Noch nie ist ein Mitgliedstaat aus der NATO ausgetreten. Ein Austritt Deutschlands wäre allein deshalb eine Sensation. Wie im vorausgegangenen Teil zu sehen war, wäre ein deutscher Austritt auch für das Bündnis mit weitreichenden Folgen verbunden. Daher kommt man nicht umhin, sich zuvor mit den Großmächten und mit den Staaten der unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen, aus welchen Beweggründen sie welche Politik verfolgen und in welche Interessen ein derartiger Schritt eingreift. Im (allerdings sehr pauschalen Vorgriff) lässt sich sagen:
- Nach wie vor gibt es in einigen europäischen Staaten eine vor allem im 2. Weltkrieg entstandene Angst vor Deutschland, die zu heute noch bestehenden Allianzen führte. Sie spielen zwar längst im tagespolitischen Diskurs keine Rolle mehr, doch verschwunden sind sie nicht.
- Verschwunden ist zwar der ideologische Gegensatz zwischen Kommunismus und Marktwirtschaft, der den Kalten Krieg bestimmt hatte. Dafür haben sich neue Ideologien entwickelt. Sie sind zwar als solche wenig sichtbar, doch auch an ihnen wird unnachgiebig festgehalten, und auch zu ihrer Eindämmung haben sich neue Allianzen gebildet.
In jedem Kapitel werden einige Eigenarten der besprochenen Staaten erörtert, deren strategische Bedeutung gleich im ersten Kapitel Kriterien erläutert werden. Im letzten Kapitel erörtern wir unter denselben Parametern die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. Das Ergebnis fällt erstaunlich aus: Eine langfristige Streitkräfteplanung ist nur möglich, wenn die Bundeswehr in personeller Hinsicht weiter verkleinert wird. Wie sich dies auf das Vorhaben eines NATO-Austritts auswirkt, wird aber erst im nächsten Teil besprochen.
Inhaltsverzeichnis
- Kriterien
- Vereinigte Staaten
- Ideologie: Neokonservativismus
- Wolfowitz-Doktrin
- Die Vordenker
- Die Politik der Macht
- Zustimmung und Ablehnung
- Arme und Reiche
- Neokonservativismus: Ideologie der Reichen
- Soziale Bedeutung der Streitkräfte
- Wirtschaftliche Bedeutung der Rüstung
- Staatsverschuldung
- Störfaktor Trump
- Organisation der Streitkräfte
- Rolle der Nachrichtendienste
- Russland
- China
- Indien
- BRICS-Staaten
- Frankreich
- Großbritannien
- Polen
- Tschechien
- Benelux-Union
- Neutrale Nachbarn
- Partnership for Peace
- Dänemark
- Skandinavien
- OSZE
- PESCO
- Idee einer Europaarmee
- Baltische Staaten
- Deutschland
Kriterien
Die Anforderungen an die Verteidigungsorganisation von Staaten, steigen mit der Größe ihres Staatsgebiets und der Länge ihrer Landgrenzen: Je größer das Staatsgebiet und je länger seine Landgrenzen, umso größere Streitkräfte sind erforderlich. Russland als weltweit flächengrößter Staat sieht sich dementsprechend vor die größten Herausforderungen gestellt. Eine Ausnahme gilt für Inselstaaten: So ist beispielsweise Australien so weit abgelegen, dass es für jeden Angreifer als unerreichbar gilt.
Die Fähigkeit von Staaten, ihre Verteidigung zu organisieren, hängt wiederum von drei Faktoren ab:
- Bevölkerungszahl: Die Größe der Bevölkerung entscheidet über die Möglichkeiten, überhaupt militärisches Personal zu rekrutieren. Etliche Staaten haben diese Möglichkeit gar nicht, beispielsweise Island.
- Fertilität: Die Größe der Bevölkerung kann jedoch nur eine Momentaufnahme sein: Je höher die Geburtenrate ist, umso zuverlässiger sind die langfristigen Rekrutierungsmöglichkeiten.1 Eine Fertilitätsrate von 2,1 Kindern je Frau ist erforderlich, wenn die Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren gleich groß bleiben soll. Sinkt sie auf den Wert 1,1 ab, halbiert sich die Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren, bei 1,55 nimmt sie dementsprechend im gleichen Zeitraum um ein Viertel ab. Wird der Wert von 2,1 jedoch sehr deutlich überstiegen, steigt damit das Risiko einer Expansion mit militärischen Mitteln. In den westlichen Staaten (außer Israel) liegt die Fertilitätsrate deutlich unter 2,1. Unterschritten wurde dieser Wert in diesem Teil der Erde ab 1970: Durch die gesellschaftlichen Veränderungen dieser Jahre etablierte sich die Antibabypille. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sank die Geburtenrate erst ab 1991: Ab diesem Jahr erlebten sie einen weltweit einmaligen wirtschaftlichen Niedergang.
- Bruttoinlandsprodukt (BIP): Das BIP entscheidet über die Fähigkeit eines Staates, sich mit modernen Waffensystemen auszustatten. Die Größe der Verteidigungsausgaben wird meist in prozentualen Anteilen am BIP ausgedrückt.2 Daraus kann aber lediglich der Schluss gezogen werden, welche Bedeutung der jeweilige Staat subjektiv seiner Verteidigungsfähigkeit beimisst und lässt ahnen, wo die Grenzen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten gezogen sind (5 Prozent gelten weltweit bereits als gewagt hoch). Maßgeblich für die tatsächlichen Verteidigungsanstrengungen sind die absoluten Zahlen. Das Bruttoinlandsprodukt indiziert jedoch zugleich den technologischen Stand eines Staates, denn wirtschaftliche Zuwächse setzen stets technische Innovationskraft und industriell-technische Möglichkeiten zur Umsetzung voraus. Je höher das Bruttoinlandsprodukt ausfällt, desto mehr ist auch von einer modernen Infrastruktur in einem Staat auszugehen.
In der Gesamtschau muss ein Staat mit rückläufiger Bevölkerung bei seiner Verteidigungsplanung versuchen, die sich verkleinernden personellen Ressourcen durch technologischen Fortschritt in Gestalt immer weiter reichender und immer präziserer Waffensysteme mit immer höherem Automatisierungsgrad auszugleichen. Künstliche Intelligenz sowie unbemannte Flug- und Fahrzeuge, bei deren Entwicklung auf die menschliche Konstitution keine Rücksicht mehr genommen werden muss, werden die Entwicklung moderner Streitkräfte prägen.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Abruf 2. Januar 2025):
1 Laufende Veröffentlichung: genderdata.worldbank.org/en/indicator/sp-dyn-cbrt-in.
2 welt-in-zahlen.de/laendervergleich.phtml?indicator=140.
Vereinigte Staaten
Der ehemalige amerikanische Präsident Jimmy Carter führte 2019 vor der Gemeinde der Maranatha Baptist Church seiner Heimatstadt Plains in Georgia aus, die Vereinigten Staaten seien das kriegerischste Land der Welt, das nur sechzehn von seinen 242 Jahren Geschichte als Nation in Frieden mit anderen Ländern verbracht hätte.1 Vier dieser sechzehn Jahre entfielen auf seine eigene Präsidentschaft von 1977 bis 1980. Während in den Vereinigten Staaten selbst die Überzeugung überwiegt, die amerikanischen Kriege würden fast immer nur für edle Zwecke und zur Verteidigung der Freiheit geführt, nimmt die weltweite öffentliche Meinung die Vereinigten Staaten als die größte Bedrohung für den Weltfrieden wahr.2 Diese Einschätzung teilt auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung.3 Sie drängt sich auf: Die Vereinigten Staaten sind seit 1949 in Dutzende Länder eingedrungen oder haben sie bombardiert, sie haben fast jede rechtsgerichtete Diktatur der Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützt, unliebsame Regierungen dagegen gestürzt oder versucht zu stürzen, Volksbefreiungsbewegungen unterdrückt und sich auch in eine Vielzahl von Wahlen eingemischt, und zwar egal, ob es sich um Länder von Verbündeten oder Gegnern handelte.
Ideologie: Neokonservativismus
In den Vereinigten Staaten führte der Zusammenbruch der Sowjetunion ab 1991 zur Ausbreitung der Ideologie des Neokonservativismus. Der Wortbestandteil Konservativismus ist missverständlich. Die Bewahrung bewährter Wertmaßstäbe ist damit nicht gemeint. Sowohl das Verhältnis von Freiheit und Ordnung als auch das Verhältnis von Überlieferung und Fortschritt werden in dieser Weltanschauung anders gewichtet als im europäischen Verständnis. Der Neokonservatismus strebt vordergründig nach aktiver Veränderung und wird deshalb auch New Conservative Revolution genannt.4 Die neokonservative Weltsicht wurde nach 1991 durch das Theorem des politischen Philosophen Francis Fukuyama vom Ende der Geschichte geprägt,5 wonach sich die marktwirtschaftlich ausgerichtete und demokratisch organisierte Gesellschaftsform amerikanischen oder zumindest westlichen Vorbilds weltweit durchgesetzt habe. Dennoch bestünden noch einige Konflikte fort, denen man sich notfalls militärisch stellen müsse.
Francis Fukuyama 2005 jpg, Foto Robert Goddyn CC BY-SA 3.0
Nach der Beseitigung der ideologischen Gegensätze infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion steht nach Ansicht etlicher neokonservativer Denker und Politiker nun noch ein Kampf der Kulturen bevor. Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, etwa Samuel P. Huntington, der 1996 in seiner Arbeit The Clash of Civilizations voraussagte, die Macht des Westens werde sich in diesem Kampf vergeblich abarbeiten und hierdurch verblassen, während nichtwestliche Kulturen dann im Rahmen einer Indigenisierung wiederaufleben würden.
Samuel P. Huntington (2004 World Economic Forum).jpg,
Foto: Peter Lauth, Copyright: WEF
Der größere Teil der Neokonservativen sieht die Vereinigten Staaten jedoch als Schöpferin und Beschützerin einer weltweiten Friedensordnung, einer Art pax americana nach dem historischen Vorbild der pax romana, der Friedensordnung des römischen Imperiums. Hatte die Sowjetunion allein durch ihre Existenz als zweite Supermacht weltweite Alleingänge der Vereinigten Staaten verhindert, war ihnen nun die Rolle der weltweit einzigen Supermacht zugefallen, die ohne Hemmung selbst in den entlegensten Ecken der Welt eingreifen dürfe, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Der überzeugte Neokonservative Charles Krauthammer6 schrieb 1992 in der Washington Post:
Wir verfügen über eine unvorstellbare globale Macht. Wir sind die durch die Geschichte auserkorenen Sachwalter des internationalen Systems. Als die Sowjetunion unterging, wurde etwas Neues geboren, etwas völlig Neues. Namentlich eine unipolar durch eine einzig verbliebene Weltmacht dominierte Welt, unbehelligt durch irgendwelche Rivalen und mit entscheidender Reichweite in jedem Winkel dieser Erde. Dies ist eine atemberaubende Entwicklung in der Menschheitsgeschichte, die es seit dem Fall von Rom so nicht mehr gegeben hat. Selbst Rom dient nicht als Modell dafür, was Amerika heute ist.
Charles Krauthammer 1986 bei Präsident Reagan, Foto gemeinfrei
Wolfowitz-Doktrin
Gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, 1992, hatte der u. a. an der Johns Hopkins Universität lehrende Politologe Paul Wolfowitz die nach ihm benannte Wolfowitz-Doktrin verfasst, die zur Grundlage der zukünftigen Außenpolitik wurde.7 Hiernach ist das primäre Ziel der amerikanischen Außen- und Militärpolitik, das Wiederemporkommen neuer Rivalen – gleich ob auf dem einstigen Territorium der Sowjetunion oder anderswo in der Welt – mit allen Mitteln zu verhindern.
Völlig neu waren diese Vorstellungen nicht. Angelegt worden waren sie bereits 1944 mit der Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (vgl. Machtpolitik, Kapitel Währungspolitik). Die amerikanische Initiative zur Gründung der Vereinten Nationen 1945 verfolgte bereits die Vision der einen Welt, in der alle Völker die amerikanische Führungsrolle akzeptieren.8 1947 wurde die CIA aufgestellt. Ihre Aufgabe besteht letztlich darin, Erkenntnisse über positive oder negative Einstellungen anderer Staaten zum amerikanischen Führungsanspruch zu gewinnen, Regierungen mit gegenläufigen Vorstellungen zu beseitigen und sie durch positiv eingestellte Regierungen zu ersetzen.9
Paul Wolfowitz, Foto gemeinfrei
Die Vordenker
Der prägende Vordenker des Neokonservativismus war der 1939 aus der Tschechoslowakei geflohene Diplomat Josef Körbel, der später an der University of Denver Politik lehrte.10 Er ist der Vater der späteren Außenministerin Madeleine Albright und war der Lehrer und Mentor der Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice in der Regierung George W. Bush.
Madeleine Albright, Foto gemeinfrei
Josef Körbel, Foto gemeinfrei
Condoleeza Rice, Foto gemeinfrei
Neokonservative finden sich hiernach in beiden Parteien des amerikanischen Politiksystems. Die Rolle der Vereinigten Staaten als weltweite einzige Führungsmacht formulierte Zbigniew Brzeziński fünf Jahre später (1997) in seinem Buch Die einzige Weltmacht ausdrücklich.11 Praktisch hatte er bereits als Berater der amerikanischen Präsidenten Johnson und Carter Gelegenheit, sie umzusetzen.
Zbigniew Brzeziński, Foto gemeinfrei
Die Politik der Macht
Ein weiterer Vordenker des Neokonservativismus ist der Historiker Robert Kagan. In seinem Buch Macht und Ohnmacht von 2003 bezeichnet er Europa als posthistorisches Paradies, das wohlhabend geworden sei und Macht bewusst begrenze, insbesondere militärische Macht.12 Die Vereinigten Staaten dagegen sähen sich realistischer in einer Welt eines bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle), denn allein militärische Macht sei in der Lage, für Sicherheit, Freiheit und Wohlstand zu sorgen. Europas posthistorisches Paradies sei nur möglich, weil die Vereinigten Staaten nicht denselben pazifistischen, an militärischer Macht desinteressierten Weg gegangen seien und Europa militärischen Schutz geboten hätten. In Die Demokratie und ihre Feinde stellte er 2008 fest, dass die Welt im Begriff sei, sich in Demokratien nach amerikanischem Vorbild und Autokratien aufzuteilen. Diese Autokratien hätten die Vereinigten Staaten und Europa schleunigst zu bekämpfen, wenn sie an ihren Idealen festhalten wollten.
Robert Kagan Foto Mariusz Kubik 01.jpg, CC BY 3.0
Ähnlich ist die Weltsicht Samuel P. Huntingtons (siehe oben):14 Die westliche Zivilisation habe zu lange die Auffassung vertreten, die ökonomische Modernisierung führe gleichzeitig zum Durchbruch westlicher Werte. Dies habe sich als falsch erwiesen. Statt einer Politik der Menschenrechte fordert Huntington eine von den Vereinigten Staaten angeführte Politik der Macht.
Zustimmung und Ablehnung
Seit 2007 findet in den Vereinigten Staaten die Umfrage statt: Befürworten Sie eine globale Führungsrolle der USA oder befürworten Sie diese nicht? Sie bringt sehr unterschiedliche Ergebnisse hervor:15
2007 während der Präsidentschaft George W. Bush lehnten 37 Prozent die amerikanische Führungsrolle ab, 34 befürworteten sie. Während der Regierungszeit Barack Obamas drehte sich das Meinungsbild um: 45 Prozent stimmten im Durchschnitt dieser Jahre der amerikanischen Führungsrolle zu, 23 Prozent lehnten sie ab. In der Regierungszeit Donald Trumps wandelte sich das Meinungsbild erneut: Im Durchschnitt dieser vier Jahre überwog die Ablehnung mit 53,5 Prozent, die Zustimmungswerte lagen knapp unter 31 Prozent.
Bis hier macht es den Anschein, dass Zustimmung oder Ablehnung offenbar stark von der Person des Amtsinhabers abhängen. Am Anfang der Präsidentschaft Joe Bidens schnellte der Zustimmungswert augenblicklich auf 52 Prozent hoch, während die ablehnenden Stimmen auf 32 Prozent abnahmen. Dann aber nahm in einem einzigen Jahr der zustimmende Anteil auf 36 Prozent ab, während sich der ablehnende Anteil auf 33 Prozent vergrößerte.
