene besteht aus dem Nordatlantikrat, dem Generalsekretär mit dem Internationalen Stab, der Nuklearen Planungsgruppe und verschiedenen Einrichtungen und Gremien, die sich mit Einzelthemen befassen, etwa der NATO-Russland-Rat.
Nordatlantikrat
Der Nordatlantikrat (North Atlantic Council) ist das wichtigste Entscheidungsgremium, das sich mit allen Aspekten der Bündnispolitik befasst, mit Ausnahme der militärischen Verteidigungsplanung und der Nuklearpolitik (Letzteres wird von der Nuklearen Planungsgruppe behandelt, siehe unten). Der Rat besteht aus den ständigen Vertretern (Botschaftern) der Mitgliedstaaten. Er entscheidet über politische Fragen des Bündnisses, während der Militärausschuss für militärische Entscheidungen zuständig ist. Die Außen- und Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten treffen sich halbjährlich, die Regierungschefs im Turnus von zwei Jahren. Die ständigen Vertreter der Bündnisstaaten treffen sich mindestens einmal in jeder Woche. Dabei werden aktuelle Fragen sowie die Berichte und Empfehlungen aus den vom Rat gebildeten Ausschüssen erörtert, welche die vorbereitende Arbeit für die Entscheidungen leisten.
Generalsekretär
Der vom Nordatlantikrat auf vier Jahre gewählte Generalsekretär ist zugleich Vorsitzender des Nordatlantikrates wie auch der Nuklearen Planungsgruppe (siehe unten). Daneben leitet er das Generalsekretariat mit dem International Staff. Er ist höchster Repräsentant der NATO und vertritt die Organisation in der Öffentlichkeit.
Nukleare Planungsgruppe
Die 1966 gegründete Nuclear Planning Group soll die politische Kontrolle über die Nuklearwaffen und ihre Einsatzszenarien ausüben. Sie wirkt beratend an den Entscheidungen über das Nuklearpotential der NATO und die Entwicklung der Nuklearpolitik mit. Dazu tritt sie ein- bis zweimal jährlich beim Treffen der Verteidigungsminister und bei Bedarf auf der Ebene der Botschafter zusammen. Entscheidungen trifft sie nicht. Ausgerechnet die europäische Nuklearmacht Frankreich ist kein Mitglied der Planungsgruppe.
Verwaltungskosten
Seit dem Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO 1967 liegt der Sitz der Organisation in Brüssel, wo sie 4.000 Mitarbeiter beschäftigt. Die kosten dieser Verwaltungsorganisation lagen 2023 bei 3,32 Milliarden Euro. Davon trägt Deutschland nach einem festgelegten Verteilungsschlüssel 16,35 Prozent,2 sodass die deutsche Mitgliedschaft an sich – ohne Beiträge zu überstaatlichen militärischen Projekten – 446 Millionen Euro kostete.3
Militärische Ebene
Zur militärischen Ebene gehören der Militärausschuss, der internationale Militärstab und schließlich die integrierte militärische Organisation.
Militärausschuss
Das Military Committee ist das höchste militärische Entscheidungs- und Beratungsorgan. Es tagt zweimal im Jahr und berät die zivilen Entscheidungsgremien in militärischen Fragen. Der Ausschuss besteht aus den Stabschefs der Mitgliedstaaten.
Internationaler Militärstab
Der International Military Staff ist ausführendes Organ der NATO. Es ist ein Internationaler Militärstab (engl. IMS), der aus mehreren Abteilungen besteht und rund 500 zivile und militärische Mitarbeiter umfasst.
Integrierte militärische Organisation
Das Alliierte Kommando Operationsführung (Allied Command Operation, ACO) leitet alle militärischen Einsätze der NATO. Den militärischen Oberbefehl hat der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR). Diese umfangreiche Organisation kann hinter dem schlichten Wortlaut des Nordatlantikvertrags nicht vermutet werden. Sie ist im nachfolgenden Diagramm dargestellt.4
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 nato.int/cps/en/natohq/structure.htm.
2 rnd.de/politik/hoherer-anteil-an-nato-kosten-wofur-deutschland-mitbezahlt-LGD5SHTT47YVWETWBRZHR5GTWY.html.
3 spiegel.de/politik/deutschland/nato-deutscher-beitrag-zur-finanzierung-steigen-2023-um-mehr-als-20-prozent-
a-2ea75164-9965-4688-b9f1-67ce19db588b.
4 Urheber: Lars2019, Dateiname: NATO.svg
Truppenstationierung
Auf Deutschland wirken sich im Zusammenhang mit der NATO-Mitgliedschaft wegen der Stationierung ausländischer Truppen noch zwei weitere Verträge aus:
NATO-Truppenstatut
Das NATO-Truppenstatut (Agreement between the Parties to the North Atlantic Treaty regarding the Status of their Forces) vom 19. Juni 1951 ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der alle Rechtsfragen um den Aufenthalt von Truppen aus NATO-Staaten auf dem Staatsgebiet anderer NATO-Staaten regelt.1 Dieser Vertrag gilt neben dem Nordatlantikvertrag für sämtliche NATO-Staaten. Er bewirkt unter anderem, dass die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden des Gastgebers für Rechtsverstöße der stationierten Soldaten nicht zuständig sind, die damit praktisch immun sind. Im Fall eines NATO-Austritts endet freilich die Bindung an diesen Vertrag.
Aufenthaltsvertrag
Mit dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 erhielten Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande und die Vereinigten Staaten die völkerrechtliche Zustimmung Deutschlands zur dauernden Stationierung von Truppen auf dem deutschen Staatsgebiet. Nach Artikel 3 Absatz 1 tritt der Aufenthaltsvertrag mit dem Abschluss eines Friedensvertrages mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs außer Kraft.
Rechtslage seit 1990
Mit dem Abschluss des 2+4-Vertrages als Friedensvertrag trat der Aufenthaltsvertrag außer Kraft. Trotzdem erklärte die damalige Bundesregierung gegenüber den drei Westmächten durch Notenwechsel vom 25. September 1990, dass aus der Beendigung des Aufenthaltsvertrages keine Rechte hergeleitet werden.3 Ob der Notenwechsel völkerrechtlich wirksam ist, ist zweifelhaft. Zumindest entspricht er nicht den verfassungsmäßigen Anforderungen an die Gesetzgebung (dem Bundestag wurden die Noten gar nicht erst zur Zustimmung vorgelegt). Dennoch kann der Aufenthaltsvertrag gemäß den gewechselten Noten aus dem Jahr 1990 mit einer zweijährigen Frist gekündigt werden. Der Aufenthaltsvertrag gilt nicht für die neuen Bundesländer und Berlin, weil dort nach dem 2+4-Vertrag sowieso keine ausländischen Truppen stationiert werden dürfen.
Derzeitige Lage
Die ausländischen Truppen wurden in den Jahren 1991 bis 2010 nach und nach abgezogen, da Deutschland nicht mehr wie im Kalten Krieg der Frontstaat am Eisernen Vorhang war. Aktuell (2024) sind noch 39.440 amerikanische, 1.500 britische, 597 französische, 584 niederländische, 95 belgische und 158 kanadische Soldaten in Deutschland stationiert, insgesamt 42.374.4
Der größte Teil der amerikanischen Truppen steht in Rheinland-Pfalz (rund 19.000), in Bayern (rund 13.000), in Hessen (rund 3.300) und Baden-Württemberg (rund 3.000).4 Bei den amerikanischen Truppen kommen noch rund 17.000 amerikanische zivile Beamte und Angestellte hinzu. Darunter befindet sich auch eine größere Zahl von Mitarbeitern der amerikanischen Nachrichtendienste.
Die sogenannten Verteidigungsfolgekosten – vor allem die Kosten zur Durchführung von Baumaßnahmen – betrugen im Jahr 2021 94.054.469,95 Euro und im Jahr 2022 100.182.952,58 Euro).4 Diese Zahlungen werden damit begründet, die amerikanischen Truppen seien schließlich auf ausdrücklichen deutschen Wunsch in Deutschland untergebracht.5
Grafik: Rama, US Military Bases in Germany.svg
Was in den einzelnen Standorten stattfindet, und welche strategische Bedeutung sie haben, wird weiter unten erläutert.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17265.htm
2 Text im Bundesgesetzblatt, BGBl. 1955 II S. 253.,
3 Text im Bundesgesetzblatt, BGBl. II 1990, Seite 1390.
4 bundeswehr-journal.de/2023/nato-streitkraefte-in-deutschland-regierung-nennt-zahlen,
dw.com/de/kurz-erklärt-us-soldaten-in-deutschland/a-53828976.
5 spiegel.de/politik/fundamentaler-bruch-a-f2bb4860-0002-0001-0000-000031977101?context=issue.
Nukleare Bedrohung
Lesern, die 1983 mit der Friedensbewegung vor Mutlangen und anderswo gegen die Aufstellung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen demonstriert haben, werden die meisten der in diesem Kapitel erläuterten Begriffe noch geläufig sein. Wer nach 1980 zur Welt kam, hatte dagegen keinen Anlass mehr, sich mit dieser Begriffswelt zu befassen.
Atombombentest Bikini-Atoll 1954, Foto gemeinfrei
Primäre Wirkung: Druck, Hitze, Strahlung
Nuklearwaffen lösen durch Kernspaltung oder -fusion eine Druckwelle, eine Hitzewelle und eine Strahlungswelle aus. Alle drei Wirkungsformen sind für Menschen in einem bestimmten Umkreis tödlich, Druck und Hitze wirken auf Gebäude und sonstige Sachen zerstörend.