Auffällig ist der stets hohe Anteil der Meinungslosen oder Unentschlossenen, der bei einer derart grundsätzlichen Frage erstaunt. Auch an diesem Anteil liegt es, dass eine absolute Mehrheit zu einer der beiden Positionen selten zustande kam. Die Befürworter lagen nur in den Jahren 2009 und 2021 über 50 Prozent, die Ablehnenden in den Jahren 2017, 2018, 2019 und 2020. In zehn von sechzehn untersuchten Jahren erreichte keine der gegensätzlichen Positionen einen Wert von 50 Prozent. Eine relative Mehrheit erreichten die Befürworter in elf Jahren, die Ablehnenden in fünf. Der Spitzenwert der Befürworter lag 2009 bei 53 Prozent, der Spitzenwert der Ablehnenden lag 2017 bei 58 Prozent.
Arme und Reiche
Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten ist mit etwa 330 Millionen Einwohnern viermal so groß wie die Deutschlands mit rund 83 Millionen.16 Ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist mit 14.500 Milliarden Dollar fünfmal größer als das deutsche, das 2019 bei 2.900 Milliarden Dollar lag.16 Pro Kopf beträgt es in den Vereinigten Staaten über 45.000 Dollar, in Deutschland 36.600.16 Vom 2019 ermittelten Weltvermögen von 360.603 Milliarden Dollar entfallen 105.990 Milliarden auf die Vereinigten Staaten, beachtliche 29,4 Prozent, obwohl ihre Einwohnerzahl nur 4,7 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht.17
Dies bedeutet nicht, dass eine Mehrzahl der amerikanischen Privathaushalte über eine wesentlich höhere Kaufkraft verfügen würde als die deutschen. Das Geldvermögen beträgt bei 62 Prozent aller Bürger der Vereinigten Staaten weniger als 1.000 Dollar (rund 800 Euro), 21 Prozent haben nicht einmal ein Bankkonto.18 Ein einziges Prozent der Bevölkerung besitzt dagegen 42 Prozent des gesamten amerikanischen Vermögens.19
Reichtum: The One Bel Air House by Wallace Lin.jpg, Wallace Lin CC BY-SA 4.0
Der wirtschaftliche Vorsprung einer kleinen Gesellschaftsschicht erklärt sich vor allem durch Unternehmensgewinne: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion öffneten sich die meisten ehemals kommunistischen Staaten der Marktwirtschaft. Da sie selbst keine auf dem Weltmarkt gefragten Produkte herstellten, mussten sie ihre Bevölkerung für ausländische Investoren zu sehr billigen Löhnen arbeiten lassen. Vor allem die amerikanische Industrie griff bei diesem Angebot zu und verlagerte einen beträchtlichen Teil ihrer Produktionsstätten in diese Länder, vor allem nach Asien und Lateinamerika. Amerikanische Industriearbeiter verloren dagegen ihre Arbeitsplätze und mussten, falls ihnen dies überhaupt gelang, im wesentlich schlechter bezahlten Dienstleistungssektor Arbeit finden. Sogar in der in den Vereinigten Staaten verbliebenen Industrie sanken die Reallöhne. Bei abhängig beschäftigen Amerikanern, der Mehrheit der Bevölkerung, sanken die Einkommen. Beim wesentlich kleineren Teil, der sein Einkommen aus Unternehmensgewinnen bezieht, stiegen sie dagegen überproportional.
Armut: Downtown Los Angeles 6th Street skid row, Foto: Russ Allison Loar, Quelle CC-BY-SA 4.0
Dies ging nicht ohne soziale Spannungen vor sich. Allein die Kriminalität stieg beträchtlich an und wurde zu einem Problem, das der amerikanische Staat mit drakonischen Strafen zu beherrschen versucht. Auf 1.000 Einwohner kommen in den Vereinigten Staaten 6,66 Strafgefangene (in Deutschland sind es nur 0,77). Damit sind die Vereinigten Staaten weltweit das Land mit den meisten Gefängnisinsassen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl.20
Neokonservativismus: Ideologie der Reichen
Aus diesen Zahlen erklärt sich, warum der Neokonservativismus vor allem in der amerikanischen Elite verbreitet ist. Das reichste Prozent der amerikanischen Bevölkerung besitzt 12,3 Prozent des gesamten auf der Erde vorhandenen Vermögens, und dieser Vermögensanteil nimmt jährlich um 4,2 Prozent zu.19 Diesen Vorteil kann diese kleine Gruppe nur erhalten und vergrößern, wenn sie weiterhin weltweit Macht ausübt, und für Macht sorgen Streitkräfte. Diesen kommt auch im Gefüge der amerikanischen Wirtschaft erhebliche Bedeutung zu.
Soziale Bedeutung der Streitkräfte
Seit 1973 sind die amerikanischen Streitkräfte eine Berufsarmee. Sie beschäftigen rund 1,43 Millionen Soldaten und 0,75 Millionen Zivilisten. Diese 2,2 Millionen Stellen sind für sich genommen bereits ein beträchtlicher Anteil an der 151 Millionen umfassenden amerikanischen Erwerbsbevölkerung (rechnerisch 1,5 Prozent).21 Da Soldaten typischerweise jünger sind als der Durchschnitt der Erwerbsbevölkerung, wird ihr Anteil im jüngeren Viertel der Erwerbsbevölkerung bei etwa 3,5 Prozent liegen. Da die Streitkräfte überdurchschnittlich bezahlen, gute Versorgungsleistungen und Bildung bieten, sind sie ein gefragter Arbeitgeber.
Wirtschaftliche Bedeutung der Rüstung
Ähnlich wichtig für die Beschäftigung in den Vereinigten Staaten und damit für den sozialen Frieden ist die Rüstungsindustrie. Sie eignet sich auch am wenigsten zur Verlagerung in ausländische Produktionsstätten. Die hundert größten Rüstungsunternehmen der Welt erwirtschafteten 2017 vierhundert Milliarden Dollar Umsatz. 57 Prozent entfallen davon auf amerikanische Unternehmen.22 Damit wird weit mehr als die Hälfte aller weltweit hergestellten Rüstungsgüter in den Vereinigten Staaten produziert. Die amerikanische Wirtschaft hängt daher zu einem verhältnismäßig großen Teil von der Rüstungsindustrie ab, die zugleich ein wichtiger Arbeitgeber ist. Die jährliche Erhöhung des amerikanischen Verteidigungsbudgets dient vor allem der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen.
Jobs, jobs, jobs twitterte Präsident Trump 2017, nachdem er mit Saudi-Arabien mehrere Abkommen über Waffenlieferungen im Wert von rund 350 Milliarden Dollar unterzeichnet hatte.23 Im Juni 2017 verkaufte Trump dem Emirat Katar F-15-Kampfjets für zwölf Milliarden Dollar. Der katarische Botschafter in den USA twitterte, dies schaffe 60.000 neue Jobs in 42 Bundesstaaten der USA.
Die amerikanische Lösung sozialer Konflikte ist demnach völlig anders organisiert als etwa in Deutschland: In Deutschland werden Unternehmensgewinne besteuert, um Sozialausgaben zu decken. In den Vereinigten Staaten werden Unternehmensgewinne durch staatliche Investitionen gefördert, um Sozialausgaben zu vermeiden. Diese politische Idee lässt sich mit keiner anderen Branche ähnlich gut umsetzen wie mit der Rüstungsindustrie, denn Rüstungsgüter zu beschaffen ist allein Aufgabe des Staates. Die NATO ist dabei ein sorgfältig organisierter Absatzmarkt für amerikanische Rüstungsprodukte, auf dem sich die Nachfrage leicht steuern lässt: Je aggressiver sich die amerikanische Politik gebärdet, desto riskanter wird es für die europäischen NATO-Staaten, mit den Vereinigten Staaten im Bunde zu stehen. Je mehr dieses Risiko zunimmt, desto mehr Waffen müssen sie kaufen.
Staatsverschuldung
Die 4,21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die die Vereinigten Staaten 2019 für ihre Streitkräfte ausgaben,25 sind in erster Linie eine indirekte Subvention der eigenen Wirtschaft. Von den 2.698 Milliarden Dollar Staatsausgaben des Jahres 2019 entfielen 567,8 auf das Militär (rund 21 Prozent).26 Da im gleichen Zeitraum die Staatseinnahmen nur 2.424 Milliarden Dollar betrugen, musste die Differenz von 274 Milliarden Dollar durch die Aufnahme von Schulden aufgebracht werden. Nach dieser Rechnung sind 48 Prozent der amerikanischen Militärausgaben geliehenes Geld. Da dies schon über viele Jahre so praktiziert wird, ist die amerikanische Staatsverschuldung mittlerweile bei 8.803,4 Milliarden Dollar angekommen.27 Dies sind rund 65 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts oder sämtliche Einnahmen, die der amerikanische Staat in 3,7 Jahren erzielt.
Würden die Vereinigten Staaten abrüsten und ihre Kriege beenden, würde es für die amerikanische Rüstungsindustrie schwierig: Sie müsste massenhaft Arbeitnehmer entlassen, die dann zusammen mit nicht mehr benötigten Soldaten den Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt empfindlich erhöhen würden. Bei den besitzenden Schichten würden in einem solchen Szenario Gewinne wegfallen, und sie müssten zugleich deutlich höhere Steuern bezahlen. Einen Präsidentschaftskandidaten, der mit einem solchen Programm antritt, würden sie zu verhindern trachten. Dies gelingt dieser Elite, da ihnen nicht zufällig auch die meinungsbildenden Medien gehören.
Störfaktor Trump
Missglückt ist dies im Falle Donald Trumps, der auch noch die Idee vertrat, die Vereinigten Staaten aus der NATO austreten zu lassen. Vor ihm war noch kein amerikanischer Präsident auf diesen Einfall gekommen, der aus Sicht der amerikanischen Elite schierer Irrsinn ist, weil er die machtpolitische und wirtschaftspolitische Bedeutung der NATO völlig verkennt. Deshalb ist fraglich, ob er überhaupt ernst gemeint war. Rückblickend meinen einige Stimmen, dass Trump dies in einer weiteren Amtszeit wohl vorgehabt hätte.28
Präsident Trump 2017
Victoria Nuland 2021
Barack Obama 2012
Er zeigte allerdings, wie fremd Trump dem neokonservativen Establishment gegenübersteht. Die neokonservativen Verbindungen innerhalb der amerikanischen Elite sind keineswegs nur auf abstrakte Interessen ausgerichtet, sondern sogar durchaus persönlicher Art. Der oben erwähnte neokonservative Vordenker Robert Kagan ist beispielsweise mit Victoria Nuland verheiratet,29 die 2014 – als Staatssekretärin unter dem Friedensnobelpreisträger Barack Obama – den Regime Change in der Ukraine leitete.
Der Neokonservativismus ist von den Vereinigten Staaten längst auf andere Länder übergesprungen. Madeleine Albright übertrug ihn auf den deutschen Außenminister Joschka Fischer, der sich daraufhin gegenüber seiner Partei, Bündnis 90/Die Grünen, dafür einsetzte, ihre pazifistische Grundhaltung sowie die im Parteiprogramm enthaltene Forderung nach einem deutschen NATO-Austritt aufzugeben. Auch in der CDU hat der Neokonservativismus Anhänger. Zu ihnen gehört vor allem Angela Merkel, die sich 2003 ausdrücklich für eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ausgesprochen hatte und später als Bundeskanzlerin die Bemühungen um einen Regime Change in der Ukraine, in Syrien und Venezuela unterstützte. In der Welt des Neokonservativismus würde eine von CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen gebildete Bundesregierung als ideal empfunden.
Machtpolitische Rolle der Streitkräfte
Die amerikanischen Streitkräfte sind nicht zur Landesverteidigung da. Ihre Bestimmung ist ausschließlich die Fortsetzung der amerikanischen Politik mit anderen Mitteln in allen Teilen der Welt. Dazu sind sie in sechs Regionalkommandos eingeteilt, die sich aus allen Teilstreitkräften zusammensetzen:
- für Nordamerika – USNORTHCOM
- für Südamerika – USSOUTHCOM
- für Europa – USEUCOM
- für Afrika – USAFRICOM
- für den Nahen und Mittleren Osten – USCENTCOM
- für Australien und den Pazifik
Dies für sich genommen zeigt, dass die Vereinigten Staaten die ganze Welt als ihr militärisches Tätigkeitsfeld betrachten. Die Kommandeure der Regionalkommandos können über den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen selbst entscheiden. Dem Präsidenten ist lediglich die Entscheidung über den Einsatz der strategischen Interkontinentalraketen vorbehalten.
Grafik: Lencer – CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2774853
Der Vereinigte Generalstab der amerikanischen Streitkräfte veröffentlichte am 11. Juni 2019 kurzzeitig eine neue Ausgabe der offiziellen Doktrin über den Einsatz von Atomwaffen (Joint Publication 3-72). Allerdings wurde sie schnell wieder gelöscht und ist nun nur noch zugangsbeschränkt verfügbar. Darin wird der nukleare Erstschlag nahegelegt. Neu und überraschend war dies jedoch nicht, da schon früher von Erwägungen einer Erstschlag-Doktrin berichtet wurde.31
Organisation der Streitkräfte
Es gibt vier Teilstreitkräfte:
- Die US Army sind Landstreitkräfte. Sie beschäftigen 522.000 Soldaten. Ihre Hauptwaffensysteme sind rund 2.600 Kampfpanzer, 4.900 Schützenpanzer, 2.700 Transportpanzer, 600 Panzerhaubitzen 400 Mehrfachraketenwerfer und 700 Kampfhubschrauber. Diese Angaben zu den Hauptwaffensystemen beruhen auf dem Jane’s Report 2018.32
- Die US Air Force sind Luftstreitkräfte. Sie beschäftigen 331.000 Soldaten. Ihre Hauptwaffensysteme sind 3.000 Mehrzweckkampfflugzeuge. Zur US Air Force gehören auch die mehreren hundert nuklearen Interkontinentalraketen, die sich vornehmlich gegen Russland und China richten und von der Anzahl der Trägersysteme und Sprengköpfe ungefähr dem russischen Bestand entsprechen.33
- Die US Navy sind die weltweit – mit einigem Abstand größten – Seestreitkräfte. Sie beschäftigt 339.000 Soldaten. Sie verfügt über 11 Flugzeugträger, 22 Kreuzer, 70 Zerstörer, 19 Küstenkampfschiffe, 9 amphibische Angriffsschiffe und 70 U-Boote verschiedener Größen und für verschiedene Einsatzformen. Von ihren Flugzeugträgern aus kann sie 776 Mehrzweckkampfflugzeuge einsetzen.34
- Das US Marine Corps sind Expeditionsstreitkräfte.35 Es beschäftigt 186.000 Soldaten in eigenen Land- und Luftstreitkräften.
Die Luft- und Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten verfügen über mehr Waffensysteme als die übrigen Staaten der Erde zusammen. Ihre ungeheuren Kosten (2022 betrug das amerikanische Militärbudget 768,2 Milliarden Dollar) sind der Preis für die von Kagan und Huntington geforderte Politik der Macht.36
Rolle der Nachrichtendienste
Der größte Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten überhaupt ist die National Security Agency. Sie betreibt weltweite Telekommunikationsüberwachung. Allerdings sind die amerikanischen Geheimdienste keineswegs nur Informationsbeschaffer. Dies trifft vor allem auf die CIA (Central Intelligence Agency) zu. Sie wurde nicht zufällig gleichzeitig gegründet, als die Charta der Vereinten Angriffskriege gegen andere Staaten untersagte. Ihre vordringliche Aufgabe ist die verdeckte Kriegsführung, um die UN-Charta zu unterlaufen und mit Wahlbeeinflussung, Regime Change und den späteren Farbrevolutionen dennoch Einfluss auf andere Staaten auszuüben. Die Liste ihrer Operationen ist lang.
- Der erste Einsatz der CIA, Operation Demagnetize, war ab 1948 eine Geheimoperation in Italien und Frankreich mit dem Ziel, den wachsenden Einfluss der kommunistischen Parteien in beiden Ländern zu reduzieren und deren sich abzeichnende Wahlsiege abzuwenden. Dies erschien vor allem in Italien dringlich, da sich dort 1948 ein Wahlsieg der KPI abzeichnete. Der Name der Operation leitet sich von dem Ziel ab, Italien und Frankreich vom Kommunismus zu entmagnetisieren. Durch die massive finanzielle und logistische Hilfe der CIA erreichte die von ihr favorisierte Democrazia Cristiana eine beherrschende Position in der italienischen Parteienlandschaft, vergleichbar der deutschen CDU, die sie bis 1993 in wechselnden Koalitionen halten konnte.37
- Der erste Regime Change der CIA war Operation Ajax (benannt nach einem Reinigungsmittel), die 1953 im Iran den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mossadegh stürzte, weil dieser von den britischen und amerikanischen Erdölkonzernen einen Anteil an deren Erlösen für den iranischen Staat verlangt hatte. Nachdem dies verweigert worden war, hatte er die Ölindustrie verstaatlicht. Das neu installierte Regime des Schah Reza Pahlewi war zwar nicht demokratisch, sondern – im Gegenteil – sehr autoritär. Es machte aber die Verstaatlichung rückgängig.38
Diese Beispiele sind keine abschließende Aufzählung (die vollständige enthält im Teil Machtpolitik das Kapitel Regime Change). Auf Menschenrechte wurde von der CIA und von den amerikanischen Streitkräften nie geachtet (dazu im Teil NATO, Kapitel Sogenannte Wertegemeinschaft). Folter und Misshandlungen wurden unbekümmert eingesetzt. Die CIA hatte 2013 einen Haushalt von etwa 14,8 Milliarden Dollar und rund 22.000 Mitarbeiter. Aktuelle Zahlen sind nicht bekannt.
Demokratie und Menschenrechte
Die Vereinigten Staaten entsprechen ihrem Selbstbild von der Beschützerin der Menschenrechte, der Demokratie und vor allem des Selbstbestimmungsrechts der Völker in keiner Weise. Die Narrative der Presse und vor allem eine gigantische Filmindustrie sorgen für den irrigen Glauben (nicht nur in der amerikanischen Bevölkerung), die amerikanischen Kriege würden für eine gute Sache geführt. In erster Linie geht es aber um Macht und Einfluss auf die übrige Welt sowie die Erschließung von Ressourcen und Märkten für die amerikanische Wirtschaft. Die Teilhabe des einzelnen amerikanischen Staatsbürgers an der politischen Meinungsbildung und an diesem wirtschaftlichen Erfolg ist jedoch sehr gering.
Geostrategische Lage
Begünstigt wird dieser Irrtum durch die geografische Lage der Vereinigten Staaten, die verhindert, dass sich das fast immerwährende Kriegsgeschehen auf den nordamerikanischen Kontinent übergreift, sodass der amerikanischen Bevölkerung leidvolle Erfahrungen stets erspart geblieben sind. In einem am 4. Februar 2015 in Chicago gehaltenen Vortrag erläuterte der amerikanische Stratege George Friedman:39 Die USA kontrollieren alle Weltmeere. Keine Macht hat das jemals getan. Daher können wir in anderen Ländern einmarschieren, aber sie können nicht bei uns einmarschieren. Das ist eine sehr schöne Sache.
Selbstwahrnehmung
Die meisten Amerikaner bemerken nicht, dass ihre politische Teilhabe gegen null geht. Sie sind von der Gültigkeit der unveräußerlichen Rechte des Menschen auf Freiheit, Unversehrtheit und auf das Streben nach Glück überzeugt, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung niedergelegt sind. Vor allem glauben sie an die Meinungs- und Pressefreiheit und ziehen daraus den Schluss, sie würden objektiv unterrichtet. Daher bleibt ihnen meist verborgen, dass die Kriege von ihren Regierungen entweder provoziert wurden (wie der Mexikanische Krieg von 184640 oder der Krieg gegen Japan 194141) oder die Anlässe inszeniert wurden (wie 1898 die Explosion der USS Maine vor dem Krieg gegen Spanien,42 der Tonkin-Zwischenfall 1964 vor dem Krieg gegen Vietnam43 oder die Brutkastenlüge im Golf-Krieg von 1991.44 In seiner persönlichen Selbstwahrnehmung übersieht auch der eingangs zitierte Jimmy Carter allein die auf ihn zurückgehende Carter-Doktrin, die sein Sicherheitsberater Brzezinski ausgearbeitet hatte: Um unsere Position absolut klarzustellen: Jeder Versuch einer anderen Macht, Kontrolle über den Persischen Golf zu gewinnen, wird von uns als Angriff auf die Lebensinteressen der USA angesehen. Ein solcher Angriff wird mit allen erforderlichen Mitteln, einschließlich militärischer Gewalt, zurückgeschlagen werden. Sehr um Frieden bemüht hört sich das nicht an.
Falsch wäre jedoch der Eindruck, die Amerikaner würden durchweg kritiklos von einem Krieg in den nächsten taumeln. So ist es keineswegs. Es gibt in den Vereinigten Staaten freilich eine Opposition gegen die kontinuierliche Kriegspolitik. Sie wird vor allem von hervorragenden investigativen Journalisten angeführt, die die politischen und militärischen Umtriebe ans Licht bringen. Ohne deren unermüdliche Arbeit wäre über die Doppelnatur der Vereinigten Staaten weit weniger bekannt, auch nicht im Ausland.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 21. Dezember 2024):
1 linkezeitung.de/2019/04/21/jimmy-carter-die-usa-sind-die-kriegerischste-nation-der-weltgeschichte.
2 de.statista.com/infografik/10547/die-groessten-bedrohungen-weltweit.
3 rnd.de/politik/deutsche-sehen-usa-als-grosste-gefahr-fur-den-weltfrieden-V6WOF34MGIKGTOMUSOMV655XLI.html.
4 de.wikipedia.org/wiki/Neokonservatismus#Definition.
5 Text auf wesjones.com/eoh.htm.
6 spiegel.de/kultur/gesellschaft/charles-krauthammer-ist-tot-preisgekroenter-us-publizist-stirbt-mit-68-jahren-a-1214326.html.
7 de.knowledgr.com/01792483/WolfowitzDoktrin.
8 Anonym, 2007, Roosevelts „Eine-Welt-Konzeption“ (1941-1945), München, GRIN Verlag, ISBN 9783640555482 (Seminararbeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg).
9 de.wikipedia.org/wiki/Central_Intelligence_Agency#Kritik_&_Kontroversen.
10 de.wikipedia.org/wiki/Josef_Korbel#Josef_Korbels_Einfluss_auf_die_amerikanische_Außenpolitik.
11 englischer Titel: The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, 1997, neuaufgelegt 2016
12 deutsche Ausgabe ISBN-13: 9783886807949, erschienen bei Siedler Verlag.
13 deutsche Ausgabe ISBN-10 3886808904, erschienen bei Siedler Verlag.
14 deutscher Titel Kampf der Kulturen, ISBN 978-3-442-15190-5, erschienen bei Goldmann Verlag.
15 de.statista.com/statistik/daten/studie/1298039/umfrage/amerika-bewertung-der-globalen-fuehrungsrolle-der-usa.
16 de.wikipedia.org/wiki/Vereinigte_Staaten und de.wikipedia.org/wiki/Deutschland, jeweils abgerufen 2020.
17 credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html für 2019.
18 Gerd Hübner am 14. Oktober 2015 auf finanzen100.de.
19 Rüdiger Bachmann am 28. Januar 2018 auf zeit.de.
20 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Gefängnisinsassen.
21 de.wikipedia.org/wiki/Streitkräfte_der_Vereinigten_Staaten#Rolle_des_Militärs_als_Ausbilder_und_Arbeitgeber.
22 Gerhard Hegmann, Die Übermacht der amerikanischen Rüstungskonzerne am 10. Dezember 2018 auf welt.de.
23 Carlo Portmann, Donald Trump: Jobs, Jobs, Jobs! am 9. März 2017 auf zeit.de.
24 welt.de/wirtschaft/article165555922/USA-liefern-Katar-36-F-15-Kampfflugzeuge.html.
25 de.statista.com/statistik/daten/studie/150664/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-ausgewaehlter-laender.
26 de.statista.com/statistik/daten/studie/200520/umfrage/staatseinnahmen-und-staatsausgaben-in-den-usa.
27 de.statista.com/statistik/daten/studie/165786/umfrage/staatsverschuldung-der-usa-in-relation-zum-bruttoinlandsprodukt-bip.
28 t-online.de/nachrichten/ausland/usa/id_91774330/ex-berater-bolton-trump-waere-wohl-aus-der-nato-ausgetreten.html.
29 de.wikipedia.org/wiki/Victoria_Nuland#Ehe_und_Familie.
30 de.wikipedia.org/wiki/Unified_Combatant_Command#Regionalkommandos.
31 taz.de/Neue-Atomwaffenstrategie-der-USA/!5481981.
32 de.wikipedia.org/wiki/United_States_Army.
33 de.wikipedia.org/wiki/United_States_Air_Force.
34 de.wikipedia.org/wiki/United_States_Navy.
35 de.wikipedia.org/wiki/United_States_Marine_Corps.
36 Alexandra Jaffe, Biden signs $ 768,2 billion defense spending bill into law am 28. Dezember 2021 in The Washington Post.
37 it.wikipedia.org/wiki/Attività_della_CIA_in_Italia#Elezioni_politiche_italiane_del_1948.
38 de.wikipedia.org/wiki/Operation_Ajax.
39 Video des Vortrags auf Youtube.com/watch?v=tsNQN62tyI8.
40 de.wikipedia.org/wiki/Mexikanisch-Amerikanischer_Krieg#Kriegsbeginn.
41 Robert B. Stinnett, Day of Deceit (deutscher Titel: Pearl Harbor. Wie die amerikanische Regierung den Angriff provozierte
und 2476 ihrer Bürger sterben ließ. ISBN 3861506033 bei Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003.
42 de.wikipedia.org/wiki/USS_Maine_(ACR-1)#Geschichte.
43 de.wikipedia.org/wiki/Tonkin-Zwischenfall, sogar deutschlandfunk.de/tonkin-zwischenfall-als-die-usa-in-den-vietnamkrieg-100.html.
44 Martin Löffelholz, Kriegsberichterstattung in der Mediengesellschaft am 5. April 2007 in: Aus Politik und Zeitgeschichte, online
bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30527/kriegsberichterstattung-in-der-mediengesellschaft.
Russland
Russland ist der größte Flächenstaat der Erde und erstreckt sich über einen Teil Europas und einen Teil Asiens.
Entstehung Russlands
Der russische Staat wurde Ende des 9. Jahrhunderts in Kiew gegründet. Im Westen grenzte er an Polen und Litauen, im Osten reichte sein Einfluss damals bis zum nördlichen Verlauf der Wolga und bis zum nördlichen Teil des Don.1 Wie in jener Zeit auch Deutschland war Russland eher ein loser Verbund regionaler Fürstentümer, denn für einen Zentralstaat im heutigen Sinn fehlte die Infrastruktur. Im 13. Jahrhundert kam Russland von Osten unter den Druck des Eroberers Dschingis Khan. Bis in das 15. Jahrhundert hinein waren etliche russische Großfürstentümer dem Reich der Goldenen Horde tributpflichtig.2 Die Hauptstadt Kiew konnte nicht gehalten werden. Die Zaren wichen deshalb nach Moskau aus. Russlands Existenz hing in dieser Zeit an einem seidenen Faden.
Von seinen römisch-katholischen Nachbarn Polen und Litauen durfte das orthodoxe Russland keine Hilfe gegen die asiatischen Aggressoren erwarten, im Gegenteil: Sie nutzten die Bedrängnis Russlands aus, um ihr eigenes Territorium bis kurz vor Smolensk auszudehnen;3 zeitweise (1610) besetzte Polen sogar Moskau.4 Mit Polen bestand daher ein jahrhundertelanges Missverhältnis.
Schließlich ließ der Druck aus Asien nach. Unter Iwan IV. (dem Schrecklichen) holte Russland im 16. Jahrhundert zum Gegenschlag nach Osten aus. 1649 erreichte es auf diesen Eroberungszügen bereits die Pazifikküste, wo es die Stadt Ochotsk gründete, denn der sibirische Raum hatte sich als leer erwiesen.5 Bestärkt durch diese Erfolge gelang es ihm auch, die polnisch-litauischen Eroberungen zurückzuholen.
Wassili Sirikow, Die Eroberung Sibiriens
Zurückgeblieben ist aus den rund sieben Jahrhunderten russischen Bangens um die eigene Existenz eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Asien und ein tiefes Misstrauen gegenüber den westlichen Nachbarn Polen und Litauen. Das aggressive Auftreten Japans (19046 und vor dem Zweiten Weltkrieg7) sowie der Krieg mit Polen 19208 bestätigten Russland in dieser sicherheitspolitischen Sichtweise. Das enge Bündnis Japans mit den Vereinigten Staaten sowie der Beitritt Polens und Litauens zur NATO muss Russland naheliegend als gefährliche Einkreisung ansehen.
Verhältnis zu Deutschland
Auf dem europäischen Parkett trat Russland erst Ende des 17. Jahrhunderts unter Peter dem Großen auf.9 Es wurde vom Rest Europas als rückständiger und befremdlicher Parvenü begrüßt. In der Tat war und blieb Russland anders als die übrigen europäischen Mächte. Es fehlt ihm vor allem die kollektive europäische Erinnerung an das römische Imperium, zumindest das Weströmische Reich, die von der römischen Kirche durch alle Jahrhunderte weitergetragen wurde: Das Heilige Römische Reich Teutscher Nation, die französischen Bestrebungen unter Napoleon und die Idee der Europäischen Union gehen allesamt auf die heimliche Vorstellung zurück, das Weströmische Reich wiedererstehen zu lassen. Russland ist mit dieser Tradition nie in Berührung gekommen. Seine Empathie für die übrigen europäischen Mächte, deren Befindlichkeiten, Vorstellungen und Regeln ist daher nicht ausgeprägt. Allenfalls sieht sich Russland durch die Orthodoxie in der Tradition des Byzantinischen Reiches.
Der einzige europäische Staat, der am Anfang des 18. Jahrhunderts offen auf Russland zuging, war Preußen, das damals unter den europäischen Mächten ebenfalls als Emporkömmling galt. Diese Freundschaft hielt lange. Trotz der Gegnerschaft im Ersten Weltkrieg schien sie, wie der Vertrag von Rapallo10 zeigte, nicht gänzlich erloschen zu sein, und die deutsch-sowjetische Freundschaft während der DDR deutete gleichfalls darauf hin.11 Das sowjetische Angebot von 1952, die Wiedervereinigung eines neutralen Deutschland sofort zuzulassen,12 wurde von Adenauer zwar als Bluff Stalins gedeutet, der den NATO-Beitritt der Bundesrepublik verhindern sollte.13 Unter Historikern, die seit 1990 Zugriff auf sowjetische Dokumente erhielten, ist die Frage jedoch umstritten.14 Nicht von ungefähr formulierte der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, der Sinn der NATO für Europa sei to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down.15 Eine deutsch-sowjetische Freundschaft – nach dieser Idee waren früher in der DDR viele Straßen benannt worden – erschien aus amerikanischer und britischer Sicht nie wünschenswert. Sie galt es zu verhindern.
Zur Verhinderung wurde das Bild von Russland als potentiellem Aggressor wiederbelebt. Dabei zeigt sich historisch: Wenn Russland mit europäischen Mächten in Konflikt geriet, dann nur, um sich gegen deren Angriffe zur Wehr zu setzen. Aus eigenem Antrieb hat Russland nie eine militärische Initiative gegen einen europäischen Staat ergriffen. Dagegen lässt sich freilich die Sezession der Krim vom ukrainischen Staat 2014 anführen.
Russlands Problem: Leeres Land
Die Eroberung Sibiriens wird oft mit den kolonialen Bestrebungen Großbritanniens oder Spaniens gleichgesetzt. Dies trifft allenfalls auf die im 19. Jahrhundert durchgeführte Unterwerfung der Gebiete der heute von Russland wieder unabhängigen Staaten Kasachstan, Usbekistan oder Turkmenistan zu. Im Gegensatz zu Mexiko oder Indien ist das eigentliche Sibirien jedoch ein so gut wie menschenleerer Raum.16 Die Goldene Horde hatte dort angeblich Städte gegründet, doch konnten sich diese offenbar nicht lange halten.2 Archäologen suchen danach.17 Um das riesige Sibirien zu kontrollieren, musste nun Russland dort Städte gründen. Die meisten dieser rund dreißig Stadtgründungen erfolgten im 17. Jahrhundert. Diese Städte sind in erster Linie Verwaltungssitze. In zweiter Linie hat sich dort Industrie angesiedelt, um die Bodenschätze der Umgebung zu verarbeiten. Ihre Einwohnerzahlen liegen jeweils zwischen einer halben Million und einer Million Einwohner. Außerhalb dieser Städte ist der sibirische Raum jedoch menschenleer, sodass diese Städte eine Art Inselcharakter haben.