Der Explosionsdruck der Sprengköpfe ist unterschiedlich. Ausgedrückt wird sie in Kilotonnen und Megatonnen, wobei 1 Kilotonne der Sprengkraft von 1000 Tonnen des konventionellen Sprengstoffs TNT entspricht, 1 Megatonne der Sprengkraft von 1 Million Tonnen TNT.
Die tödliche Strahlungskraft ist von der Sprengkraft abhängig und sowohl von der Intensität der Strahlung her als auch im Hinblick auf den Wirkungskreis von Bedeutung. Innerhalb der ersten Stunde ist die Strahlungskraft am höchsten. Nach 7 Stunden verringert sie sich auf ein Zehntel der ursprünglichen Intensität, nach 7×7 Stunden (etwa 2 Tagen) auf ein Hundertstel und nach 7 x 7 x 7 Stunden (etwa 2 Wochen) auf ein Tausendstel (sogenannte Siebener-Regel). Die von der Strahlung für Menschen ausgehende Gefahr ist bei einer 20-Kilotonnen-Waffe nach 2 Wochen vorüber, während sie bei einer Waffe im Megatonnen-Bereich deutlich länger andauert. Die drei Auswirkungen können schematisch ungefähr so dargestellt werden:
Detonationswert1 | Optimale
Detonationshöhe |
Völlige Zerstörung von
Gebäuden* |
Hautverbrennungen
3. Grades* |
Kernstrahlung*
(Sofortstrahlung) |
1 Kilotonne | 200 Meter | 500 Meter | 500 Meter | 1.000 Meter |
20 Kilotonnen | 500 Meter | 1.500 Meter | 2.000 Meter | 2.000 Meter |
1 Megatonne | 2.000 Meter | 5.000 Meter | 10.000 Meter | 3.000 Meter |
20 Megatonnen | 5.000 Meter | 15.000 Meter | 40.000 Meter | 5.000 Meter |
* im Umkreis um den Detonationspunkt.
Die 1945 auf Hiroshima abgeworfene Bombe hatte einen Detonationswert von 13 Kilotonnen, die auf Nagasaki 21 Kilotonnen. Nach heutigen Maßstäben waren diese beiden Bomben klein.
Sekundäre Wirkung: Elektromagnetischer Impuls
Neben der Spreng-, Hitze- und Strahlungswirkung erzeugt die Detonation einer Kernwaffe zugleich einen elektromagnetischen Impuls (EMP – electromagnetic pulse), der elektronische Geräte stört, beschädigt oder gar zerstört. In der Folge dieser Feststellung wurden Kernwaffen nur noch unterirdisch getestet. Bei dem Versuch Starfish Prime, eine 1,4 Megatonnen-Bombe in 400 Kilometern Höhe über den Sand Islands zu zünden, fiel im 1.450 Kilometer entfernten Hawaii das Telefonnetz und die Straßenbeleuchtung aus, und sieben Satelliten wurden zerstört.2
Für die heutige digitalisierte Welt gilt der Einsatz von Kernwaffen vor allem in dieser Hinsicht als Risiko. Die 2015 aufgelöste Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung beim Bundesinnenministerium fasste 2011 den EMP als katastrophales Bedrohungspotential auf: Der EMP kann alle elektronisch gestützten Maschinen vom Flugzeug bis zum Herzschrittmacher stören oder zerstören, er gefährdet die zentralen Systeme von Rundfunk, Rettungswesen, Krankenhäusern, Energieversorgung und Bahntransport – mit entsprechender Gefahr für das Warnwesen, die Patientenversorgung und Evakuierungen.3
Völkerrechtliche Unterscheidung nach Trägersystemen
Der Bombenabwurf von Flugzeugen unmittelbar über dem Ziel ist bis heute eher die Ausnahme geworden, nachdem sich bereits um 1950 die Ansicht durchgesetzt hatte, dass sich Raketen wesentlich besser als Kernwaffenträger eignen. Aufgrund internationaler Verträge wird unterschieden zwischen
- Kurzstreckenraketen mit Reichweiten bis zu 500 Kilometern,
- Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern und
- Interkontinentalraketen mit Reichweiten ab 5.500 Kilometern.
Völkerrechtliche Unterscheidung nach Aufgaben
Nach den Aufgaben wird zwischen taktischen und strategischen Raketen unterschieden:
- Die Kurz- und Mittelstreckenraketen gelten als taktische Raketen, da sie gegen militärische Ziele gedacht sind. Deshalb können sie meist je nach Auftrag wahlweise nuklear oder konventionell bestückt werden. Ihre nuklearen Sprengköpfe haben Detonationswerte zwischen 0,5 und 50 Kilotonnen. Kurzstreckenraketen dienen der Bekämpfung militärischer Ziele auf und unmittelbar hinter dem Gefechtsfeld, etwa massive Truppenaufmärsche, Befehlsstellen, Feldflugplätze oder logistische Umschlagplätze. Mittelstreckenraketen erreichen Ziele in der Tiefe des gegnerischen Raums, etwa Luftwaffen- oder Marinestützpunkte und sonstige Infrastruktur im Hinterland.
- Interkontinentalraketen gelten als strategische Raketen, da sie nicht nur auf militärische Ziele, sondern die allgemeine Infrastruktur des Gegners gerichtet sind. Sie tragen meist mehrere große Nukleargefechtsköpfe, von denen jeder ein eigenes Ziel ansteuern kann. Große Gefechtsköpfe sind vor allem erforderlich, um die besonders gehärteten unterirdischen Raketensilos zu zerstören, in denen der Gegner seinerseits strategische Raketen vorhält. Darin lag die Hauptursache für die Bemühungen um immer größere Detonationswerte.
Konstruktive Unterscheidungen
Konstruktiv wird zwischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern unterschieden:
Flugbahnphasen ballistischer Raketen am Beispiel PERSHING II, Grafik gemeinfrei
- Ballistische Raketen starten senkrecht und begeben sich auf eine parabelförmige Flugbahn zum Ziel, deren Scheitelpunkt außerhalb der Erdatmosphäre liegt.
Ballistische Raketen sind für Radargeräte ohne weiteres zu erkennen. Da sie jedoch im Zielanflug Hyperschallgeschwindigkeit (> Mach 5) erreichen, die umso höher ist, je größer die Reichweite der Rakete ist, kann eine anfliegende Rakete nur durch einen sie völlig zerstörenden Volltreffer aufgehalten werden (Hit-to-kill-Treffer); eine bloße Berührung wirkt nicht. Dazu müssen Flugabwehrraketen mindestens ebenso schnell sein.Um die Abwehr zu erschweren, können moderne ballistische Raketen in Ausweichbewegungen übergehen (diese Fähigkeit wird als Agilität bezeichnet). Flugabwehrraketen müssen daher in der Lage sein, solchen Ausweichbewegungen zu folgen, somit gleichfalls agil sein.
Als Hyperschallwaffen werden indes nur solche Raketen bezeichnet, die in dieser Flugphase noch gesteuert werden können. Strategische Interkontinentalraketen sind stets ballistische Raketen. Aufgrund ihrer hohen Reichweite erreichen sie so hohe Geschwindigkeiten, dass ein Volltreffer so gut wie unmöglich ist. Sie können nur durch nukleare Explosionen in sehr großen Höhen (außerhalb der Erdatmosphäre) aufgehalten werden. Zur Bekämpfung von strategischen Raketen entwickelten die Vereinigten Staaten das Abwehrsystem SAFEGUARD, die Sowjetunion A-35 (später A-135).
- Um die Entdeckung durch Radargeräte zu erschweren, wurden das Ziel horizontal und in sehr geringer Höhe anfliegende Marschflugkörper entwickelt. Aufgrund des in niedrigen Höhen hohen Luftwiderstands erreichen sie höchstens Schallge-schwindigkeit (rund Mach 1). Eine bloße Berührung genügt, um sie zum Absturz zu bringen.
Amerikanischer Marschflugkörper AGM-129, Bild gemeinfrei
Rüstungsbegrenzungsverträge
Es gab zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten stets Bemühungen, die gegenseitigen Bedrohungspotentiale in bilateralen Verträgen zu begrenzen.
- Die SALT- (Strategic Arms Limitation Treaty) Verträge zur zahlenmäßigen Begrenzung der strategischen Raketen und der Atomsprengköpfe wurden während des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten abgeschlossen. An ihre Stelle traten die START- (Strategic Arms Reduction Treaty) Verträge von 1983 und 1993 mit gleichen Intentionen. Der 2010 abgeschlossene NewSTART-Vertrag wurde 2021 auf fünf Jahre verlängert.4
- 1987 verzichteten beide Seiten im INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) auf sämtliche bodengestützten Mittelstreckenraketen und verschrotteten die vorhandenen Bestände bis 1991 unter gegenseitiger Aufsicht.