Das Leben im asiatischen Teil Russlands war und blieb unbeliebt. Bis in das 20. Jahrhundert hinein war es eine Strafe, in eine sibirische Stadt verbannt zu werden.18
So kam es in Russland zu einer eigenartigen Bevölkerungsverteilung: Der asiatische Teil umfasst zwar 75 Prozent des gesamten russischen Staatsgebiets, doch nur 27 Prozent der 145 Millionen Russen leben dort. Dies ergibt eine rechnerische Bevölkerungsdichte von nur 2,9 Menschen je Quadratkilometer.16 Zieht man davon die Einwohner der großen urbanen Verwaltungszentren ab, lässt sich leicht überschlagen, dass auf dem flachen Land so gut wie niemand wohnt. Überhaupt konzentriert sich die Bevölkerung auf einen schmalen Streifen im Süden und Südwesten, wo die Transsibirische Eisenbahn diese Großstädte verbindet und Ackerbau möglich ist.19 Parallel dieser Eisenbahnen gibt es nur eine einzige Fernstraße.20 Die Bevölkerung Sibiriens ist insgesamt rückläufig und mehrheitlich der Ansicht, dass es in Sibirien keine Perspektive gibt. Die Geburtenrate liegt niedrig, und wer kann, zieht weg in den europäischen Teil Russlands.21
Oft wird übersehen, dass Russland zwar im Westen seines Staatsgebiets den europäischen NATO-Staaten gegenübersteht, im Osten aber an militärisch nicht weniger bedeutende Mächte angrenzt. Hier verläuft sogar eine gemeinsame Grenze mit den Vereinigten Staaten, wenngleich eine Seegrenze, auf deren anderer Seite der amerikanische Bundesstaat Alaska liegt.
Russlands Nachbar: Japan
Im Fernen Osten grenzt Sibirien an Japan, das mit 126 Millionen Einwohnern auf 377.000 Quadratkilometern wesentlich dichter bevölkert ist als Deutschland.22 Seit Russlands Niederlage 1905 ist das nachbarliche Verhältnis schwierig.
Japan ist nach den Vereinigten Staaten und neuerdings China die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, besitzt jedoch im Gegensatz zu Russland für seine Industrie und seine Energieversorgung so gut wie keine eigenen Ressourcen. Daraus ergibt sich ein natürliches Spannungsfeld mit Russland, aus dem sich im 20. Jahrhundert bereits Konflikte entwickelt hatten. Japan musste 2017 nur 0,9 % seiner Wirtschaftsleistung aufwenden, um 45,4 Milliarden Dollar für seine Streitkräfte auszugeben und lag damit weltweit auf Platz 8. Damit bezahlt es 247.000 Berufssoldaten.
Die japanischen Landstreitkräfte können rund 900 sehr moderne Kampfpanzer, 280 Geschütze Rohrartillerie und 90 Raketenwerfer einsetzen, die Luftstreitkräfte fast 360 Kampfflugzeuge, und die Seestreitkräfte über 40 Zerstörer und Fregatten sowie 20 konventionelle U-Boote.23 Außerdem sind zahlreiche amerikanische Streitkräfte in Japan fest stationiert, sodass Russland in Japan in jedem Fall einen Gegner sehen muss, der sich mit einem verhältnismäßig kleinen Anteil seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) und somit eher leicht eine beträchtliche militärische Kraft leistet: Um die 61 Milliarden Dollar des russischen Verteidigungshaushalts aufzubringen, mussten vor Beginn des Krieges in der Ukraine 4 Prozent der von den 145 Millionen Russen erwirtschafteten Wirtschaftsleistung ausgegeben werden.24 Das russische BIP macht nämlich nur ein Drittel des japanischen BIP aus.
Russlands Nachbar: Nordkorea
Mit der Atommacht Nordkorea verbindet Russland eine Landgrenze. Diesem Staat kommt es vor allem darauf an, von allen anderen Staaten der Welt unabhängig und wirtschaftlich autark zu sein. Dazu hält es eigene Atomwaffen für erforderlich, deren Funktionstüchtigkeit es bei jeder Gelegenheit dem Rest der Welt vorführt. Von 17 Millionen Nordkoreanern dienen eine Million bei den Streitkräften, deren Ausrüstung insgesamt nicht auf dem neuesten Stand ist. Dennoch stellt allein eine Million Soldaten ein erhebliches militärisches Potential dar. Die Führung des Landes agiert sprunghaft.25 Nachbar Nordkoreas zu sein, ist deshalb riskant, auch wenn das Verhältnis situativ fast freundschaftlich ist.
Putin trifft Kim Jong Un, Foto: kremlin.ru
Russlands Nachbar: China
China und Russland verbindet eine strategische Partnerschaft. Traditionsreich ist diese Freundschaft nicht, im Gegenteil: Im 20. Jahrhundert gab es zwischen beiden Staaten militärische Konflikte. Der weitsichtige amerikanische Politikberater Zbigniew Brzezinski hatte noch in seinem 1997 erschienenen Buch Die einzige Weltmacht das Zustandekommen eines russisch-chinesischen Bündnisses für geradezu unvorstellbar gehalten, diese Verbindung jedoch als einzig mögliches ernsthaftes Hindernis für die amerikanische Weltherrschaft angesehen.26
Putin trifft Xi Jinping, kremlin.ru
Entstanden ist die russisch-chinesische Freundschaft nicht aus gegenseitiger Sympathie, sondern unter dem Druck der Vereinigten Staaten, die ihre weltweite Vormachtstellung von der wirtschaftlichen Expansion Chinas in Frage gestellt sehen. China ist Atommacht. Seine 1,4 Milliarden Einwohner machen ein Fünftel der Weltbevölkerung aus. Seine Wirtschaftsleistung wurde seit 1990 von Jahr zu Jahr größer. Mit diesem Potential muss China von den Vereinigten Staaten zwangsläufig als scharfer Konkurrent angesehen werden.27 Für Russland, dessen nennenswertes Exportgüter Erdöl und Erdgas sind, ist der Energiebedarf der chinesischen Industrie willkommen, erst recht seit es seit 2022 durch amerikanische und europäische Sanktionen von anderen Märkten abgeschnitten ist. China kann umgekehrt auf die auf allen Gebieten sehr fortschrittlichen russischen Rüstungstechnologien zurückgreifen.
Sollte der amerikanisch-chinesische Konflikt militärisch eskalieren, würden Japan auf amerikanischer und Russland auf chinesischer Seite geradezu zwangsläufig hineingezogen. Ohne den Konflikt mit den Vereinigten Staaten wäre China für Russland allerdings gefährlich. Charles de Gaulle hatte sich das Ende Russlands so vorgestellt, dass Millionen Chinesen unaufhaltsam in das menschenleere, aber rohstoffreiche Sibirien eindringen und sich dieses Land nach und nach aneignen, wodurch Russland wieder auf sein europäisches Staatsgebiet zurückgedrängt würde, von dem aus es im 16. Jahrhundert nach Asien aufgebrochen war.
Nachbarn in Zentralasien
Westlich von China, in Zentralasien, liegen die vier ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und Turkmenistan.
Map of Central Asia.svg, Grafik Cacahuate, CC BY 4.0
- Kasachstan, dessen Bevölkerung etwa zur Hälfte aus Russen besteht, scheint Russland zugeneigt zu sein. Es gestattet weiterhin die Unterbringung russischer Truppen und den Betrieb des Weltraumbahnhofs Baikonur.
- Usbekistan schien zunächst der amerikanischen Bündniswerbung erlegen zu sein, denn die Vereinigten Staaten durften dort einen Luftwaffenstützpunkt einrichten, der allerdings 2005 wegen erheblicher Meinungsverschiedenheiten über innere Angelegenheiten Usbekistans wieder geschlossen werden musste.28
- Kirgistan28a und Turkmenistan sind auf gute Beziehungen zu China, zu Russland, zum Nachbarn Iran und vor allem aus ethnischer Verbundenheit zur Türkei bedacht.29 Auch in diesen beiden Staaten gab es Versuche der Vereinigten Staaten, mit Militärstützpunkten Fuß zu fassen.
Den eigentlichen Risikofaktor in Zentralasien stellt der Iran dar, der die Vereinigten Staaten für seinen Todfeind hält, was auf Gegenseitigkeit beruht. Eine militärische Auseinandersetzung der Vereinigten Staaten mit dem Iran gilt als wahrscheinlich.30 Russland kann den Iran unmöglich fallen lassen: Würde der Iran eine militärische Auseinandersetzung verlieren, stünden amerikanische Truppen unmittelbar an seiner asiatischen Südgrenze.
Nachbarn in Vorderasien
Westlich des Kaspischen Meeres, im Kaukasus, wurde Russland seit 1990 in mehrere Konflikte verwickelt.31 In den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien32 und Armenien33 versuchten die Vereinigten Staaten mit Farbenrevolutionen Regierungen an die Macht zu bringen, die diese Länder an das NATO-Bündnis heranführen sollen. Mit Georgien führte Russland 2008 Krieg.31 Die Rolle der Vereinigten Staaten in den beiden Kriegen zur Verhinderung einer Abspaltung der Teilrepublik Tschetschenien aus dem russischen Staatsverband ist unklar. Diesen Krisenherd im Kaukasus und in der Ukraine kann Russland unmöglich aus den Augen lassen, denn auch dort fürchtet es seine Einkreisung.
Eine wichtige Rolle in dieser südlichen Umgebung Russlands spielt der NATO-Staat Türkei, die über die zweitgrößten Streitkräfte innerhalb der NATO verfügt und sich unter ihrem derzeitigen Präsidenten geneigt zeigt, in dieser Region die Führungsrolle zu übernehmen. 2017 war noch eine Annäherung an Russland auszumachen, die in der NATO zu ernsthaften Überlegungen führte, wie es im Fall eines türkischen Ausscheidens aus dem Bündnis weitergehen könnte.34 2019 kam es zwischen der Türkei und Russland zu Kontroversen um Syrien.35
Alles in allem schwankt das russisch-türkische Verhältnis zwischen Freundschaft und Feindseligkeit, und die Einstellungen beider Mächte zueinander wechseln häufig und sprunghaft. Belastet wird es von der Idee des Turanismus, nach der in Erinnerung an ein mystisches Großreich Turan in Zentralasien unter türkischer Führung eine Art Staatenbund aller Turkvölker entstehen soll, zu dem außer der Türkei zumindest Aserbaidschan, Turkmenistan und Kirgistan gehören sollen.36 Dies steht im Gegensatz zu den russischen Interessen, die diese ehemaligen Sowjetrepubliken als ihren Einflussbereich betrachten. Bedroht ist durch die turanische Idee auch der Bestand der früheren Sowjetrepublik Armenien, das bei Russland Schutz sucht, vor allem vor Aserbaidschan.
Streitkräfte
Anfang 2018 sollen 1.013.628 Soldaten im Dienst der russischen Streitkräfte gewesen sein, davon etwa 700.000 Zeit- oder Berufssoldaten und 300.000 Wehrpflichtige.36 Sämtliche erhältlichen Informationen über die russischen Streitkräfte erscheinen nicht zuverlässig, denn sie sind auffallend widersprüchlich.
Jährliche Parade zum Tag des Sieges, 2010 Moscow Victory Day Parade-5.jpeg, kremlin.ru
Russische Streitkräfte sind auch im Ausland stationiert, und zwar in Armenien, Abchasien, Kasachstan, Kirgistan, Moldawien, Südossetien, Tadschikistan, Weißrussland, Syrien und auf der formal zur Ukraine gehörenden Krim. Die meisten dieser Staaten sind ehemalige Sowjetrepubliken, die mit Russland entsprechende Verträge abgeschlossen haben. Völkerrechtlich bedenklich ist die Truppenstationierung in dem ausschließlich von Russland anerkannten Staat Abchasien sowie in Südossetien, deren Gebiete zu Georgien gehören. Ähnlich verhält es sich mit dem Osten Moldawiens (Transnistrien) und der Krim. Außerhalb des postsowjetischen Staatengeflechts unterhält Russland lediglich in Syrien Stützpunkte, ohne die es nach seiner Auffassung seinen politischen Einfluss im Mittelmeerraum verlieren würde.
Russlands Militärdoktrin 12/2014 ist defensiv.37 Es hält den Einsatz seiner Streitkräfte zur Abwehr einer gegen Russland oder seine Verbündeten gerichteten Aggression sowie zur Wiederherstellung des Friedens auf Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für rechtmäßig, ebenso den Einsatz der Streitkräfte für die Gewährleistung des Schutzes russischer Bürger, die sich außerhalb seiner Staatsgrenzen aufhalten, zumindest in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechtes und den internationalen Verträgen Russlands. Dabei soll sich der Streitkräfteeinsatz entschlossen, zielgerichtet und komplex auf der Grundlage der rechtzeitigen und ständigen Analyse der sich entwickelnden militärpolitischen und militärstrategischen Lage vollziehen.
Das militärische und politische Gewicht der russischen Atommacht wird im Teil NATO als Risiko im Kapitel Nukleare Bedrohung beschrieben. Auf die Organisation und die konventionelle Ausrüstung der russischen Streitkräfte gehen die angehängten Anlagen
ausführlich ein, denen hier nur mit einer Bewertung vorgegriffen wird: Russlands konventionelle Streitkräfte reichen nicht aus, um sein riesiges Staatsgebiet zu verteidigen. Einem Angriff auf sein Staatsgebiet wird es deshalb wahrscheinlich frühzeitig mit nuklearen Waffen entgegentreten, worin die einzige Erfolgsaussicht seiner Verteidigung liegen dürfte. Ein Angriff Russlands auf die Staaten der Europäischen Union ist aus gleichem Grund unwahrscheinlich. Dazu ist es zu schwach. Zu diesen Annahmen steht der Krieg in der Ukraine in einem Widerspruch, auch mit der eigenen Militärdoktrin. Erörtert und aufgelöst wird dieser Widerspruch in der Abhandlung
PDF-Datei Krieg in der Ukraine
Demografische Entwicklung
Russlands größte Schwierigkeit ist die rückläufige Bevölkerungsentwicklung. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren unter Jelzin sank die Geburtenrate von 2,0 auf 1,1 Kinder je Frau, was rechnerisch zur Prognose zwang, bis 2050 käme es zu einer Halbierung der Bevölkerung.38 Dies löste in Russland die besorgte Frage aus, wie dann das riesige Land – es ist 17.074.636 km² groß und damit 47-mal größer als die Bundesrepublik Deutschland – von nur noch rund 75 Millionen Menschen bewirtschaftet, verwaltet und verteidigt werden könnte. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum lebten in Deutschland rund 80 Millionen Menschen. Unter dem neuen Präsidenten Putin stieg die Geburtenrate bis 2015 wieder auf 1,8 Kinder (mittlerweile ist sie wieder auf 1,5 abgesunken).39 Gelöst ist das russische Problem allerdings auch mit solchen Werten nicht.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 2. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Kiewer_Rus.
2 de.wikipedia.org/wiki/Goldene_Horde#Herrschaft_über_die_Fürstentümer_der_Rus.
3 de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-russische_Beziehungen#Mittelalter.
4 de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Russischer_Krieg_1609–1618.
5 de.wikipedia.org/wiki/Ochotsk#Geschichte.
6 de.wikipedia.org/wiki/Russisch-Japanischer_Krieg.
7 de.wikipedia.org/wiki/Japanisch-Sowjetischer_Grenzkonflikt.
8 de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Sowjetischer_Krieg.
9 de.wikipedia.org/wiki/Petrinische_Reformen.
10 de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Rapallo.
11 de.wikipedia.org/wiki/Gesellschaft_für_Deutsch-Sowjetische_Freundschaft.
12 de.wikipedia.org/wiki/Stalin-Noten.
13 kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kalender/kalender-detail/-/content/stalin-note-1.
14 etwa Hans Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Rußlands, 1. Auflage 1998, Seiten 205 ff.
15 de.wikipedia.org/wiki/Hastings_Ismay,_1._Baron_Ismay.
16 de.wikipedia.org/wiki/Sibirien.
17 de.wikipedia.org/wiki/Sarai_(Stadt).
18 magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/83657766.
19 de.wikipedia.org/wiki/Transsibirische_Eisenbahn#Strecke.
20 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Fernstraßen_in_Russland.
21 Eindrucksvolle Beschreibung auf de.rbth.com/lifestyle/79989-typisch-sibirien-menschen-leben-klischee.
22 de.wikipedia.org/wiki/Japan.
23 de.wikipedia.org/wiki/Selbstverteidigungsstreitkräfte.
24 de.statista.com/statistik/daten/studie/150664/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-ausgewaehlter-laender.
25 dazu hinten Kapitel Korea.
26 Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, deutsche Ausgabe 2015, Seiten 47 f., 113 ff. und 187 ff.
27 dazu hinten Kapitel China.
28 en.wikipedia.org/wiki/United_States–Uzbekistan_relations.
28a de.wikipedia.org/wiki/Kirgisistan#Tulpenrevolution_2005.
29 en.wikipedia.org/wiki/Turkmenistan–United_States_relations.
30 dazu hinten Kapitel Iran.
31 dazu vorn Kapitel Kriege von 1990 bis 2021.
32 ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/36848/ssoar-2013-halbach-Bilanz_einer_Farbrevolution_Georgien_im.pdf.
33 de.reseauinternational.net/armenie-les-revolutions-de-couleur-autopsie-et-travaux-pratiques.
34 dazu hinten Kapitel Türkei.
35 tagesschau.de/ausland/tuerkei-syrien-nato-105.html.
36 Rainer Böhme (Herausgeber), Streitkräfte Russlands am Beginn der 2020er Jahre, Mitschrift in deutscher Übersetzung von Redebeiträgen
auf der Tagung des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation am 24. Dezember 2019 in Moskau, Dresdener gesammelte
Kommentare zur Sicherheitspolitik.
37 abgedruckt in: DSS-Arbeitspapiere, Heft 113, Ziff. 22 ff., herausgegeben von der Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik e. V.
38 Peter Scholl-Latour, Russland im Zangengriff, Seiten 116 ff.
39 de.statista.com/statistik/daten/studie/171392/umfrage/fertilitaetsrate-in-russland.
China
Vor etwa 4.500 Jahren entstand in manchen Wohngebieten der damals noch sehr kleinen Weltbevölkerung das Bedürfnis nach einer Organisation der Gesellschaft in staatlichen Strukturen. Dies war ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, und bald erwiesen sich sesshafte Gesellschaften mit einem Staatswesen gegenüber nomadisierenden Gesellschaften als technologisch und wirtschaftlich wesentlich erfolgreicher. Manche dieser uralten Staaten existierten sehr lange Zeit. Das ägyptische Reich bestand rund 2.500 Jahre, bis es seine staatliche Eigenständigkeit verlor und erst zu einer Provinz des römischen Imperiums herabsank, um später in arabischen und osmanischen Staatsorganisationen aufzugehen. Es dauerte 2.000 Jahre, bis wieder ein ägyptischer Staat errichtet wurde. Im von Ägypten weit entfernten China kam es etwa in derselben Zeit zur Staatsgründung. Im Gegensatz zu Ägypten besteht der chinesische Staat seitdem über vier Jahrtausende hinweg kontinuierlich. Damit ist China der älteste Staat weltweit.
Selbstwahrnehmung
Die Bewahrung dieser Kontinuität ist eine einzigartige politische Leistung. Auf die rund tausend Jahre europäischer und die 250 Jahre amerikanischer Staatsgeschichte blickt es mit Nachsicht herab. China nennt sich selbst das Reich der Mitte. Damit ist nicht weniger gemeint, als dass es sich als den geistigen, wissenschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt der Welt wahrnimmt.
Zu jeder Zeit wusste China, was sich außerhalb seiner Staatsgrenzen abspielt. Lange Zeit trieb es Handel mit allen Gebieten rund um den Indischen Ozean. Dabei stellte es immer wieder fest, dass es allen angetroffenen Völkern weit überlegen war. Buchdruck, Papiergeld, Porzellan und Schießpulver waren in China schon Jahrhunderte lang selbstverständlich, bis etwa die Europäer dieselben Erfindungen machten. In seinen Städten wohnten hunderttausende, vielleicht sogar bereits Millionen Menschen, als in Europa noch zehntausend Einwohner eine Metropole ausmachten.
Auf den Kontakt mit den von ihm als Barbaren empfundenen Völkern reagierte China eigenartig: Trotz seiner Überlegenheit zog es nie in Betracht, diese Völker seiner Herrschaft zu unterwerfen. Es fürchtete, seine Errungenschaften womöglich mit Barbaren zu teilen, die sie anschließend gegen China einsetzen könnten. Im 15. Jahrhundert brach China deshalb auch die Schiffe seiner großen Flotte bewusst ab und gab den Seehandel mit weit entfernten Gebieten auf. Lediglich mit Indien und anderen ostasiatischen Staaten wurde der Warenaustausch über das Meer fortgesetzt. Expansion und Kolonisation hielt China in den viertausend Jahren seiner Geschichte nie für erstrebenswert.1
Die unverzeihliche Demütigung
Der älteste und selbstbewussteste Staat der Welt wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Kolonialmacht Großbritannien in einer Weise gedemütigt, die er bis heute nicht verzeihen konnte. Nur etwa fünfzig Jahre lang hatte China die Weiterentwicklung der Schusswaffentechnik vernachlässigt, was zum Sieg der Briten in den Opiumkriegen führte,2 deren Gewehre und Geschütze eine größere Reichweite erzielten als die chinesischen. China musste in Hongkong die Gründung einer britischen Kolonie zugestehen und zusehen, wie von dort aus das Land mit aus Indien eingeführtem Opium überschwemmt wurde. Die Sucht nach Opium breitete sich unter den Chinesen rasant aus. Die chinesische Staatsorganisation und die chinesische Wirtschaft wurden hierdurch schwach und kamen ins Wanken.
Chinesische Beamte versuchen importiertes Opium zu vernichten
Mao Zedong
In dieser Periode taumelnder Schwäche, die etwa hundert Jahre dauerte, kam es innerhalb Chinas zu Aufständen und Bürgerkriegen, während andere europäische Mächte ebenfalls Stützpunkte auf seinem Staatsgebiet errichteten3 und sich sein Nachbar Japan, der schnell zu einer bedeutenden Industriemacht aufgestiegen war, zur Eroberung Chinas anschickte.4 Nur knapp entging China seinem völligen Untergang. Gerettet hat seine staatliche Einheit der aus dem Bürgerkrieg als Sieger hervorgegangene Mao Zedong, wenngleich seine kommunistische Herrschaft brutal war. Seine Nachfolger räumten der chinesischen Gesellschaft nach und nach wirtschaftliche Freiheiten ein und schufen damit einen unübersehbar wachsenden Wohlstand. Mao selbst wird nachträglich durchaus kritisch beurteilt. In der Beurteilung der meisten Chinesen überwiegen jedoch seine Leistungen seine Fehler.5
Mao Zedong
Wirtschaftlicher Aufstieg
In den zurückliegenden vierzig Jahren erlebte China ein beträchtliches Wirtschaftswachstum. Technologisch hat es wieder zur Weltspitze Anschluss gefunden. Von der numerischen Größe reicht seine Wirtschaftsleistung an die der Vereinigten Staaten heran und schickt sich an, diese einzuholen.6 Obwohl in China 20 Prozent der Weltbevölkerung leben,7 was für sich genommen einen gigantischen Markt darstellt, ist die Wirtschaftskraft des durchschnittlichen Chinesen aber noch gering,8 viermal kleiner als die des durchschnittlichen Amerikaners.9 Deshalb ist China darauf angewiesen, seine Industrieprodukte zu exportieren. Mit rund 3.593 Milliarden Dollar übertraf die chinesische Exportleistung 2022 die amerikanische (rund 2.065 Milliarden Dollar) bei weitem.10 Zugleich ist China auf Importe angewiesen, vor allem von Erdöl und Erdgas. Zwischen China und den Vereinigten Staaten ist in dieser Zeit zwangsläufig eine Rivalität um Absatzmärkte und Ressourcen entstanden.
Geschäftsviertel in Peking, Foto: 39degN, CC-BY-SA 3.0, Beijing cbd.jpg
Neue Seidenstraße
China ist sich der amerikanischen Seeherrschaft bewusst, die seinen Export stören kann. Deshalb treibt es das Projekt Neue Seidenstraße voran, das ihm Exporte bis nach Europa sowie Öl- und Gasimporte aus Russland und aus den Staaten des Kaspischen Beckens auf dem Landweg ermöglichen soll.11 Die Vereinigten Staaten versuchen dies zu unterbinden, da der Handel auf dem Landweg die Wirksamkeit der amerikanischen Seeherrschaft aushebelt, die China durch eine beachtliche eigene Flottenrüstung zusätzlich in Frage stellt.12
Lena Appenzeller, Sabine Hecher, Janine Sack
China Belt Road Initiative Landkarte Projekte 2018.jpg, CC BY 4.0
Vor den oben beschriebenen historischen und wirtschaftlichen Hintergründen darf es als ausgeschlossen gelten, dass sich China, das sich traditionell als zivilisatorischen Mittel- und Höhepunkt der Welt wahrnimmt, den weltweiten Führungsanspruch der Vereinigten Staaten anerkennt. Nach der Zeit seiner Demütigung und seines Niedergangs zwischen 1842 und 1945 wird es nicht mehr zulassen, auch nur kurzfristig in eine technologische Unterlegenheit zu geraten. Deshalb scheut es keine Mittel, sich das technologische Wissen anderer Teile der Welt zu beschaffen, vor allem von den Vereinigten Staaten und Europa. Auf Urheberrechte und geistiges Eigentum wird China in dieser Denkweise keine Rücksicht nehmen.
Die strategische Allianz
Auch wenn sein Verhältnis zu Russland historisch nicht unbelastet ist, ist dieser Nachbar der ideale Lieferant von Bodenschätzen, und China ist umgekehrt für das von allen Seiten durch Sanktionen beschränkte Russland der einzige verlässliche Abnehmer für diese Exportprodukte geworden. Das Projekt Neue Seidenstraße kommt Russland gleichfalls entgegen, ebenso dem Iran. Der Ausgangspunkt der weltpolitischen Bruchlinien liegt hiernach vor allem in der Konkurrenz der Vereinigten Staaten zu China, das sich deshalb auch nicht leisten kann, seinen Nachbarn Russland untergehen oder durch einen Regime Change in das von den Vereinigten Staaten geführte Lager wechseln zu lassen. Es ist eine Art Schachspiel, von dem die Weltöffentlichkeit nicht alle Züge durchschaut, da sie auch andere, scheinbar unbeteiligte Staaten betreffen, deren jeweilige Rolle diesem Konflikt nicht auf den ersten Blick zugeordnet werden kann.
Narrative
Zur Diskreditierung Chinas bringt der Westen etliche Narrative auf: Ein Vorwurf richtet sich gegen die Besetzung Tibets. Tibet war ein sehr ausgeprägter Feudalstaat, der nach dem 10. Jahrhundert seine Selbständigkeit einbüßte und schließlich mongolisches, dann chinesisches Lehen wurde. Erst 1913 rief der damalige Dalai Lama unter Ausnutzung der Schwäche des chinesischen Reiches wieder einen tibetischen Nationalstaat aus, den die Volksrepublik China 1950 wieder als autonomes Gebiet eingliederte. Tibet ist 1,2 Millionen km² groß, aber mit nur drei Millionen Einwohnern sehr dünn besiedelt.13 Ein weiterer Vorwurf lautet, die aus zehn Millionen Menschen bestehende muslimische Minderheit der Uiguren zu unterdrücken, die angeblich einen eigenen Staat gründen will.14 Umgekehrt beschuldigt China die Vereinigten Staaten, die Unruhen 2019/2020 in Hong Kong inszeniert zu haben.15 China gilt als Verbündeter Nordkoreas und Myanmars, die von den Vereinigten Staaten als Schurkenstaaten bezeichnet werden.
Streitkräfte
Die chinesische Außen- und Sicherheitspolitik beruht nach wie vor auf den fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Hiernach will China Aggressionen zwar vermeiden, aber das separatistische Taiwan zurückgewinnen. Die chinesische Militärdoktrin geht immer noch auf die Ansichten Mao Zedongs zurück, die vom chinesischen Bürgerkrieg, vom Krieg mit Japan und von seinem Wissen um die damalige Schwäche der chinesischen Industrie geprägt waren, die er zumindest mittelfristig für unfähig hielt, modernste Militärtechnik herzustellen. Einen modern gerüsteten Gegner würde China von einer Invasion zwar nicht abhalten können, doch würde der Angreifer im Meer der verteidigungsbereiten chinesischen Bevölkerung ertrinken.16
Entsprechend groß sind die Landstreitkräfte der Volksbefreiungsarmee, die aus 1.600.000 aktiven Soldaten und 1.400.000 Reservisten bestehen, und entsprechend langsam wurde die Modernisierung ihrer Ausrüstung vorangetrieben, die allerdings bis heute bereits sehr weit fortgeschritten ist. Eine zweijährige Wehrpflicht ist bei der geschilderten Grundausrichtung der Streitkräfte unumgänglich. Die Reservisten sollen alle drei Jahre üben. Daneben hat die Bewaffnete Volksmiliz als eigenständige Teilstreitkraft Infrastruktur-, Versorgungs- und Verwaltungsobjekte zu schützen, die zivilen Behörden im Kampf gegen Banden zu unterstützen sowie die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
Die chinesischen Luftstreitkräfte haben eine beachtliche Stärke erreicht. China besitzt rund 1.600 taktische Kampfflugzeuge. Davon sind knapp 400 Lizenzbauten der älteren russischen Baumuster Suchoi Su-27 bis Su-35. Mittlerweile hat China allerdings auch eigene Muster entwickelt, die als leistungsfähig gelten.17 Damit liegt China weltweit nach den Vereinigten Staaten auf dem zweiten Platz der Luftmächte, doch ist diese Luftrüstung nicht überzogen: In seiner unmittelbaren geografischen Umgebung befinden sich die amerikanischen Verbündeten Südkorea (rund 460 Kampfflugzeuge) und Japan (rund 300 Kampfflugzeuge),18 die beide auf ihren Staatsgebieten die Stationierung ähnlich vieler amerikanischer Kampfflugzeuge gestatten.
Die chinesische Marine durchläuft eine beachtliche Entwicklung, die in dem angehängten Heft
PDF-Datei Marine, 5,32 MB ab Seite 20 nachgelesen werden kann.
Chinesische Fregatte 2022, Foto: 日本防衛省・統合幕僚監部, 0805太原舰 02.jpg
Seit 1964 verfügt China über Nuklearwaffen. Die Ausrüstung der gesondert organisierten Raketentruppen umfasst taktische Gefechtsfeldwaffen und Mittelstreckenraketen, die den gesamten süd- und zentralasiatischen Raum erreichen können. Gering ist dagegen der Bestand an Interkontinentalraketen. Insgesamt umfasst der nukleare Bestand Chinas 400 Atomsprengköpfe, womit es eher eine kleine Atommacht wie Frankreich oder Großbritannien ist.19 Aufgrund des kleinen nuklearen Arsenals ist es gegenüber den Vereinigten Staaten auf die Unterstützung der großen Atommacht Russland angewiesen. Dies ist ein wichtiger Aspekt der strategischen Allianz, siehe oben.
Neuerdings werden allerdings auch Chinas Rechte auf den Weltmeeren und Interessen in Übersee, im Weltraum und im Cyberraum betont, die abgesichert werden sollen.20 In Dschibuti am Ausgang des Roten Meeres und des Suezkanals unterhält China einen Stützpunkt.21 Die chinesischen Ambitionen im Weltraum führten zur Unterhaltung mehrerer militärischer Beobachtungssatelliten und zur Entwicklung von Raketen, die von der Erde aus Satelliten auf Umlaufbahnen in fast 1.000 Kilometern Höhe zu zerstören in der Lage sind. Besonderes Augenmerk legen die chinesischen Streitkräfte auf die elektronische Aufklärung, für die Stationen auf den Kokosinseln,22 in Laos23 und auf Kuba24 betrieben werden.