2018 wurde der INF-Vertrag von den Vereinigten Staaten gekündigt. Da schiffs- und flugzeug-gestützte Mittelstreckenraketen von diesem Verzicht ausgenommen geblieben waren5, wurden von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion (und bald darauf Russland) Marschflugkörper entwickelt, die von Flugzeugen, Über- und Unterwasserschiffen aus eingesetzt werden können. Vor diesem Hintergrund wirkte der INF-Vertrag eher politisch-symbolisch als effektiv rüstungs-beschränkend. Günstiger war der INF-Vertrag für die Vereinigten Staaten, die als weltweit größte Luft- und Seemacht über genügend maritime und fliegende Waffenträger ver¬fügten, während er für die Landmacht Russland mit Einschränkungen verbunden war. Behalten durften beide Seiten ihre landgestützten Kurzstreckenraketen für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld (Reichweite < 500 Kilometer).
Abrüstung: Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnen den INF-Vertrag, Foto gemeinfrei - Der ABM-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missiles Treaty) untersagte die Aufstellung landesweiter Abwehrsysteme gegen anfliegende strategische Raketen; ausgenommen von diesem Verbot waren lediglich zwei Systeme zum Schutz der jeweiligen Hauptstadt.6 2002 wurde der ABM-Vertrag von den Vereinigten Staaten gekündigt.7 Der Sinn bestand darin, durch einen Verzicht auf Abwehrsysteme das gegenseitigen Risiko zu erhöhen, was auf beiden Seiten die Hemmschwelle für den Einsatz strategischer Nuklearwaffen erhöhen sollte.
Richard Nixon und Leonid Breschnew unterzeichnen den ABM-Vertrag, de.wikipedia.org/wiki/Strategic_Arms_Limitation_Talks#, gemeinfrei
Weltweite Kernwaffenpotentiale
Die genaue Anzahl der heute weltweit vorhandenen nuklearen Gefechtsköpfe ist aufgrund verständlicher Geheimhaltung unklar. Eine Schätzung der Federation of American Scientists8 ermittelte 2008 für
- China etwa 180 Gefechtsköpfe
- Frankreich etwa 300 Gefechtsköpfe,
- Großbritannien etwa 160 Gefechtsköpfe,
- Indien etwa 50 Gefechtsköpfe,
- Israel etwa 80 Gefechtsköpfe,
- Pakistan etwa 60 Gefechtsköpfe,
- Nordkorea weniger als zehn Gefechtsköpfe,
- Russland etwa 4.830 operativ eingesetzte Gefechtsköpfe,
- Vereinigte Staaten etwa 3.750 operativ eingesetzte Gefechtsköpfe.9
Landgestützte Interkontinentalraketen (ICBM)
Landfahrzeuge und unterirdische Silos haben als Plattformen für den Einsatz strategischer Raketen an Bedeutung eingebüßt. Dennoch besitzen die russischen Luft- und Weltraumtruppen an landgestützten Interkontinentalraketensystemen 164 landgestützte Interkontinentalraketen mit 728 Gefechtsköpfen,
- 46 silogestützte P-36M (Transliteration: R-36M, NATO-Bezeichnung SS-18 SATAN) mit jeweils zehn Gefechtsköpfen mit jeweils 800 Kilotonnen Detonationswert,10
- 30 silogestützte Raketen YP-100H (Transliteration: UR-100N, NATO-Bezeichnung SS-19 STILETTO) mit jeweils sechs Gefechtsköpfen mit jeweils 550 Kilotonnen Detonationswert,11
- 10 zehn mobile РС-12М То́поль (Transliteration: RS-12M TOPOL, NATO-Bezeichnung SS-25 SICKLE) mit je einem Gefechtskopf mit 550 Kilotonnen11 sowie
- 78 (18 mobile und 60 silogestützte) PC-12M2 То́поль-M (Transliteration: RS-12M2 TOPOL-M, NATO-Bezeichnung SS-27 SICKLE-B) mit je einem Gefechtskopf mit 550 Kilotonnen (möglicherweise 800 Kilotonnen).11
Die Vereinigten Staaten meldeten 2012 zum Vollzug des NewSTART-Vertrages 449 aktive Startsilos mit 449 Raketen MINUTEMAN.12 Die Raketen lassen sich mit einem Gefechtskopf von 1,2 Megatonnen oder mit bis zu drei Gefechtsköpfen mit jeweils 170, 300, 335 oder 475 Kilotonnen Detonationswert bestücken.13
MINUTEMAN im Startsilo, Foto gemeinfrei
Seegestützte Interkontinentalraketen (SLBM)
Wichtiger wurden große nukleargetriebene Unterwasserschiffe, die immerzu über die Weltmeere reisen, sodass verborgen bleibt, wo sich dieser Teil des Raketenbestands der jeweils anderen Seite gerade aufhält.
- Russland fuhr 2009 auf seinen Unterwasserschiffen 160 Raketen R-29 (Nachfolgemodell PCM-56 Булава, Transliteration: RSM-56 BULAWA) mit zusammen 576 Sprengköpfen.14
Start einer amerikanischen TRIDENT II, Foto gemeinfrei
- Die Vereinigten Staaten verfügten in derselben Zeit über 288 Raketen UGM-133A TRIDENT II mit zusammen 1.152 Sprengköpfen.14 Diese Schätzung ist möglicherweise zu korrigieren: Die 14 Unterwasserschiffe der Ohio-Klasse können jeweils 24 Raketen (somit insgesamt 336) mit jeweils acht Sprengköpfen15 (W76 mit 100 Kilotonnen TNT-Äquivalent und W88 mit 375 Kilotonnen TNT-Äquivalent) tragen.
Flugzeuggestützte Nuklearwaffen
Nach wie vor gibt es auch noch flugzeuggestützte Nuklearwaffen. Russland sind nach dem NewSTART-Vertrag 77 Flugzeuge mit 856 Gefechtsköpfen zugestanden, den Vereinigten Staaten 113 Flugzeuge mit 500 Gefechtsköpfen.14 Bei den Waffen handelt es sich zum einen Teil um ungelenkte Bomben zum Abwurf unmittelbar über dem Ziel, teils um flugzeuggestützte Raketen, zum anderen Teil um Marschflugkörper.
Bedrohung für Europa…
Während die Vereinigten Staaten und Russland ihre strategischen Nuklearwaffen nach wie vor aufeinander richten und sorgfältig darauf bedacht sind, auf diesem Gebiet ein Gleichgewicht zu erhalten, ist in einem europäischen Krieg eher mit dem Einsatz russischer Kurz- und Mittelstreckenraketen zu rechnen. An landgestützten Waffensystemen waren durch den INF-Vertrag in Europa über die längste Zeit hinweg nur Kurzstreckenraketen vorhanden. Dies änderte sich durch die amerikanische Kündigung des INF-Vertrags 2019, die sich bedauerlicher Weise nur auf Europa auswirkt (und zwar nachteilig), auf die Vereinigten Staaten praktisch nicht.
durch Kurzstreckenraketen
9K720 Искандер (Transliteration: ISKANDER) ist ein fahrzeuggebundenes Kurzstreckenraketensystem. Die Raketen können je nach Einsatzauftrag mit nuklearen oder konventionellen Sprengköpfen versehen werden. Die Grundversion 9K720 ist eine ballistische Rakete mit einer Reichweite bis 500 Kilometern (ISKANDER-M). Daneben gibt es neuerdings den Marschflugkörper ISKANDER-K, der auch als landgestütztes Waffensystem eingeführt werden soll. Im Dienst befinden sich vierzehn Raketenbrigaden mit jeweils zwölf Abschussfahrzeugen.15
ISKANDER-Raketen, Foto: Boevaya mashina,9T250-1 Iskander-M.JPG
…und durch Mittelstreckenraketen
Beträchtlich ist der russische Bestand nuklear bestückbarer Mittelstreckenraketen, die im Krieg um Syrien eingesetzt wurden und derzeit (2024) auch im Krieg um die Ukraine verwendet werden.
- Von Schiffen aus können Marschflugkörper Калибр (Transliteration: KALIBR) eingesetzt werden, die wahlweise nuklear oder konventionell bestückt werden können und Ziele auf 2.600 Kilometer Entfernung treffen.16 KALIBR hat eine Marschgeschwindigkeit von Mach 0,6, kann aber im Zielanflug auf Mach 2,9 beschleunigen. Die angenommene Existenz einer landgestützten Version wurde von den Vereinigten Staaten als Grund für die Kündigung des INF-Vertrags genannt.17 KALIBR wird seit 2022 im Krieg in Ukraine eingesetzt.
- Für den Einsatz von Mittel- und Langstreckenbombern stehen vermutlich 620 ältere Marschflugkörper X-55 (Transliteration: Ch-55) zur Verfügung, die eine ähnliche Reichweite wie KALIBR haben. Sie werden von Ch-101 abgelöst (mit nuklearem Sprengkopf lautet die Bezeichnung Ch-102). Die tatsächliche Stückzahl wird unterschiedlich eingeschätzt. Volle Schallgeschwindigkeit erreichen sie nicht, doch neben der tiefen Flughöhe erschwert ein Tarnkappendesign ihre rechtzeitige Entdeckung durch Radargeräte. Die Reichweite wird je nach Version mit 3.000 bis 4.000 Kilometern angegeben.18 Durch den Wechsel auf Ch-101/102 steht eine Menge alter Ch-55 zur Verfügung, die im Krieg um die Ukraine derzeit eingesetzt werden.