China ist kein unmittelbarer militärischer Gegner Deutschlands oder der an der Europäischen Union teilnehmenden Staaten. Dazu liegt es auch zu weit entfernt. China lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass es bei einer militärischen Konfrontation der NATO mit Russland auf dessen Seite stehen würde. Dies unterstrich China, als es 2017 Kriegsschiffe in die Ostsee entsandte, um sie dort mit der Baltischen Flotte Russlands üben zu lassen.25 Dies rief im Westen Empörung hervor. Umgekehrt entsendet die Bundeswehr allerdings Schiffe nach Ostasien.26 Dass China dies als Provokation empfindet, ist nachvollziehbar.
China gilt im internationalen Ranking als drittgrößte Militärmacht nach den Vereinigten Staaten und Russland. Es legte 2022 den zweithöchsten Verteidigungshaushalt weltweit vor. Er umfasste Ausgaben von 292 Milliarden US-Dollar.27
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 2. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Chinas#China_und_das_Abendland.
2 de.wikipedia.org/wiki/Erster_Opiumkrieg,
de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Opiumkrieg.
3 taz.de/160-Jahre-Demuetigung/!1256973.
4 de.wikipedia.org/wiki/Erster_Japanisch-Chinesischer_Krieg,
de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Japanisch-Chinesischer_Krieg.
5 de.wikipedia.org/wiki/Mao_Zedong#Einordnung_und_Vergangenheitsbewältigung.
6 de.statista.com/statistik/daten/studie/19365/umfrage/bruttoinlandsprodukt-in-china.
7 de.statista.com/statistik/daten/studie/19323/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-china.
8 de.statista.com/statistik/daten/studie/19407/umfrage/bruttoinlandsprodukt-pro-kopf-in-china.
9 de.statista.com/statistik/daten/studie/14454/umfrage/bruttoinlandsprodukt-pro-kopf-in-den-usa.
10 de.statista.com/statistik/daten/studie/37013/umfrage/ranking-der-top-20-exportlaender-weltweit.
11 tagesschau.de/ausland/asien/treffen-neue-seidenstrasse-100.html.
12 dazu ausführlich im Teil 4 Seestreitkräfte, Kapitel China.
13 de.wikipedia.org/wiki/Tibet.
14 de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Uiguren#Autonomiebestrebungen_und_staatliche_Repression_seit_1949.
15 Matthias Heim, Genügend Beweise, dass die USA hinter den Protesten stecken am 2. September 2019 auf srf.ch
(online srf.ch/news/international/unruhen-in-hongkong-genuegend-beweise-dass-die-usa-hinter-den-protesten-stecken).
16 Kai Filipiak, Das Militär der Volksrrepublik China am 1. Oktober 2009 auf bpb.de.
17 flugrevue.de/militaer/kampfflugzeug-arsenal-top-10-die-groessten-luftmaechte-der-welt.
18 dazu ausführlich in Teil 3 Luftstreitkräfte, Kapitel Internationales Umfeld.
19 de.statista.com/statistik/daten/studie/36401/umfrage/anzahl-der-atomsprengkoepfe-weltweit.
20 businessinsider.de/politik/welt/atomraketen-hyperschallwaffen-millionen-soldaten-so-maechtig-ist-chinas-armee-a.
21 taz.de/Erste-Militaerbasis-im-Ausland/!5430716.
22 de.wikipedia.org/wiki/Kokosinseln_(Myanmar)#Besitz_und_Nutzung.
23 spiegel.de/ausland/laos-wie-china-mit-seinem-seidenstrassen-projekt-seinen-einfluss-ausweitet-a-a87910b9-4407-4391-8434-
3721b23faf11.
24 n-tv.de/politik/USA-bestaetigen-Vorwuerfe-China-nutzt-Kuba-fuer-Spionage-article24186113.html.
25 dw.com/de/kriegsschiffe-aus-china-auf-dem-weg-in-die-ostsee/a-39729708.
26 Jerry Sommer, Der Indo-Pazifik – bald Operationsgebiet der Bundeswehr? am 16. November 2020 auf ndr.de.
27 de.statista.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben.
Indien
Das Staatsgebiet Indiens ist 3.287.263 km² groß, 9-mal größer als die Bundesrepublik. Der Gebirgszug des Himalayas bildet die Nordgrenze. Im Westen grenzt Indien an Pakistan, im Osten an China, Bhutan, Myanmar und Bangladesh. Im Süden umschließt der Indische Ozean das indische Staatsgebiet.1
Bevölkerung
Mit 1.428.627.663 Einwohnern (2023) ist Indien der bevölkerungsreichste Staat weltweit und repräsentiert zwanzig Prozent der Weltbevölkerung. Die Fertilitätsrate liegt derzeit bei 2,0 Kindern je Frau. Die indische Bevölkerung wird sich hiernach voraussichtlich nicht vergrößern, sondern gleichbleiben. Bis 2050 wird sogar ein leichter Rückgang erwartet.2
Wirtschaftsleistung
Mit 3.400 Milliarden Dollar liegt das indische Bruttoinlandsprodukt nominal deutlich hinter Deutschland. Pro Kopf sind dies nur 2.392 Dollar.3 Dieser Wert liegt deutlich unter dem des chinesischen Nachbarn und Konkurrenten (dort: 12.670 Dollar pro Kopf4). 2015 war Indien erstmals die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der G20-Staaten. Als besonders kompetent gelten indische Unternehmen auf dem Gebiet der Informationstechnik und informationstechnischer Dienstleistungen. Indiens Mittelschicht wächst zwar stetig, doch ist durch die nach wie vor bestehende Einteilung der indischen Gesellschaft in Kasten ein großer Teil von der rasanten wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung des Landes ausgeschlossen. Sechzehn Prozent der Einwohner gehören zu den Unberührbaren, der untersten Kaste.5 44 Prozent der Inder steht weniger als ein Dollar pro Tag zur Verfügung.
Außenpolitik7
Die historischen Erfahrungen als ehemalige britische Kolonie prägen die indische Außenpolitik Indiens bis heute. Den angelsächsischen Staaten steht Indien deshalb mit gewisser Skepsis gegenüber, und unmittelbar nach seiner Unabhängigkeit suchte es Rückhalt bei der Sowjetunion als machtpolitischem Gegenpol zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Seine Beziehungen zu Russland gelten nach wie vor als freundschaftlich, auch wenn Indien seine Fixierung auf Russland lockern will, um nicht in eine neue Abhängigkeit zu geraten.
Der indische Premier Modi trifft den russischen Präsidenten Putin, Foto: kremlin.ru
Zu den Grundsätzen seiner Außenpolitik gehört die strikte Achtung der Souveränität aller Staaten. Militärische Interventionen lehnt Indien grundsätzlich ab. Indien legte im Kalten Krieg Wert darauf, zu keinem der beiden Militärblöcke zu gehören, sondern zu möglichst vielen Staaten freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Angespannt ist jedoch nach wie vor Indiens Verhältnis zu Pakistan. In Anbetracht des Umstands, wie China ebenfalls zwanzig Prozent der Weltbevölkerung zu repräsentieren, beansprucht Indien für sich einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Indien ist (wie China) Mitglied der BRICS-Staaten, der Bewegung der Blockfreien Staaten und der G20. In diesen internationalen Organisationen setzt sich Indien häufig für die Belange und Interessen des globalen Südens ein.
Streitkräfte
Nach China unterhält Indien mit 1.450.000 Soldaten in personeller Hinsicht die zweitgrößten Streitkräfte weltweit.8 Die Ausrüstung stammt zu zwei Dritteln aus sowjetischer oder russischer Produktion und ist sehr leistungsfähig.9 Derzeit baut Indien den dritten Flugzeugträger.10 Indiens Verteidigungsfähigkeit wird davon kaum abhängen, doch wird dies ein Prestigeprojekt sein, um mit China auf dem Gebiet der Marinerüstung gleichzuziehen, wobei China unverhohlen das Ziel anstrebt, mit seinen Flugzeugträgern zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen.
Atomwaffen
Seit 1974 besitzt Indien Kernwaffen. Sein Arsenal wird auf 164 Sprengköpfe geschätzt11. Es handelt sich um keine strategischen Waffen, sondern nur um taktische Sprengköpfe für selbst entwickelte Kurzstreckenraketen (Prithvi-II)12. Der ausgemachte Gegner ist Pakistan, dessen Atomrüstung denselben Umfang hat.11
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 2. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Indien#Geografie.
2 de.statista.com/statistik/daten/studie/170730/umfrage/fertilitaetsrate-in-indien.
3 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Bruttoinlandsprodukt.
4 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Bruttoinlandsprodukt_pro_Kopf.
5 censusindia.gov.in/2011census/hlo/pca/PCA_Data/PCA0000_2011.xls.
6 bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52680/armut.
7 Thorsten Wojczewski, Indische Weltordnungspolitik: Viele Partner, keine Allianzen 2016 als Beitrag Nummer 6 des German Institute for Global and Area Studies (GIGA) – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg (online: giga-hamburg.de/de/publikationen/giga-focus/indische-weltordnungspolitik-viele-partner-keine-allianzen).
8 de.statista.com/statistik/daten/studie/36470/umfrage/die-groessten-armeen-weltweit-nach-aktiver-truppenstaerke.
9 Satyajeet Malik, Russland bietet, was der Westen nicht kann am 29. August 2022 auf nd-aktuell.de (online: nd-aktuell.de/artikel/1166490.indien-russland-bietet-was-der-westen-nicht-kann.html).
10 futurezone.at/digital-life/indien-flugzeugtraeger-ins-vikrant-china-marine/402135204.
11 de.statista.com/statistik/daten/studie/36401/umfrage/anzahl-der-atomsprengkoepfe-weltweit.
12 taz.de/Atomwaffenfaehige-Rakete-getestet/!281326.
BRICS-Staaten
BRICS ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die sich seit 2011 zu einer Art Interessengemeinschaft zusammengeschlossen haben, und zugleich wird auf das englische Wort brick (= Baustein) angespielt, denn die Gründerstaaten verstehen sich als Bausteine einer besseren Weltwirtschaft. Geprägt wurde der Begriff von einem Mitarbeiter der amerikanischen Bank Goldman Sachs.1
Ziele
Da es kein schriftlich niedergelegtes Programm oder eine Satzung gibt, sind die Ziele schwer zu fassen: Die Mitglieder streben eine größere weltpolitische Geltung an und wollen eine Alternative zum Kreis der G7-Staaten werden.2 Sie streben an, ihren Handel in ihren Landeswährungen oder in einer gemeinsamen Währung abzuwickeln, jedenfalls ohne den Dollar als Leitwährung. Die 2014 von ihnen gegründete New Development Bank soll eine Alternative zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank werden.3 Sonstige feste Strukturen sind noch nicht vorhanden. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmen sie oft gemeinsam ab.
BRICS wird als Instrument zur Überwindung der bestehenden unipolaren Weltordnung mit den Vereinigten Staaten als Führungsmacht und zur Umsetzung einer multipolaren Weltordnung gesehen, die deshalb auch die Entdollarisierung des Welthandels- und -finanzsystems anstrebt.4 Am Widerstand der BRICS-Staaten scheiterte die Resolution der Vereinten Nationen gegen Russland wegen des Kriegs in der Ukraine.5
Dunkelblau: Mitgliedsstaaten, hellblau: Partnerstaaten, grün: Beitrittskandidaten,
Grafik: Enyavar, BRICS, partners and applicants (2025-01).svg
Mitglieder
Mit Beginn des Jahres 2024 erfolgte die Erweiterung der BRICS-Staaten um Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate.6 Im derzeitigen Umfang bilden die BRICS-Staaten ab:7
- 45,4 Prozent der Weltbevölkerung (G7: 10 Prozent),
- 31,0 Prozent der Landfläche der Erde (G7: 15 Prozent),
- 29,0 Prozent des nominalen weltweiten Bruttoinlandsprodukts (G7: 44 Prozent),
- 36,0 Prozent des kaufkraftbereinigten weltweiten BIP (G7: 30 Prozent)7.
2023 wurde Saudi-Arabien eingeladen, nahm auch am Gipfeltreffen teil, hat seine Mitgliedschaft bislang aber noch nicht formalisiert.8 Dennoch stellt dies eine weltpolitische Wende dar: Saudi-Arabien ist eine bedeutende Regionalmacht des Nahen Ostens, die über Jahrzehnte hinweg von den Vereinigten Staaten als Verbündete gegen den Iran in Stellung gebracht und aufgerüstet worden war. Möglich war dies aufgrund der Gegensätze zwischen sunnitischem und schiitischem Islam. Dass ein Dialog zwischen beiden Mächten in diesem Zusammenhang überhaupt zustande kam, ist bemerkenswert.
Um die Aufnahme in den Kreis der BRICS-Staaten bemühen sich derzeit zwanzig weitere Staaten, Algerien, Bangladesch, Bahrain, Belarus, Bolivien, Gabun, Honduras, Indonesien, Kasachstan, Demokratische Republik Kongo, Komoren, Kuba, Kuwait, Nicaragua, Nigeria, Palästina, Senegal, Thailand, Venezuela und Vietnam.9 Der Anschluss an die BRICS-Staaten gilt als Ausdruck der Ablehnung des amerikanischen Hegemonieanspruchs und vor allem als außenpolitischer Erfolg Russlands und Chinas.10
Über das Beitrittsgesuch der Türkei wurde 2024 nicht abgestimmt. Die Mitgliedschaft in der NATO vertrage sich nicht mit der angestrebten Mitgliedschaft bei BRICS.11 Dieser Standpunkt ist vielsagend.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 goldmansachs.com/intelligence/archive/archive-pdfs/build-better-brics.pdf.
2 Günther Maihold und Melanie Müller, Eine neue Entwicklungsphase der BRICS – Erweiterung und neue Identität im August 2023 in Nr. 52
der Schriftenreihe SWP Aktuell der Stiftung Wissenschaft und Politik,
online: swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2023A52_BRICS.pdf.
3 spiegel.de/wirtschaft/soziales/brics-schwellenlaender-gruenden-entwicklungsbank-und-waehrungsfonds-a-981233.html.
4 Thomas Bonschab, BRICS Plus und der schleichende Weg zur Ent-Dollarisierung am 28. August 2023 in: Makronom
(online: makronom.de/brics-plus-und-der-schleichende-weg-zur-ent-dollarisierung-44787).
5 fr.de/wirtschaft/brics-staaten-russland-wladimir-putin-moskau-china-indien-verbuendete-91746630.html, capital.de/wirtschaft-politik/ukraine-konflikt-diese-laender-stimmten-der-resolution-nicht-zu-31672730.html.
6 news.cgtn.com/news/2024-01-01/Five-countries-formally-join-BRICS-1q0oUn0eOTS/p.html.
7 focus.de/politik/ausland/wichtige-schwellenlaender-brics-gruppe-erweitert-sich-um-sechs-mitgliedstaaten-iran-auch-dabei_id_202688454.html.
8 reuters.com/world/saudi-arabia-has-not-yet-joined-brics-saudi-official-source-2024-02-01.
9 tagesspiegel.de/internationales/schwellenlander-treffen-sich-in-sudafrika-plotzlich-wollen-alle-mitglied-werden-10330930.html.
10 Herbert Wulf, Kampfansage an den Westen am 12. Juni 2023 für die Friedrich-Ebert-Stiftung (online: ipg-journal.de/regionen/global/artikel/kampfansage-an-den-westen-6766).
11 berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/bericht-tuerkei-soll-mit-brics-bewerbung-gescheitert-sein-li.2265697.
Frankreich
Bei einer Umfrage waren 70 Prozent der Franzosen der Ansicht, Charles de Gaulle sei die wichtigste Persönlichkeit der gesamten französischen Geschichte gewesen.1 Zweifellos prägte de Gaulle Frankreich von 1940 bis kurz vor seinem Tod 1970 sehr nachdrücklich. Während des 2. Weltkriegs wurde er von den Vereinigten Staaten als lästiger, eigensinniger Verbündeter angesehen, und umgekehrt gelangte de Gaulle zu keiner sehr hohen Meinung von der amerikanischen Politik.2 Trotz seiner Verdienste konnte er sich mit seinen Vorstellungen von einer Nachkriegsverfassung für die Vierte Republik zunächst nicht durchsetzen. 1947 wurde er als Präsident von Vincent Auriol abgelöst. Unter diesem folgte Frankreich strikt der amerikanischen Außenpolitik und wurde 1949 zu einem der Gründungsmitglieder der NATO. Ob es unter de Gaulle überhaupt zum NATO-Beitritt Frankreichs gekommen wäre, ist fraglich.