- Es gibt seit 2018 eine unbekannte Anzahl ballistischer Mittelstreckenraketen Х-47М2 Кинжал (Transliteration: KINSCHAL – Dolch).19 Trägerflugzeuge sind der Bomber Tu-22M3M sowie die taktischen Kampfflugzeuge MiG-31K und (angeblich) Su-34. Der von einem Flugzeug aus für unmöglich erachtete Start einer ballistischen Rakete wird bewerkstelligt, indem das Flugzeug die Rakete in großer Höhe fallen lässt. Nach einigen Sekunden im freien Fall, in denen sich das Flugzeug entfernt, zündet die Rakete und richtet sich dabei senkrecht auf. KINSCHAL kann sowohl konventionell wie nuklear bestückt werden. Die Reichweite wird mit 2.000 Kilometern angegeben, von der NATO aber auf unter 1.000 Kilometer geschätzt. Auch dies genügt, um die mitgeteilte Hyperschallgeschwindigkeit von bis zu Mach 10 zu erreichen, wenngleich diese bezweifelt wird. KINSCHAL kann in Mitteleuropa jedes militärische Ziel erreichen. Die Funktionsfähigkeit wurde im Krieg um die Ukraine unter Beweis gestellt.
KINSHAL-Rakete an MiG-31, Foto: kremlin ru, Moscow Victory Day Parade 66.jpg
- 2021 wurde das Waffensystem 3K22 Циркон (Transliteration: ZIRKON) erfolgreich getestet.20 Es handelt sich um einen Seezielflugkörper, der von Schiffen senkrecht gestartet und den Marschflug in 30.000 Metern Höhe zurücklegt. Im Dezember 2021 flog eine ZIRKON in 4,5 Minuten 450 Kilometer weit bis zum Ziel, was eine Geschwindigkeit von 1.666,7 m/s (6.000 km/h) bzw. Mach 9 errechnen lässt. ZIRKON kann nuklear und konventionell bestückt werden. Serienreife wird ab 2023 angenommen. Allerdings sind diese Raketen nur von großen Fregatten und strategischen U-Booten aus einsetzbar, da sie angeblich elf Meter lang sind, was entsprechend große Abschussanlagen erfordert.§ Im Dezember 2024 überraschte Russland im Krieg in der Ukraine mit einer landgestützten ballistischen Mittelstreckenrakete mit der Bezeichnung Орешник (Transliteration: ORESHNIK – Haselstrauch). Damit gibt es seit der Kündigung des INF-Vertrages 2019 in Europa erstmals wieder eine landgestützte Mittelstreckenrakete. Sie trägt mehrere Sprengköpfe, ist nuklear bestückbar und erreicht bei einer Reichweite von 2.000 bis 5.500 Kilometern zehnfache Schallgeschwindigkeit.21 Innovationen Russland behauptet Neuerungen, die teilweise futuristisch wirken. § Авангард (Transliteration: AWANGARD) ist ein Stratosphären-Gleitflugkörper, der mit einer Interkontinentalrakete in einen niederen Erd-Orbit gebracht wird, um zunächst auf die oberen Atmosphärenschichten abzusinken, auf denen er auf einer wellenförmigen Flugbahn in Richtung Zielgebiet gleitet. 500 Kilometer vor dem Ziel tritt er in die Erdatmosphäre ein und fliegt mit Hyperschallgeschwindigkeit (Mach 14 oder 15) auf das Ziel zu. Abwehrmöglichkeiten gibt es bei diesen Eigenschaften so gut wie keine.22 § 9M730 Буревестник (Transliteration: BUREWESTNIK – Sturmvogel) soll ein strategischer Marschflugkörper sein, der mit Nuklearantrieb fliegt und die Erde mehrfach umrunden kann, aber aufgrund seiner Hyperschallgeschwindigkeit von Radaren kaum erfassbar ist. Die Umsetzbarkeit des Projekts wurde zunächst bezweifelt, scheint aber 2022 in Tests bewiesen worden zu sein.23§ РС-28 Сармат (Transliteration: RS-28 SARMAT, NATO-Bezeichnung SS-X-30 SATAN2) ist eine Neuentwicklung, die 2022 vorgestellt wurde. Angeblich hat sie eine Gesamtmasse von 208 Tonnen, 35 Meter lang sein und eine Reichweite von 18.000 Kilometern besitzen.24 Gegenüber der amerikanischen MINUTEMAN III wäre sie damit ungefähr sechsmal so schwer und doppelt so lang. Dass sie 15 Sprengköpfe befördern könnte, wird als übertrieben angesehen, doch auch die für wahrscheinlich gehaltene Kapazität von 10 Sprengköpfen wäre beachtlich.25 Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit ist derzeit kein Waffensystem der NATO in der Lage, SATAN2 abzufangen.26Bei allen russischen Neuentwicklungen wiegelten die Vereinigten Staaten ab und behaupteten, es handele sich um Übertreibungen im Rahmen eines Propagandakriegs; manches sei sogar allein physikalisch unmöglich.27 Dies galt auch für KINSCHAL, die aber im Krieg in der Ukraine ihre Existenz und ihre Leistungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis stellt.Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 Emil Obermann, Gesellschaft und Verteidigung, 1970, Seiten 136 f.
2 nuclearweaponarchive.org/Usa/Tests/Dominic.html.
3 Vierter Gefahrenbericht, bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/Forschung-und-Medizin/sds-4-vierter-gefahrenbericht-sk.pdf?__blob=publicationFile.
4 Offizieller englischer Text auf 2009-2017.state.gov/documents/organization/140035.pdf.
5 Text archiviert auf 2009-2017.state.gov/t/avc/trty/102360.htm#text.
6 Text auf peterhall.de/treaties/abm/abm1.html.
7 georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2001/12/20011213-2.html.
8 nukestrat.com/nukestatus.htm.
9 Genannt ist die Zahl von 2021, vgl. state.gov/transparency-in-the-u-s-nuclear-weapons-stockpile.
10 The International Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2018, Seite 193.
11 Hans Kristensen und Matt Korda, Nuclear Notebook: How many nuclear weapons does Russia have in 2022?am 23. Februar 2022 auf thebulletin.org.12 Hans Kristensen, New START Treaty Aggregate Numbers of Strategic Offensive Arms Categories of U.S. Data Pertaining to Strategic Offensive Arms as of September 1, 2012 am 30. November 2012 auf fas.org/ssp/nukes/armscontrol/NewSTART_USnumbers090112.pdf.
13 wikipedia.org/wiki/LGM-30_Minuteman.
14 de.wikipedia.org/wiki/Strategic_Arms_Reduction_Treaty#cite_note-rus2000-20.
15 There are many ways to count launchers im Juli 2009 auf russianforces.org,
unverändert laut atomwaffena-z.info/heute/atomwaffenstaaten/usa.html.missilethreat.csis.org/missile/ss-26-2.16 Ducan Lenox: Jane’s Strategic Weapon Systems, Seite 176.
17 Andreas Rüesch, Russlands mysteriöse Lenkwaffe am 9. März 2017 auf nzz.ch.
18 Douglas Barrie, Kh-101 missile test highlights Russian bomber firepower am 8. Februar 2019 auf iiss.org/blogs/military-balance/2019/02/russian-bomber-firepower.
19 Rainer Göpfert: Russlands Streitkräfte testen neue Hyperschallrakete. MiG-31 greift zum „Dolch“.
in: Fliegerrevue Heft 09/2018, Seiten 24 ff.20 spiegel.de/ausland/russland-testet-hyperschall-rakete-erstmals-auf-u-boot-in-der-barentssee.
21 de.wikipedia.org/wiki/Oreschnik_(Rakete).
22 Julia Merlot, „Das Gefühl von Sicherheit durch Abwehrsysteme ist eine Illusion“ am 17. Januar 2020 auf spiegel.de.
23 blick.ch/ausland/nukleare-gefahr-aus-der-luft-das-steckt-hinter-putins-angeblicher-wunderwaffe-html.
24 merkur.de/politik/atomsprengkoepfe-satan-2-atomrakete-sarmat-russland-ukraine-krieg-daten-reichweite-gewicht-zr-92494874.html.
25 n-tv.de/politik/Kreml-stellt-atomwaffenfaehige-Sarmat-Rakete-in-Dienst-article24366525.html.
spiegel.de/wissenschaft/technik/russland-test-von-neuer-interkontinentalwaffe-wie-gefaehrlich-ist-die-sarmat-rakete-a-7efbd67f-b855-4245-ad1c-6e024e0d81ce,26 stern.de/digital/technik/sarmat-rs-28—putin-laesst-die-maechtigste-interkontinentalrakete-der-welt-testen-30519204.html.
27 beispielsweise: handelsblatt.com/politik/international/sarmat-raketen-putin-droht-dem-westen-mit-neuer-atomwaffe-doch-die-usa-winken-ab/28266066.html.
Nukleare Teilhabe
Wie bereits im Teil Machtpolitik zu sehen war, verhält sich die Bundesrepublik Deutschland doppelzüngig: Einerseits ist sie selbst dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, andererseits kann sie sich nicht entschließen, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten. Letzteres erklärt sich damit, die Vereinigten Staaten mit einem eigenen Standpunkt zu brüskieren. Dies ist aber nicht die einzige Widersprüchlichkeit: Während die Bundesrepublik mit dem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag und vor allem in Artikel 3 Absatz 1 des 2+4-Vertrages von 1990 für immer Enthaltsamkeit auf dem Gebiet der Nuklearwaffen gelobt hat, hat sie über den politischen Umweg der nuklearen Teilhabe dennoch Zugriff auf Nuklearwaffen.