Erste europäische Initiativen
Die Vierte Republik scheiterte bereits 1958. Bis dahin waren von ihr aber bedeutende europapolitische Initiativen ausgegangen, unter anderem schon 1950 vom damaligen französischen Ministerpräsidenten René Pleven die Idee zur Aufstellung europäischer Streitkräfte. Der sogenannte Pleven-Plan sah auch die Aufstellung deutscher Truppen vor, als nationale Truppenverbände allerdings nur bis zur Führungsebene des Regiments oder Bataillons. Von der Brigade aufwärts sollten die Großverbände bereits multinational sein. Allerdings sollten die französischen Truppen selbstverständlich unter französischem Oberbefehl bleiben, und so ging es bei dem Pleven-Plan in erster Linie um die Verhinderung einer eigenständig organisierten deutschen Armee. In der französischen Nationalversammlung fiel der Pleven-Plan durch.3 Die Mehrheit der Abgeordneten war 1950 noch der Auffassung, dass ein unbewaffneter deutscher Nachbar für die Sicherheit Frankreichs besser sei als eine deutsche Armee unter französischer Kontrolle, worauf der Pleven-Plan letztlich hinausgelaufen wäre.
Europaparlament in Straßburg, Foto: J. Patrick Fischer, 2011-05-10 Europaparlament.JPG
Deutsch-französische Freundschaft
Mit der Gründung der Fünften Republik war de Gaulle ab 1959 wieder Präsident. 1963 kam es auf seine und Adenauers Initiative zur Aussöhnung mit Deutschland und zur Begründung der deutsch-französischen Freundschaft.4 Diese ist sehr aufrichtig und führte zu einer intensiven Zusammenarbeit beider Staaten auf vielen Gebieten, auf dem Gebiet der militärischen Zusammenarbeit allerdings viel später.
Die Bundesrepublik war fest in die NATO eingebunden, während de Gaulle die französischen Streitkräfte zwischen 1959 und 1966 nach und nach aus der NATO-Organisation herauslöste, allerdings ohne die Mitgliedschaft in der NATO völlig aufzugeben5. De Gaulles Verteidigungsdoktrin lautete nämlich, Frankreich müsse in der Lage sein, sich nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern gegen Angriffe von allen irgendwie erdenklichen Seiten behaupten zu können. Dazu war nach seiner Ansicht die Force de dissuasion nucléaire de la France, die Streitmacht für nukleare Abschreckung Frankreichs erforderlich, die es heute noch gibt. Die NATO-Mitgliedschaft Frankreichs blieb zwar formal bestehen, um die Vereinigten Staaten nicht zu brüskieren, faktisch war sie aber beendet. Erst 2009 kam es wieder zu Annäherungen zwischen Frankreich und der NATO.6
Militärische Zusammenarbeit
Deshalb war es 1987 ein besonderes Ereignis, als das quasi-neutrale Frankreich und die fest in die NATO integrierte Bundesrepublik eine groß angelegte gemeinsame Militärübung in Süddeutschland veranstalteten (Kecker Spatz).7 Folge war die Aufstellung der Deutsch-Französischen Brigade, in deren Zusammenhang wieder französische Truppen in Süddeutschland stationiert wurden.8 Mittlerweile sind diese wieder abgezogen worden, da Frankreich die Stationierung in Deutschland zu teuer war. Dafür wurde ein deutsches Bataillon in Frankreich stationiert. Der Deutsch-Französischen Brigade haftet daher mehr europäische Symbolik als praktischer militärischer Nutzen an.
Deutsch-französische Rüstungskooperationen blieben dagegen selten. Sie erschöpften sich bislang in der gemeinsamen Entwicklung der Panzerabwehrrakete MILAN und des Kampfhubschraubers EC-665 TIGER. Vor allem Frankreich blieb darauf bedacht, die Hauptwaffensysteme seiner Streitkräfte selbst herstellen zu können. Eher zieht es Italien als Partner vor, mit dem es gemeinsam Kriegsschiffe und ein hervorragendes Flugabwehrraketensystem entwickelt hat. Deutschland wiederum erwirbt gepanzerte Fahrzeuge und Flugabwehrkanonen in der Schweiz, entwickelt Raketen zusammen mit Schweden oder least Aufklärungsdrohnen in Israel. In der Rüstungswirtschaft stehen sich die Nachbarn trotz der vielbeschworenen Freundschaft bemerkenswert reserviert gegenüber, da sie letztlich Konkurrenten mit ähnlicher technologischer Kompetenz sind.
Deutsch-französische Brigade, Foto: G.Garitan – CC BY-SA 3.0, Palais de justice 698.JPG
Europaarmee
Die Idee einer Europaarmee wird von Frankreich immer wieder angesprochen, zuletzt 2019 vom derzeitigen Präsidenten Macron. Dabei hatte es gleich nach dem Ende des Kalten Krieges die Initiative des Weimarer Dreiecks geben, das ein Militärbündnis der drei großen mitteleuropäischen Flächenstaaten Frankreich, Polen und Deutschland als Alternative zur NATO vorschlug (der Name leitete sich von Weimar als erstem Konferenzort dieser Gespräche ab).9 Es ist anzunehmen, dass sie auf Druck der Vereinigten Staaten und der NATO im Sande verlaufen sind. Macrons Vorstoß in diese Richtung verschaffte ihm vor allem in Deutschland das Ansehen eines großen Europäers. Tatsächlich geht es in erster Linie um nationale französische Interessen und Befindlichkeiten:
Außenpolitik
Gewiss möchte Frankreich auf europäischer Ebene integrierend wirken, doch steht es immer noch in engen Beziehungen zu seinen früheren afrikanischen Kolonien, gegenüber denen es auch militärische Verpflichtungen eingegangen ist. Diese Beziehungen haben für Frankreich eine weitaus größere Bedeutung, als es außerhalb Frankreichs wahrgenommen wird.10 Die Organisation der französischen Streitkräfte ist daher zwiespältig: Einerseits will Frankreich einen Beitrag zu europäischen Verteidigungsanstrengungen leisten, auch, um Einfluss auf die europäische Politik zu behalten. Andererseits ist dafür jedoch eine andere Ausrüstung seiner Streitkräfte erforderlich als für Einsätze in Afrika. Die Wahrnehmung dieser beiden gegensätzlichen Rollen und außerdem noch der Anspruch, zu den Nuklearmächten zu gehören, überfordert Frankreich.
2022 und 2023 kam es in den meisten ehemaligen Kolonien Frankreichs zu Umstürzen, die vor allem auf eine Eindämmung des französischen Einflusses in Afrika abzielten. Wie sich dies auf die Politik und die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs auswirkt, ist nicht abzusehen.11
Gleichwohl ist Frankreich von allen europäischen Nachbarn am wenigsten auf die NATO fixiert. Wenn auf politische Unterstützung für einen NATO-Austritt gehofft werden kann, wird sie von allen europäischen Mächten am ehesten von Frankreich zu erhalten sein. Voraussetzung ist jedoch, dass zugleich eine europäische Verteidigungsorganisation entsteht und Frankreich Freiraum für seine überseeischen Interessen bleibt.
Länderdaten
Das französische Staatsgebiet (632.740 km² einschließlich der überseeischen Departements, das europäische Gebiet aber nur 543.908 km²) ist beträchtlich größer als das deutsche (357.000 km²), die Bevölkerung aber kleiner (64.692.000 in Europa gegenüber rund 84 Millionen in Deutschland). Das Bruttoinlandsprodukt ist zumindest pro Kopf gerechnet ähnlich hoch (47.747 US-Dollar in Frankreich gegenüber 48.756 US-Dollar in Deutschland).12 Die Geburtenrate liegt in Frankreich mit 1,79 Kindern je Frau für europäische Verhältnisse bemerkenswert hoch; 2010 betrug sie noch 2,01 Kinder je Frau.13
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 2. Januar 2025):
1 bpb.de/themen/europa/frankreich/152651/eine-aussergewoehnliche-politische-figur-das-erbe-de-gaulles-in-der-politischen-kultur-frankreichs.
2 spiegel.de/politik/attacken-gegen-de-gaulle-a-48a04c96-0002-0001-0000-000022955357?context=issue.
Ernst Weisenfeld, De Gaulle – ein konservativer Revolutionär am 15. März 1985 in: Die Zeit (online zeit.de/1985/12/ein-konservativer-revolutionaer/komplettansicht).
3 bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/177193/pleven-plan.
4 bpb.de/themen/europa/frankreich/152428/deutsch-franzoesische-beziehungen.
5 Birgit Kaspar, Traditionelles Fremdeln mit der NATO am 11. Februar 2020 auf Deutschlandfunk,
online deutschlandfunk.de/frankreich-traditionelles-fremdeln-mit-der-nato-100.html.
6 dw.com/de/frankreich-kehrt-ganz-in-die-nato-zurück/a-4105768.
7 bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/deutsch-franzoesische-gefechtsuebung-kecker-spatz-806880.
8 bundestag.de/resource/blob/194810/54f9e9e842640bd4574f51a31c7799d3/Die_Deutsch-Franzoesische_Brigade.pdf.
9 bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/177360/weimarer-dreieck.
10 Jens Borchers, Warum die Ex-Kolonien so wichtig sind am 29. April 2017 auf Deutschlandfunk
(online deutschlandfunk.de/frankreichs-afrikapolitik-warum-die-ex-kolonien-so-wichtig-100.html).
11 Julia Borutte, Schwindet Frankreichs Einfluss in Afrika? am 11. September 2023 auf Tagesschau
(online: tagesschau.de/ausland/afrika/frankreich-einfluss-afrika-100.html).
12 Zahlengrößen 2022 nach de.wikipedia.org/wiki/Frankreich und de.wikipedia.org/wiki/Deutschland.
13 de.statista.com/statistik/daten/studie/167196/umfrage/fertilitaetsrate-in-frankreich.
Großbritannien
Mit Großbritannien (offiziell: Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland) verbindet Deutschland allenfalls eine Seegrenze. Großbritannien ist Mitglied der NATO, jedoch aus der Europäischen Union ausgetreten. Aufgrund seiner Stellung als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs und früherer Besatzungsmacht ist Großbritannien für Deutschland nach wie vor von Bedeutung. Die britischen Truppen sind Anfang 2020 abgezogen. Lediglich für die Verwaltung des Truppenübungsplatz Senne gibt es noch ein Kontingent von rund 300 Soldaten, und 30 britische Pioniere sind Bestandteil des neuerdings binationalen, in Minden stationierten Pionierbataillons.1
Länderdaten
Großbritannien hatte 2023 68.138.484 Einwohner,2 die 2022 ein nominales Bruttoinlandsprodukt von 3.136 Milliarden US-Dollar erwirtschafteten, pro Kopf rund 46.800 Dollar.3 Das Staatsgebiet umfasst einschließlich der Shetland-Inseln eine Fläche4 von 243.610 km². Die Fertilitätsrate liegt bei 1,57 Kindern. Die Bevölkerungsentwicklung ist somit deutlich rückläufig.
Das Empire
Im 17., 18. und 19. Jahrhundert erlebte Großbritannien fast ausschließlich politische und militärische Erfolge. Einzige Rückschläge waren im 18. Jahrhundert die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien und im 19. Jahrhundert die fehlgeschlagene Eroberung Afghanistans5 im Zuge des damals schon gegen Russland gerichteten Great Game um die Vorherrschaft in Zentralasien.6
Britische Niederlage in Afghanistan, Gemälde von William Barnes Wollen, The Last Stand at Gundamuck
Für Großbritannien bewährte sich die Strategie, bei den Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent stets den Schwächeren zu unterstützen, um den Stärkeren nicht zu stark werden zu lassen. Großbritannien war dabei aufgrund seiner Insellage (splendid isolation) nie auf feste Partner angewiesen, sondern agierte je nach Situation. Nach dieser Logik griff es fast immer auf der Seite der Gegner Frankreichs ein, denn dieses war im 18. Jahrhundert die führende Wirtschafts- und Militärmacht auf dem Kontinent. Nahezu aus allen Kriegen gegen Frankreich ging Großbritannien als Sieger hervor. Einzige Ausnahme war der zur Gründung der von Frankreich unterstützten Vereinigten Staaten führende amerikanische Unabhängigkeitskrieg.7
Mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 war auf dem europäischen Kontinent dann aber eine Macht entstanden, die größer war als Frankreich und wirtschaftlich sogar die durch seinen weltweiten Handel begründete britische Vormachtstellung in Frage stellte. Großbritannien war kaltblütig genug, die jahrhundertealte Kontroverse mit Frankreich schlagartig aufzugeben und den ältesten Rivalen des englischen Staats – im Grunde bestand seit 1066 eine nahezu kontinuierliche Auseinandersetzung – zu einer Entente cordiale (herzlichen Verbindung) einzuladen.7
Aus beiden Weltkriegen ging Großbritannien als Siegermacht hervor. Sie hinterließen Großbritannien aber geschwächter als den Verlierer Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg musste es 1921 den größten Teil Irlands in die Unabhängigkeit entlassen,8 nach dem Zweiten Weltkrieg erst Indien und dann nach und nach die meisten seiner übrigen Kolonien, mit denen das British Empire etwa ein Viertel der Landfläche der Erde beherrscht hatte.9 Abgesehen von einigen kleinen, strategisch allerdings bedeutsamen Überseegebieten wie Anguilla, Bermuda, die Cayman-Inseln, den Chagos-Archipel mit Diego Garcia, die Falklandinseln, Gibraltar, Mauritius, Montserrat, den Pitcairn-Inseln sowie den Turks- and Caicos-Inseln ist Großbritannien mittlerweile auf das Mutterland auf den britischen Inseln zurückgeworfen.
Streitkräfte
2022 gab Großbritannien 55,5 Milliarden Pfund10 für seine aus 190.750 aktiven Berufssoldaten und 44.000 Reservisten bestehenden Streitkräfte aus.11 Damit betragen die britischen Militärausgaben 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.12
Traditionell und durch die Insellage bedingt haben Royal Navy und Royal Air Force gegenüber der British Army ein etwas höheres Gewicht. Nach Russland unterhält Großbritannien in Europa die größten Luftstreitkräfte, zumindest nach der Anzahl der taktischen Kampfflugzeuge (245).13 Auch achtet Großbritannien darauf, dass seine Seestreitkräfte der nach wie vor beanspruchten Geltung als wichtigster europäischen Seemacht entsprechen und hält deshalb zwei Flugzeugträger im Dienst.14
Flugzeugträger HMS Queen Elizabeth, Foto: Aircrew/MOD, HMS Queen Elizabeth conducts
vital system tests off the coast of Scotland MOD 45162753.jpg
Seit 1952 besitzt Großbritannien Nuklearwaffen. Ihr Bestand wurde seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich verkleinert und umfasst nur noch rund 200 Sprengköpfe.15 Waffenträger des nuklearen Arsenals sind ausschließlich vier große Unterwasserschiffe, von denen jedes sechzehn amerikanische TRIDENT-Raketen mitführen kann.15
Strategisches U-Boot der Dreadnough-Klasse, Grafik: Royal Navy OGL v1.0
Die Verteidigung des Mutterlandes ist nach britischer Auffassung in erster Linie Sache der Luftwaffe und der milizähnlichen Territorial Army.16 In seinen aktiven Streitkräften sieht Großbritannien in erster Linie ein außenpolitisches Instrument. Dabei sind seine außenpolitischen Interessen bemerkenswert kongruent mit denen der Vereinigten Staaten. Außer den Vereinigten Staaten hat auch kein Staat mehr Soldaten im Ausland stationiert als das Vereinigte Königreich.