Begriff
Bei der nuklearen Teilhabe handelt es sich um ein Konzept innerhalb der NATO, Mitgliedstaaten ohne eigene Kernwaffen in die nukleare Kriegführung einzubeziehen. Dazu gehört, dass diese Staaten in den entsprechenden NATO-Gremien (siehe oben) ein Mitspracherecht haben, bestimmte technische Voraussetzungen für den Einsatz von Atomwaffen erfüllen und auf ihren Staatsgebieten amerikanische Kernwaffen lagern. Im Verteidigungsfall dürfen die Teilhabestaaten die Kernwaffen, die stets im Eigentum der Vereinigten Staaten verbleiben, nur mit amerikanischer Zustimmung einsetzen. Umgekehrt sind sie aber gegenüber den Vereinigten Staaten nicht verpflichtet, diese zum Einsatz zu bringen. Das Konzept der nuklearen Teilhabe beruht auf der Annahme, dass auch Staaten, die wegen ihres Beitritts zum Atomwaffensperrvertrag keine eigenen Nuklearwaffen besitzen dürfen, in den Genuss des atomaren Schirms kommen sollen, da sie sonst politisch erpressbar wären. Beteiligt sind am Konzept der nuklearen Teilhabe Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei. Während des Kalten Kriegs hatten auch noch Griechenland und Kanada an der nuklearen Teilhabe teilgenommen.
Während des Kalten Krieges gab es innerhalb des Warschauer Pakts von 1968 bis 1990 ein vergleichbares Konzept. Sowjetische Nuklearwaffen lagerten in der DDR (in den Sonderwaffenlagern Himmelpfort und Stolzenhain) und wären an die Nationale Volksarmee ausgegeben worden.
Bestand
Im Kalten Krieg hätte die Bundeswehr Kernwaffen beim Heer in Form von Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen LANCE eingesetzt, bei der Luftwaffe in Form von Flugzeugbomben und von bodengestützten Raketen PERSHING I. Heute geht es nur noch um den Einsatz von flugzeuggestützten Bomben B-61, von denen am Fliegerhorst Büchel angeblich zwanzig eingelagert sein sollen. Für den Einsatz wäre das dort stationierte Taktische Luftwaffengeschwader 33 zuständig.
Atombomben B-61, Foto gemeinfreiKritik
Kritiker der nuklearen Teilhabe vertraten 2008 in einem für den Bundestag angefertigten Gutachten die Auffassung, die Weitergabe von amerikanischen Kernwaffen an andere NATO-Staaten im Rahmen der nuklearen Teilhabe verletze den Atomwaffensperrvertrag, dessen Artikel I und II die Weitergabe oder Annahme der unmittelbaren oder mittelbaren Verfügungsgewalt verbieten. Dabei habe vor allem Deutschland sogar im Zwei-plus-Vier-Vertrag den Verzicht auf die Verfügungsgewalt über Kernwaffen zugesichert.1 Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hielt dem 2017 entgegen, mit Verfügungsgewalt sei nur eine alleinige Verfügungsgewalt gemeint, welche die Bundesrepublik Deutschland wegen des Zustimmungsvorbehalts der Vereinigten Staaten aber nicht hätte.2
In den 1980er Jahren vertrat die Friedensbewegung die Ansicht, den Vereinigten Staaten ginge es mit der Stationierung von Atomwaffen in Europa und der nuklearen Teilhabe in Wirklichkeit gar nicht darum, Europa zu schützen. Vielmehr sollte erreicht werden, dass ein Krieg in Europa mit Kernwaffen ausgetragen werden könnte, ohne dass er sich zu einem mit Langstreckenwaffen ausgetragenen Atomkrieg ausweitet, der dann auch den amerikanischen Kontinent erreicht. Gerade der amerikanische Kontinent sollte durch ein billigend in Kauf genommenes Euroshima geschützt werden. Die amerikanischen Beistandsbeteuerungen seien leer, und das Reden von einem atomaren Schutzschirm durch die Vereinigten Staaten sei ein Märchen. Diese Ansicht hält sich bis heute: Was da in Wahrheit über uns hängt, ist ein Damoklesschwert, und der Faden ist wieder dünner geworden. Es wäre verheerend, erneut zu verdrängen, dass der Frieden bereits während des Kalten Krieges unter dem vermeintlichen Schutzschirm an einem hauchdünnen Faden hing. Gleich mehrfach schrammte Europa nur durch reines Glück (und einmal durch die Besonnenheit eines russischen Offiziers) am atomaren Inferno vorbei.3
Bereits 1998 war die Bedeutung amerikanischer Kernwaffen für die Sicherheit des europäischen Teils der NATO in einer Publikation der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Frage gestellt worden: Durch den Rückzug der meisten amerikanischen Atomwaffen hat die erweiterte nukleare Abschreckung der USA in Europa fast virtuellen Charakter bekommen. Wahrscheinlich übertreffen heute das britische und das französische Arsenal im Umfang zum ersten Mal die Zahl der substrategischen Kernwaffen, die Washington der NATO assigniert hat. Die amerikanische Nukleargarantie beschränkt sich weitgehend aufs Deklaratorische.4
Demonstration am Fliegerhorst Büchel 2008, Foto gemeinfrei (de.wikipedia.org/wiki/Kernwaffen_in_Deutschland#)
Öffentliche Meinung
Am 1. und 2. Juli 2020 fragte das Meinungsforschungsinstitut Kantar im Auftrag von Greenpeace 1.008 Personen nach ihrer Meinung zu den in Deutschland stationierten amerikanischen Kernwaffen. Die Umfrage stand im Diskurs über die Ersatzbeschaffung des Kampfflugzeugs TORNADO zum Fortbestand der nuklearen Teilhabe Deutschlands. 83 Prozent sprachen sich für den generellen Abzug der Kernwaffen aus Deutschland aus, dreizehn Prozent befürworteten die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe und vier Prozent waren unentschieden.5 Zu einem etwas anderen Ergebnis war 2019 die Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gekommen, für die mehr als 2.000 Personen befragt wurden. Auch hier war die Nachfolge des Kampfflugzeugs TORNADO der thematische Ausgangspunkt. 61 Prozent der Befragten lehnten den Kauf ab, 18 Prozent befürworten neue kernwaffenfähige Kampfjets, 21 Prozent waren unentschieden. Bei den Wählern aller Bundestagsfraktionen gab es eine Mehrheit gegen die Flugzeuge, am höchsten war die Ablehnung bei Linken und Grünen (jeweils 82 Prozent). Auftraggeber der Umfrage war in diesem Fall die Organisation ICAN.6
Nach einer im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks (NDR) im Juni 2022 von Infratest dimap durchgeführten Umfrage hätte der Krieg um die Ukraine dazu geführt, die öffentliche Meinung grundlegend zu verändern: Eine Mehrheit von 52 Prozent hätte sich für den Verbleib von amerikanischen Kernwaffen in Deutschland ausgesprochen, und zwölf Prozent befürworten sogar ausdrücklich eine Modernisierung und Aufstockung. 39 Prozent verlangten dagegen nach wie vor den Abzug. Neun Prozent seien unentschieden gewesen.7
Seitdem wurden offenbar keine Umfragen mehr durchgeführt. 2024 führte das Meinungsforschungsinstitut Civey für t-online eine thematisch ähnliche Umfrage durch, ob nämlich die Europäische Union eigene Atomwaffen besitzen sollte. 40 Prozent standen dem positiv oder eher positiv gegenüber, 44 Prozent hingegen negativ oder eher negativ. 16 Prozent konnten sich nicht entscheiden.8
Bemerkenswert ist an diesen Umfragen, dass im Großen und Ganzen immer zufällig das herauskommt, was der Auftraggeber beweisen möchte.
Stellungnahme
Mehrere Gründe sprechen gegen eine Fortsetzung der nuklearen Teilhabe, die deshalb auch kein Aspekt ist, in der NATO zu bleiben.
- Der Abwurf ungelenkter Bomben unmittelbar über dem Ziel, wie man sich den Einsatz offenbar vorstellt, ist in Anbetracht der Dichte und der Qualität der russischen Flugabwehr riskant. Es ist nicht ohne weiteres möglich, überhaupt zum Ziel durchzudringen. Die Tarnkappeneigenschaft des nun dafür vorgesehenen amerikanischen Flugzeugmusters F-35A erhöht zwar die Aussichten, sie überwiegen aber keineswegs.
- Abschreckende Wirkung hat die nukleare Teilhabe nicht, im Gegenteil: Durch Kernwaffen auf deutschem Staatsgebiet werden nukleare Angriffe zu deren Ausschaltung geradezu herausgefordert.
- In einem Krieg mit der Atommacht Russland ist Deutschland nicht mehr wie früher der Frontstaat, sondern in erster Linie Polen. Sogar bis Warschau vorgedrungene russische Truppen könnten mit ballistischen ISKANDER-Raketen (Reichweite 500 Kilometer) das deutsche Staatsgebiet noch nicht erreichen: Der östlichste Luftwaffenstützpunkt Laage wäre von dort (573 Kilometer Luftlinie) ebenso wie die Hauptstadt Berlin (516 Kilometer) noch außer Reichweite. Gleiches gilt für Kaliningrad als angenommenen Abschussort (527 Kilometer bis Berlin). Das übrige russische Arsenal besteht aus Marschflugkörpern, die sich abfangen lassen. Nützlicher als eine Vergeltungswaffe wäre eine Flugabwehr, die Kurz- und Mittelstreckenraketen mit überwiegender Erfolgsaussicht abfangen kann. Es ist sinnvoller, drohende Schäden zu verhindern als eingetretene Schäden zu vergelten.
- Das Gutachten von 2008 wird für richtig gehalten. Auf die in dem späteren Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes vorgenommene Differenzierung kann es nicht ankommen. Die nukleare Teilhabe verstößt eindeutig gegen den Atomwaffensperrvertrag.
Wie alle entwickelten, dicht besiedelten Staaten sollte Deutschland aus eigenem Interesse sogar dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten. Diese politische Initiative wäre bei einer Fortsetzung der nuklearen Teilhabe unglaubwürdig.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 Gutachten Nukleare Teilhabe und Völkerrecht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags WD2–3000–809/08, noch auf bundestag.de/resource/ WD-2-089-08-pdf-data.pdf.
2 Gutachten Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags WD2–3000–013/17, auf bundestag.de/resource/wd-2-013-17-pdf-data.pdf.
3 Karl D. Bredthauer, Atomarer Schutzschirm? Ein Damoklesschwert! in: Blätter, Ausgabe März 2019, Seiten 5 f.
4 Burkard Schmitt, Europäische Integration und Atomwaffen im Januar-Heft 1998 von Internationale Politik und Gesellschaft, nachlesbar auch auf fes.de/ipg/artschmitt.html.
5 friedenskooperative.de/umfrage-atomwaffen-greenpeace.
6 ippnw.de/atomwaffen/atomwaffenpolitik/artikel/de/umfrage-deutsche-gegen-neue-atombom.html.
7 ndr.de/der_ndr/presse/mitteilungen/Erstmals-Mehrheit-fuer-US-Atomwaffen-in-Deutschland-Panorama-Umfrage-belegt-Meinungsumschwung,pressemeldungndr23206.html.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/us-atombomben-in-deutschland-52-
prozent-fuer-verbleib-39-prozent-fuer-abzug.
8 t-online.de/nachrichten/ausland/eu/id_100345654/eu-atombombe-umfrage-so-steht-deutschland-zu-nuklearwaffen-fuer-europa.html.
Krieg in der Ukraine
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der derzeit (Dezember 2024) andauernde Krieg in der Ukraine bereits beendet ist, wenn diese Seite ans Netz geht. Damit sie nicht womöglich von Anfang an veraltet und überholt ist, stellen wir unsere heutige Sichtweise dieser Ereignisse mitsamt einer ausführlichen, von Quellen untersetzten Begründung in der
PDF: Krieg_in_der_Ukraine 1,03 MB, 16 Seiten dar. Zusammengefasst:
- Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist ein von den Vereinigten Staaten gewünschter Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland.
- Dass die Ukraine diesen Krieg auch mit massiven Waffenlieferungen der NATO am Ende nicht gewinnen kann, ist – wahrscheinlich außer dem ukrainischen Staatspräsidenten Selenskyj – insgeheim allgemein bekannt.
- Entgegen der medialen Darstellung ist es kein Kampf David gegen Goliath, sondern infolge der Waffenlieferungen und der finanziellen Unterstützung ist die Ukraine ein dem Angreifer – zumindest vorläufig – durchaus gewachsener Gegner, da sie die sprichwörtliche russische Dampfwalze sonst nicht über drei Jahre hinweg hätte aufhalten können.
- Ziel des Krieges ist die Abnutzung der konventionellen Streitkräfte Russlands, die für einen künftigen Krieg geschwächt aus dem derzeitigen Konflikt hervorgehen sollen.
- Die Schwächung Russlands wird nicht im europäischen Interesse gewünscht, sondern in amerikanischem Interesse: Im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China wiegt das strategische Atomwaffenarsenal Russlands die erhebliche chinesische Unterlegenheit auf diesem Gebiet auf, sodass sich China vor allem auf seine Marinerüstung konzentrieren kann, bei der es zu den Vereinigten Staaten bislang bereits erheblich aufholen konnte. Würde Russland sein atomares strategisches Arsenal aufgeben müssen, müsste China seine Aufholjagd auf den Gebieten der konventionellen Rüstung aufgeben.
Wie alle westlichen Staaten bewegt sich auch die Bundesrepublik mit ihrer Unterstützung der Ukraine auf einer Gratwanderung, ob sie (bereits) als Kriegspartei anzusehen ist oder (noch) nicht. Dabei zieht Russland rote Linien, bei deren Überschreitung es vom Eintritt eines Kriegszustandes ausgehen wird.
Rote Linien
Nach diesseitiger Auffassung wird die Ukraine den Krieg verlieren. Obwohl es an diesem Ergebnis nichts ändern kann, greift die Ukraine mit ihr von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten überlassenen Marschflugkörpern und Raketen das russische Hinterland an und zerstört dort Fluglätze, Munitions- und Treibstofflager sowie andere militärische Ziele, etwa, wie bereits mehrfach geschehen, Radarstationen der russischen Frühwarneinrichtungen.1 Diese Radarstationen spielen für den Verlauf des aktuellen Krieges keine Rolle, sondern sind für einen interkontinentalen Atomkrieg mit den Vereinigten Staaten gedacht.2
Der Einsatz dieser Raketen gegen das russische Staatsgebiet hängt von der Zustimmung der sie überlassenden Staaten ab. Nach russischer Auffassung bedeutete die Erteilung der Zustimmung, dass diese Staaten selbst in den Krieg mit Russland eintreten und stellt somit eine rote Linie dar.3 Dabei ist zwar richtig, wie der deutsche Verteidigungsminister meint, dass die Raketenangriffe auf russisches Gebiet vom Kriegsvölkerrecht gedeckt sind,4 doch verdeckt dies den Blick auf das, was eigentlich mit Zustimmung gemeint ist: Der Einsatz dieser Waffen lässt sie sich nur mit direkter Hilfe der NATO-Staaten umsetzen, etwa durch eine Zielaufklärung, für die der Ukraine die technischen Mittel fehlen.5 Daher müssten die NATO-Staaten zwangsläufig an der Vorbereitung solcher Angriffe aktiv mitwirken. In dieser Mitwirkung wiederum darf Russland durchaus eine direkte Beteiligung an Kriegshandlungen sehen. Auch diese rote Linie wurde zwar überschritten, doch blieb dies bislang ohne Folgen.
Quellen und weitere Nachweise (letzter Abruf 16. September 2024):
1 zeit.de/politik/ausland/2024-09/boris-pistorius-weitreichende-waffen-ukraine-drohung-wladimir-putin.
2 April 2024: fr.de/politik/ukraine-krieg-zerstoert-100-millionen-dollar-equipment-radar-system-news-verlust-putin-russland-93016026.html,
Juni 2024: merkur.de/politik/militaer-einheiten-video-ukraine-krieg-russland-luftangriff-zerstoerung-radarsystem-zr-93110748.html,
Juni 2024: zdf.de/nachrichten/politik/ausland/weltraum-infrastruktur-krim-militaeranalyse-ukraine-krieg-russland-102.html
August 2024: merkur.de/politik/niederlage-fuer-russland-ukraine-zerstoert-seltenes-radarsystem-und-moerser-93244989.html.
3 n-tv.de/politik/Scholz-will-notfalls-im-Alleingang-beim-Nein-bleiben-article25227676.html.
4 tagesspiegel.de/politik/volkerrecht-lasst-das-zu-pistorius-halt-einsatz-weitreichender-waffen-durch-die-ukraine-gegen-russland-fur-legitim-12366818.html.
5 Sogar: spiegel.de/ausland/russland-ukraine-krieg-wladimir-putin-nennt-waffenfreigabe-des-westens-kriegsbeteiligung-a-bfc4f061-2336-45e8-b882-45224ab4a906.
Einseitiges deutsches Risiko
Im Kalten Krieg gab es die Vorstellung, die sowjetischen Streitkräfte würden den Frontstaat Bundesrepublik überfallen und schon in wenigen Tagen das deutsche Staatsgebiet bis zum Rhein durchstoßen. Dies war auch einer der – zumindest vor der bundesdeutschen Bevölkerung kommunizierten – Gründe, die Goldreserven nicht bei der Bundesbank in Frankfurt, sondern in Paris, in London und vor allem in New York einzulagern. Diese Vorstellung von der russischen Dampfwalze existierte bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine weiter, und sie wird von Politikern und Medien weiterhin am Leben erhalten, um bei ihren Lesern Angst zu schüren, welchen europäischen Staat Putin als Nächsten überfällt, wahrscheinlich die baltischen Staaten,6 und mancher Politiker raunt, dass Deutschland bereits in Russlands Fokus sei.7
Unmöglichkeit des konventionellen Kriegs
Würde Russland in einen Krieg mit den europäischen NATO-Staaten verwickelt, hätte es dabei exakt dasselbe Problem wie heute die Ukraine, nur in wesentlich größerer Dimension: Allein die Staaten der Europäischen Union verfügen zusammen über
- das 3,5-fache der russischen Menschenreserven und
- das 9-fache an Wirtschaftskraft.
Einen konventionellen Krieg mit den europäischen NATO-Staaten kann Russland daher in der Rolle des Angreifers unmöglich wagen und in der Rolle des Verteidigers nicht auf Dauer durchhalten. Die Unmöglichkeit eines konventionellen Kriegs mit dem Rest Europas ergibt sich auch aus der zahlenmäßigen Unterlegenheit Russlands auf dem Gebiet der Luft- und Seestreitkräfte, die allein im Vergleich zu den Streitkräften der Staaten der Europäischen Union – somit sogar ohne Großbritannien – so drastisch ausfällt, dass eine russische Aggression völlig undenkbar ist.
Zwang zur nuklearen Verteidigung
In jedem Krieg muss aber eine Entscheidung fallen, und es liegt im Interesse aller Beteiligten, dass dies so früh wie möglich geschieht. Russland wird daher in einem Krieg mit den europäischen Staaten darauf angewiesen sein, die Entscheidung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen herbeizuführen, indem es die zentralen Führungsstrukturen der NATO zerschlägt und die Heranführung amerikanischer Unterstützung zu unterbinden.
Die maßgeblichen Ziele liegen jedoch – bis auf eines in Belgien – allesamt in Deutschland:
- Das einzige Ziel außerhalb des deutschen Staatsgebiets ist das SHAPE (Supreme Headquarters Allied Powers Europe). Es liegt in der Nähe der belgischen Stadt Mons.8 Auf demselben Gelände befindet sich auch der Sitz der NATO Communications and Informations System Group.
- In der niederländischen Stadt Brunssum befindet sich das frühere AFCENT (heute: Allied Joint Force Command), das für die Landkriegsführung in Nord- und Mitteleuropa zuständig ist.9 Im Kriegsfall bezieht dieser Stab jedoch den 28 Meter tiefen Bunker CASTLE GATE in Glimbach im nordrhein-westfälischen Landkreis Düren, der damit ein fast zwangsläufiges Ziel wird.10
Bunker CASTLE GATE, Foto: bodoklecksel, Glimbach Bunker.jpg
- Die Luftstreitkräfteführung der NATO, das Allied Air Command, hat seinen Sitz in Ramstein in Rheinland-Pfalz. Ramstein liegt zwischen Kaiserslautern und Landstuhl. Die dortige amerikanische Luftwaffenbasis ist der Drehpunkt des amerikanischen Flugverkehrs zwischen den Vereinigten Staaten, Europa, Afrika und Asien. Es ist auch die Schnittstelle der amerikanischen Drohneneinsätze in diesen drei Kontinenten.11
Ramstein Air Base, Foto: Beowulf Tomek, Ramstein Air Base jpg.
- Die Operationsführung der NATO-Luftstreitkräfte für Nord- und Mitteleuropa erfolgt durch das Combined Air Operations Centre, welches dauerhaft in einer Bunkeranlage auf dem Paulsberg in Uedem im nordrhein-westfälischen Landkreis Kleve untergebracht ist.12,13
- Die Luftaufklärungsflotte des Airborne Early Warning and Control System (AWACS) der NATO ist auf dem Fliegerhorst Geilenkirchen im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsdorf stationiert.14
NATO-Basis Geilenkirchen, Foto gemeinfrei
- Neu dazugekommen ist zu den Führungseinrichtungen der NATO die Dienststelle des Commander Task Force Baltic im Dienstgebäude des Marinekommandos in Rostock. Russland verweist auf das im 2-plus-4-Vertrag enthaltene Verbot, im Gebiet der früheren DDR ausländische Truppen zu stationieren.15 Die Bundesregierung vertritt dagegen die Auffassung, die Teilnahme ausländischer Kräfte an einem internationalen Stab sei keine dauerhafte Stationierung. Spätestens die Unterbringung der Dienststelle Commander Task Force Baltic macht Rostock zum wahrscheinlichen Ziel russischer Raketen.
Neben den bis hier genannten fünf Zielen wird Russland die amerikanischen Luft- und Landstreitkräfte für die Kriegführung in Nord- und Mitteleuropa auszuschalten versuchen, die durchweg in Deutschland (und sonst in keinem anderen Land nördlich der Alpen) stationiert sind. Dabei sind folgende Standorte von maßgeblicher Bedeutung:
- In der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden liegt das Hauptquartier der amerikanischen Landstreitkräfte in Europa (USAREUR),16 ebenso die deutsche Niederlassung des amerikanischen Nachrichtendiensts NSA.17
Clay Barracks in Wiesbaden, Foto: Google Earth
- In Stuttgart und Böblingen befinden sich die Oberkommandos der amerikanischen Truppen für Europa (EUCOM) und Afrika (AFRICOM)18 sowie die Führung der amerikanischen Spezialkräfte für Einsätzen auf diesen Kontinenten.19
- Grafenwöhr im Nordosten Bayerns ist die größte amerikanische Militärbasis außerhalb der Vereinigten Staaten. Es ist ein Truppenübungsplatz, auf dem Brigaden der US Army abwechselnd den Krieg unter europäischen Verhältnissen üben und dazu über einen eigenen Flugplatz eingeflogen werden.20 Darüber hinaus sind dort Truppen stationiert, die bis auf die erforderlichen Hubschrauberkräfte eine ganze amerikanische Division vervollständigen können.
- In den bayrischen Standorten Ansbach und Illesheim befinden sich die dazu erforderlichen Heeresfliegerkräfte.21
- Vilseck liegt unmittelbar neben Grafenwöhr und beherbergt dauerhaft eine vollständige amerikanische Brigade.22
- Spangdahlem ist der einzige Stützpunkt der US Air Force in Deutschland, auf welchem fliegende Kampfverbände stationiert sind, vor allem Erdkampfflugzeuge und Flugzeuge für die elektronische Kampfführung. Letztere sind zur Bekämpfung der russischen Flugabwehr von Bedeutung.23
- Ebenfalls in Rheinland-Pfalz liegt der Fliegerhorst Büchel mit dem Taktischen Luftwaffengeschwader 33 der Bundeswehr. Dieser Verband soll im Rahmen der nuklearen Teilhabe amerikanische Atombomben einsetzen, die deshalb auf diesem Standort gelagert werden.24
Fliegerhorst Büchel, Foto: Stahlkocher, Büchel Fliegerhorst.jpg
Keine Abwehrmöglichkeiten
Setzt Russland zur Bekämpfung der 13 oben genannten Ziele Interkontinentalraketen ein – fünf R-28 SATMAR würden bereits genügen, um die erforderlichen 13 Sprengköpfe heranzuführen – wäre eine Abwehr ausgeschlossen. Interkontinentalraketen werden zu schnell, um abgefangen zu werden.25 Das von der Bundeswehr im Zuge der Zeitenwende beschaffte israelische Raketenabwehrsystem ARROW-3 ist nur zur Abwehr von Raketen mit einer Reichweite von etwa 2.000 km ausgelegt. Allein aufgrund ihrer größeren Reichweite erreichen Interkontinentalraketen dagegen so hohe Geschwindigkeiten, dass sie von ihm nicht abgefangen werden können. In der Kategorie der Interkontinentalraketen ist die R-28 SATMAR die Leistungsfähigste. Sie wird hier lediglich beispielhaft erwähnt.
Keine Revanche
Einen nuklearen Gegenschlag braucht Russland nicht zu fürchten. Die zur NATO gehörenden Atommächte Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten sind durch Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, wie zu sehen war, keineswegs verpflichtet, einen nuklearen Gegenschlag durchzuführen. Sie werden dies vernünftigerweise auch nicht tun, denn damit bleibt der Schaden auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt. Mit einem nuklearen Gegenschlag würden sie sich dagegen selbst in die Gefahr des Untergangs bringen, die mit einem Nuklearkrieg stets verbunden ist. Sogar die Vereinigten Staaten würden auf einen nuklearen Angriff auf ihre in Deutschland stationierten Truppen wahrscheinlich nicht mit einem nuklearen Gegenschlag antworten, denn die für ihr eigenes Staatsgebiet einhergehende Gefahr eines über die Kontinente hinweg geführten, unbegrenzten Atomkriegs ist zu groß, als dass sie diese Art einer Revanche für angemessen halten könnten.
Einseitige Risikoverteilung
Von dem belgischen Standort Mons abgesehen gibt es in den an Deutschland angrenzenden NATO-Staaten keine Ziele, die getroffen werden müssten, um die militärische Organisationsstruktur der NATO in Mitteleuropa zu zerschlagen, und nur dieser geografische Bereich zwischen Ostsee und Alpen wäre für eine militärische Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland von Bedeutung, der Süden Europas dagegen ebenso wenig wie das leere Skandinavien im Norden. Deutschland ist in Mitteleuropa das organisatorische und logistische Zentrum und damit die Drehscheibe der NATO. Dies wird von der Bundesregierung übrigens nicht anders beurteilt.26 Damit trägt Deutschland das gesamte Risiko einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland allein. Dies ist nachteilig:
- Da Russland, wie zu sehen war, zu schwach ist, um einen konventionellen Krieg gegen die NATO-Staaten zu führen und – vor allem – durchzuhalten, käme es rasch in eine Situation, in der es sich nur noch mit dem Einsatz von Nuklearwaffen helfen kann.
- Die anderen NATO-Partner werden dagegen in einem Krieg mit Russland umso unbekümmerter agieren, denn sie handeln auf deutsches, nicht auf eigenes Risiko. Als ausgewogen kann diese Risikoverteilung nicht bezeichnet werden.
Zusätzliche Risikoerhöhung
Am 10. Juli 2024 gaben die Bundesregierung und die Regierung der Vereinigten Staaten folgende gemeinsame Erklärung ab:27 Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren. Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen. Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.
Damit ermöglicht die Bundesrepublik den amerikanischen Streitkräften, bis tief in das russische Hinterland hinein Ziele zu treffen, wenngleich nach derzeitigem Stand mit konventionellen Sprengköpfen, nicht mit nuklearen. Unklar bleibt, warum die Stationierung dieser Raketen ausgerechnet in Deutschland erfolgt. Immerhin hat die NATO in Europa noch weitere 29 Mitgliedsstaaten, wogegen Deutschland jetzt schon sämtliche Risiken trägt. Diese vergrößern sich natürlich, wenn sich Deutschland nun zusätzlich auch noch als Basis für die neuen amerikanischen Raketen zur Verfügung stellt.
Grafik: NZZ, joe., cia
Kritik gegen die Entscheidung des Bundeskanzlers gab es sogar aus der eigenen Partei. Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der SPD, Rolf Mützenich, wandte gegen die geplante Raketenstationierung ein: Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verbessern, aber wir dürfen die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden. … Die Raketen haben eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue technologische Fähigkeiten. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich. Die NATO verfügt nach Mützenichs Auffassung auch ohne die neuen amerikanischen Raketen über eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit. Mir erschließt sich auch nicht, warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll. Unter Lastenteilung habe ich bisher etwas anderes verstanden.28 Mit dem zuletzt zitierten Satz ist alles gesagt.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Abruf 19. September 2024):
6 nzz.ch/international/europa-und-die-russische-bedrohung-was-hat-putin-als-naechstes-vor-ld.1828729,
zdf.de/nachrichten/politik/ausland/russland-angriff-baltikum-nato-verteidigung-suwalki-100.html,
merkur.de/politik/putin-nato-russland-krieg-plan-kaliningrad-ostsee-baltikum-baltops-zr-93060627.html.
7 merkur.de/politik/krieg-kiesewetter-sabotage-deutschland-bundeswehr-russland-ukraine-zr-93287014.html.
8 shape.nato.int.
9 jfcbs.nato.int.
10 kuladig.de/Objektansicht/KLD-276729.
11 ramstein.af.mil.
12 ac.nato.int/about/caoc/uedem
13 ace-high-journal.eu/bunker–udo—-uedem.html.
14 awacs.nato.int.
15 rnd.de/politik/kein-nato-hauptquartier-in-rostock-was-ist-das-ctf-baltic-und-verstoesst-es-gegen-den-2-4-vertrag-3A3PHAZOGBBOFFKCTLHDQO5AV4.html.
16 home.army.mil/wiesbaden.
17 spiegel.de/politik/deutschland/nsa-nutzt-neues-abhoerzentrum-in-wiesbaden-a-911811.html.
18 eucom.mil,
africom.mil.
19 stripes.com/theaters/europe/2024-09-18/special-operations-command-europe-nato-15220494.html.
20 home.army.mil/bavaria/application/files/6016/1228/0299/USAG_Bv_Fact_Sheet_v1Feb21_GERMAN.pdf.
21 br.de/nachrichten/bayern/rund-90-us-helis-ueber-ansbach-und-illesheim,QYTS19q.
22 2cr.army.mil/About-Us/Mission.
23 spangdahlem.af.mil/Units.
24 sueddeutsche.de/politik/atomwaffen-deutschland-debatte-1.6360223?reduced=true.
25 focus.de/politik/ausland/routine-oder-drohgebaerde-russland-testet-satan-2-rakete-koennte-zehn-staedte-auf-einmal-
vernichten_id_87326870.html.
26 bundeswehr.de/de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/territoriales-fuehrungskommando-der-bundeswehr
/auftrag-territoriales-fuehrungskommandos/deutschland-drehscheibe-der-nato.
27 bundesregierung.de/resource/blob/975226/2298418/3505cf65bba4144bfb2c076c953b2d05/2024-07-10-gemeinsame-erklaerung-usa-ger-nato-gipfel-data.pdf?download=1.
28 zdf.de/nachrichten/politik/ausland/deutschland-usa-raketen-russland-muetzenich-spd-100.html.
Fazit: NATO-Austritt
Wie bis zu dieser Stelle zu sehen war, ist die NATO ein schillerndes Gebilde, an dem schon auf den zweiten Blick nichts so ist, wie es allgemein dargestellt wird. Dass dieser zweite Blick selten riskiert wird, entspringt einer weitverbreiteten Neigung zum Selbstbetrug, um den Dingen nicht ins Auge sehen zu müssen.
Das Narrativ von der Wertegemeinschaft
Die NATO wirbt um die Zustimmung der öffentlichen Meinung, indem sie von sich behauptet, sie sei eine Wertegemeinschaft. Es gab bislang keine Bundesregierung, die dieser Behauptung nicht ausdrücklich zugestimmt hätte. Dies ist seltsam: Der in der Bundesrepublik Deutschland geltende Wertekanon baut auf der ethischen Grundentscheidung in Artikel 1 Satz 1 des Grundgesetzes auf: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dies sieht ausgerechnet die Führungsmacht dieser Wertegemeinschaft offenbar aber ganz anders, wie zu sehen war.
Das Narrativ von den drei Musketieren
Die Selbstdarstellung der NATO, bei ihr ginge es zu wie bei Alexandre Dumas‘ Drei Musketieren: Das beharrlich gepredigte Alle für einen, einer für alle erweist sich bei sorgfältiger Lektüre des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags als schlicht unzutreffend, denn im Bündnisfall darf jedes Mitglied machen, was es in der konkreten Situation für das Beste hält. Kein Mitglied hat nach dem Nordatlantikvertrag einen rechtlichen Anspruch auf militärischen Beistand, auch wenn es sich – wie die Bundesrepublik Deutschland – bis zum Eintritt des Bündnisfalls noch so loyal verhalten hat. Unter der polnischen Bevölkerung hat sich dies aber ebenso wenig herumgesprochen.
Das Narrativ von der garantierten Sicherheit
Es bedarf keines juristischen Scharfsinns, um aus dem Nichtbestehen eines Anspruchs auf militärischen Beistand die nächste Schlussfolgerung zu ziehen: Die von den meisten im Bundestag vertretenen Parteien in roboterhafter Unermüdlichkeit aufgestellte Behauptung, nur in der NATO gäbe es äußere Sicherheit, ist nicht wahr. Dies widerlegt der Wortlaut des Artikels 5: Im Zweifel steht jedes NATO-Mitglied allein da, selbst dann, wenn der Bündnisfall einstimmig festgestellt ist.
Alle Risiken aus dem NATO-Bündnis trägt in Europa ausschließlich ein einziges Land und seine Bewohner: Die Bundesrepublik Deutschland.
Kein anderer europäischer NATO-Staat teilt mit ihr die Risiken, denn alle Risikofaktoren, die NATO-Strukturen, sind in Deutschland konzentriert. Diese Risiken sind groß und werden im sehr wahrscheinlichen Fall eines nuklear ausgetragenen Konflikts mit Russland zur Zerstörung großer Teile des deutschen Staatsgebiets führen, vor allem in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, in Nordbayern, in Südhessen und neuerdings sogar in Mecklenburg-Vorpommern.
Durch die Entscheidung des Bundeskanzlers Scholz, ab 2026 auch noch amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland aufstellen zu lassen, wird dieses Risiko zusätzlich erhöht. Dies ist das genaue Gegenteil von Sicherheitsgarantie und das Gegenteil einer fairen Lastenverteilung unter den NATO-Partnern.
Das Narrativ vom atomaren Schutzschirm
Die Vereinigten Staaten können mit der weichen Formulierung in Artikels 5 des Nordatlantikvertrags hervorragend leben. Das stets wiederholte Versprechen, im Falle eines Nuklearkriegs in Europa dem Aggressor mit allen Mitteln des amerikanischen Nuklearwaffenarsenals entgegenzutreten, ist leer. Wie das der Sowjetunion 1990 gegebene oder niemals gegebene Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, ist auch der sogenannte nukleare Schutzschirm nirgends ausdrücklich oder gar schriftlich vereinbart. Deshalb gilt nicht mehr als Artikel 5, wonach jedes NATO-Mitglied auch im Bündnisfall stets das tun und lassen darf, was es für richtig hält, und aus Sicht der Vereinigten Staaten kann es unmöglich richtig sein, die Existenz des eigenen Landes wegen irgendwelcher Ereignisse in Europa aufs Spiel zu setzen.
Die Alternative: NATO-Austritt
Entgegen aller Narrative erhöht ein NATO-Austritt die Risiken für die äußere Sicherheit Deutschlands keineswegs, im Gegenteil: Durch einen NATO-Austritt entledigt sich Deutschland aller Risiken, die es im Rahmen seiner NATO-Mitgliedschaft freiwillig und sehr einseitig eingegangen ist. Selbst wenn die mit dem Krieg in der Ukraine entstandene Eskalationsgefahr durch einen Friedensschluss abgewendet wird, bleibt das Risiko für Deutschland erhalten, denn die latente Kriegsgefahr besteht weiterhin: Ihrem Ziel, Russland so zu schwächen, dass es seine strategische Atomrüstung aufgeben müsste, sind die Vereinigten Staaten nicht nähergekommen. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, wann ihr nächster Versuch stattfindet. Eine Prognose könnte lauten: Zwischen 2028 und 2030. Bis dahin soll die Bundeswehr nämlich kriegstüchtig sein.