Außenpolitik
Die NATO wurde von Großbritannien von Anfang an vor allem als Mittel angesehen, Russland draußen (aus Europa), die Vereinigten Staaten drin und Deutschland unten zu halten.17 Die deutsche Teilung entsprach ebenfalls diesem britischen Ziel. 1990 sprach sich die britische Premierministerin von allen vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs am deutlichsten gegen die Wiedervereinigung aus.18 Ihre Befürchtung lautete, ein vereinigtes Deutschland würde gerade in einem zusammenwachsenden Europa die Führungsrolle beanspruchen. Falsch lag sie damit nicht. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union mag damit zusammenhängen, dass es sich einer solchen Dominanz entziehen möchte. Auch wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied der Europäischen Union ist, wird ein deutscher Austritt aus der NATO dort auf dieselbe Ablehnung stoßen wie in den Vereinigten Staaten.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Britische_Streitkräfte_in_Deutschland#Heutige_Präsenz.
2 cia.gov/the-world-factbook/countries/united-kingdom/#people-and-society.
3 cia.gov/the-world-factbook/countries/united-kingdom/#economy.
4 cia.gov/the-world-factbook/countries/united-kingdom/#geography.
5 de.wikipedia.org/wiki/Anglo-Afghanische_Kriege.
6 Begriffserklärung bei de.wikipedia.org/wiki/The_Great_Game.
7 de.wikipedia.org/wiki/Britisch-französische_Beziehungen#Geschichte.
8 de.wikipedia.org/wiki/Irischer_Unabhängigkeitskrieg.
9 de.wikipedia.org/wiki/Britische_Kolonien_und_Protektorate.
10 statista.com/statistics/298490/defense-spending-united-kingdom-uk.
11 assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/779859/201901-_SPS.pdf.
12 sipri.org/sites/default/files/2023-04/2304_fs_milex_2022.pdf.
13 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Flugzeuge_und_Hubschrauber_der_Royal_Air_Force, vgl. dazu Teil 3 Luftstreitkräfte.
14 dazu im Einzelnen Teil 4 Seestreitkräfte.
15 atomwaffena-z.info/heute/atomwaffenstaaten/vereinigtes-koenigreich.
16 army.mod.uk/who-we-are/the-army-reserve.
17 Auf den ersten Generalsekretär der NATO, Lord Hastings Lionel Ismay, geht die Äußerung to keep the Russians out, the Americans in, and
the Germans down zurück, vgl. Josef Joffe, NATO: Soldiering On (content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,1886470,00.html).
18 Hans Hoyng, Eisernes Misstrauen in: DER SPIEGEL am 9. April 2013.
Polen
Das polnische Staatsgebiet ist mit 312.696 km² nicht ganz, aber ähnlich groß wie das deutsche. Seine rund 38 Millionen Einwohner entsprechen knapp der Hälfte der deutschen Bevölkerung. Deshalb ist das polnische Bruttoinlandsprodukt deutlich kleiner ist als das deutsche; nominal beträgt es 18.343 US-Dollar pro Kopf. Konkret beträgt es damit etwa ein Viertel der deutschen Wirtschaftsleistung1.
Geschichte
Polen war bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine bedeutende europäische Macht, die ihr Gewicht nicht selten in die Waagschale legte, auch militärisch. Polen-Litauen (auch Rzeczpospolita – wörtlich Königliche Republik – oder lateinisch Respublica Poloniae genannt) war ein von 1569 bis 1795 bestehender Staat mit einem Parlament (Sejm) und einen vom Adel gewählten König als Staatsoberhaupt.2 Im 17. Jahrhundert hielt sich Polen aus dem Dreißigjährigen Krieg heraus und dehnte sich gleichzeitig in einem Krieg gegen Russland von 1609 bis 1618 nach Osten aus, wobei es zeitweise (1610) Moskau und die nördliche Küste des Schwarzen Meeres besetzte.3 Nach dem Friedensschluss reichte das Staatsgebiet von Posen im Westen bis kurz vor Moskau im Osten. 1683 griff Polen in den Krieg Österreichs gegen das Osmanische Reich ein und erbrachte in der Schlacht am Kahlenberg den entscheidenden Beitrag zur Beendigung der Belagerung Wiens.4
Diese Epoche prägte das polnische Selbst- und Nationalbewusstsein. Dennoch scheiterte das polnische Staatswesen aufgrund innerer Streitigkeiten und wurde der bislang einzige failed state in Europa. Österreich, Russland und Preußen teilten das polnische Staatsgebiet zwischen 1772 und 1795 untereinander auf.3
Grafik: Mullerkingdom, CC BY-SA 3.0
Ab da existierte bis 1918 über 122 Jahre hinweg kein selbständiger polnischer Staat mehr. Versuche zur Wiedererrichtung gab es etliche. Sie wurden entweder unterdrückt oder scheiterten an nicht gehaltenen Versprechungen oder unerwarteten Misserfolgen auswärtiger Mächte. Die kollektive Erinnerung an diese Epoche wirkt traumatisch, zumal der Bestand des 1918 wiedererrichteten polnischen Staates gleich 1919 von der Sowjetunion im polnisch-sowjetischen Krieg5 und 1939 von Deutschland wieder in Frage gestellt wurde.
Vor diesem historischen Hintergrund ist in Polen von einer skeptischen Grundeinstellung gegenüber Deutschland und Russland auszugehen. Hier liegt auch der Grund, dass in Polen politische Parteien Zustimmung finden, die auch der Europäischen Union skeptisch gegenüberstehen, denn die Mitgliedschaft bedeutet eine teilweise Aufgabe jener vollen Souveränität, die Polen im Grunde erst 1989 wiedererlangt hat.
Außenpolitik
Anders als Frankreich ist Deutschlands östlicher Nachbar Polen sehr stark auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet, in denen es den einzigen zuverlässigen Garanten für seine nationale Eigenständigkeit sieht. Deshalb wirbt Polen um die dauerhafte Stationierung amerikanischer Truppen auf seinem Staatsgebiet und sieht über manche Winkelzüge der amerikanischen Politik großzügig hinweg: Zuerst hatte die CIA von dem polnischen Entgegenkommen Gebrauch gemacht und mindestens eine Black Site auf polnischem Staatsgebiet stationiert. Der CIA-Folterbericht veränderte Polens Einstellung zu den Vereinigten Staaten nicht, obwohl Polen sogar zu Schadensersatzzahlungen verurteilt wurde.6 Ministerpräsidentin Ewa Kopacz versicherte: Egal was in dem Bericht steht, es wird unser Verhältnis zu den USA nicht belasten.7
Dabei ging Polen zunächst wählerisch vor und erlaubte 2008, zunächst Flugabwehrraketen PATRIOT auf seinem Staatsgebiet aufzustellen,8 da dieses Rüstungssegment sehr teuer ist und Polen damals wirtschaftlich zu solchen Beschaffungen nicht in der Lage war. Für die Vereinigten Staaten wiederum ist Polen nützlich, weil sie dort ihren Raketenschirm gegen Russland aufbauen können.9 2022 wurden vorübergehend 1.700 Soldaten der US Army in Polen stationiert.10
Polen bezweifelt mit einigem Recht, dass die postsowjetischen Staaten Ukraine und Belarus dauerhaft existieren werden. Es fürchtet, dass sie früher oder später an Russland zurückfallen, das Polen dann noch mächtiger gegenüberstehen würde. Das Verhältnis zur Ukraine ist dabei aufgrund der Ereignisse in Wolhynien 1943 historisch nicht unbelastet,11 und große Teile der Ukraine waren früher selbstverständliche Bestandteile des polnischen Staatsgebiets. Deshalb gibt es anhaltende Spekulationen, dass Polen im Zuge des russisch-ukrainischen Krieges den westlichen Teil des ukrainischen Staatsgebiets unter seine Kontrolle bringen will.12 Unvorstellbar sind solche Ambitionen Polens nicht. Dafür spricht auch der Entschluss, die polnischen Landstreitkräfte zu den Stärksten Europas auszubauen.13 Obwohl dies mit einer Verdoppelung der Verteidigungsausgaben verbunden ist, die dann vier bis sogar fünf Prozent des polnischen Bruttoinlandsproduktes ausmachen werden, finden diese Pläne überwiegend Zustimmung in der polnischen Bevölkerung.14
Polen ist seit 1999 Mitglied der NATO. Seine Streitkräfte sind in Übereinstimmung mit den NATO-Vorgaben ausgebildet und organisiert. Ihre Ausrüstung stammt derzeit zu einem beachtlichen Teil noch aus sowjetischer Produktion. Abgaben von Rüstungsgütern aus Beständen der Bundeswehr hatten nach 1990 bereits eine Modernisierung eingeleitet. An gemeinsamen europäischen Rüstungsprojekten nimmt Polen so gut wie nicht teil.
Wie Polen auf einen Austritt Deutschlands aus der NATO reagieren wird, ist nicht abzusehen. Aus historischen Gründen wird die spontane Reaktion ablehnend sein, und diese Einstellung kann nur dadurch aufgeweicht werden, dass sich Deutschlands Rüstung vor allem auf dem Gebiet der Landstreitkräfte sichtbar zurückhält, da es jetzt schon über erheblich stärkere Luft- und Seestreitkräfte als Polen verfügt. Polen wird in diesem Fall am Bündnis mit den Vereinigten Staaten festhalten und seine Zusammenarbeit mit ihnen sogar auszubauen versuchen, was sicher auf amerikanische Zustimmung stößt, da dann die derzeit in Deutschland vorhandenen amerikanischen Militäreinrichtungen kurzerhand nach Polen verlegt werden. Eine Verteidigungsorganisation auf der Ebene der Europäischen Union wird Polen nicht ablehnen, falls diese die NATO ersetzt und gegen Russland gerichtet ist, doch wird es zur Rückversicherung zumindest mittelfristig weiterhin mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten. Eine Handhabe zur Verhinderung eines deutschen NATO-Austritts hat Polen nicht.
Aufgrund seiner geografischen Lage ist Polen ein natürlicher Verbündeter aller mitteleuropäischen Staaten gegen eine russische Aggression. Wie die Bundesrepublik im Kalten Krieg ist heute Polen in dieser Richtung der sogenannte Frontstaat. Deshalb ist seine derzeitige Aufrüstung einerseits zu begrüßen. Andererseits kann Polen durch seine starke Anlehnung an die Vereinigten Staaten von diesen als Werkzeug eingesetzt werden, machtpolitische Veränderungen innerhalb Europas herbeizuführen (in ähnlicher Weise wird derzeit die Ukraine von den Vereinigten Staaten instrumentalisiert). Vor allem in dem Fall, dass ein deutscher NATO-Austritt in die Neutralität führt, wird auch auf eine solche mögliche Rolle Polens zu achten sein, wobei Polen aufgrund einer dann voraussichtlich sehr leistungsfähigen Rüstungsindustrie im Gegensatz zur Ukraine von den Vereinigten Staaten dann nicht oder zumindest weit weniger unterstützt werden müsste. Mit amerikanischen Überlegungen in dieser Hinsicht ist durchaus zu rechnen, denn durch einen deutschen NATO-Austritt sinken die amerikanischen Einflussmöglichkeiten auf Europa stark ab. Polen ist daher im unmittelbaren Umfeld Deutschlands der komplizierteste Machtfaktor, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf und mit größter Sorgfalt berücksichtigt werden muss.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 Zahlengrößen 2022 nach de.wikipedia.org/wiki/Polen.
2 Norman Davies, Im Herzen Europas – Geschichte Polens, 5. Auflage, 2020.
3 Hans Roos: Polen von 1668 bis 1795 in: Handbuch der Europäischen Geschichte, Band 4, Seiten 690 bis 752.
4 welt.de/geschichte/article149358500/Polens-Panzerreiter-retteten-Wien-vor-den-Tuerken.html.
5 wie Fußnote 2, Seite 75.
6 Danielle Wiener-Bronner, Inside the CIA’s Secret Polish Torture Site am 24. Januar 2014 in The Atlantic,
online theatlantic.com/national/archive/2014/01/poland-cia-secret-prison-black-site/357344.
7 Michal Kokot, In Polen getan, was in den USA verboten war am 12. Dezember 2014 in: ZEIT,
zeit.de/politik/ausland/2014-12/polen-cia-folter-gefaengnis/komplettansicht.
8 welt.de/politik/article2309925/USA-stationieren-Raketen-in-Polen.html.
taz.de/US-Raketenstationierung/!5177295.
9 linkezeitung.de/2022/03/14/atomwaffenfaehige-us-raketenbasis-in-polen-fertiggestellt/comment-page-1.
10 dw.com/de/us-verstärkung-in-polen-eingetroffen/a-60673216.
11 Florian Kellermann, Dunkle Geschichte eines blutigen Sonntags am 11. Juli 2016 auf Deutschlandfunk,
deutschlandfunk.de/polen-und-ukraine-dunkle-geschichte-eines-blutigen-sonntags-100.html.
12 Tomasz Kurianowicz, Russischer Geheimdienst: Polen will Kontrolle über die Westukraine übernehmen am 28. April 2022
in: Berliner Zeitung, online berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/russischer-geheimdienst-polen-will-kontrolle-ueber-die-westukraine-
uebernehmen-li.224885.
ebenso 2023: kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/ukraine/6308977/Angebliche-Beweise_Putin-wirft-Polen-vor-die-Westukraine-besetzen.
13 Teil 2 Landstreitkräfte stellt die polnischen Pläne im Einzelnen vor und erörtert sie auf Umsetzbarkeit und Auswirkungen.
14 sueddeutsche.de/politik/polen-armee-ukraine-aufruestung-1.5745430,
welt.de/politik/ausland/plus243545149/Aufruestung-Polen-schraubt-seine-Militaerausgaben-auf-fuenf-Prozent-hoch.html,
srf.ch/news/international/bedrohung-durch-russland-waffenstarrendes-warschau-polen-ruestet-massiv-auf.
Tschechien
Die Tschechische Republik ist der zweite östliche Nachbar Deutschlands und ebenfalls NATO-Mitglied sowie Mitglied der Europäischen Union. Sie hat 10,5 Millionen Einwohner und ein 78.866 km² großes Staatsgebiet1. Seine Wirtschaftsleistung ist wesentlich stärker als die Polens; das Bruttoinlandsprodukt lag 2022 bei 26.849 Dollar pro Kopf.2 Trotzdem wagt Tschechien wie Polen nicht, die Euro-Währung zu übernehmen, sondern hält an der nationalen Währung Krone fest. Die Fertilitätsrate liegt mit 1,62 Kindern über dem europäischen Durchschnitt.
Streitkräfte
Die tschechischen Streitkräfte bestehen aus 26.000 Berufssoldaten, die durch 11.000 Reservisten ergänzt werden.3 Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO kümmert Tschechien nicht. Seine Verteidigungsausgaben sind bis 2023 immerhin auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen.3 Die Erhöhung der Ausgaben soll insbesondere alte sowjetische Waffensysteme aus dem Kalten Krieg durch moderne ersetzen. An eine Vergrößerung seiner Streitkräfte denkt Tschechien auch nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine nicht.
Außenpolitik
2003 gehörte Tschechien zur Koalition der Willigen, die Soldaten in den Irakkrieg entsandten. Der damalige Staatspräsident war ein Befürworter des Krieges, während die Bevölkerung den Krieg mehrheitlich ablehnte.4 Die Idee der NATO eines Abwehrschirms gegen russische Raketen hatte Tschechien 2011 zum Verdruss der Vereinigten Staaten abgelehnt, insbesondere eine Stationierung von Raketen auf tschechischem Staatsgebiet.5 Amerikanische Militärbasen gibt es in Tschechien nicht.
Haltung der Bevölkerung
In Tschechien gibt es offenbar breite Strömungen, die sowohl der Europäischen Union als auch der NATO reserviert gegenüberstehen. Dies wird in den Medien sehr unterschiedlich dargestellt:
Eine neue Umfrage hat gezeigt, dass in Tschechien das Vertrauen in die EU, die NATO und die UNO deutlich gesunken ist. Das Vertrauen in die EU sank von 58 Prozent im Jahr 2022 deutlich auf 46 Prozent in 2023. …
Ein ähnlicher Trend gilt auch für das Vertrauen in die NATO und die Vereinten Nationen, obwohl die Mehrheit der Tschechen immer noch beiden Institutionen vertraut. … Während das Vertrauen in die NATO zwischen 2022 und 2023 von 67 Prozent auf 56 Prozent sank, ging es bei den Vereinten Nationen von 63 Prozent auf 52 Prozent zurück. Gleichzeitig gaben 36 Prozent der Befragten an, dass sie der NATO nicht vertrauen, während 37 Prozent sagten, dass sie der UNO nicht vertrauen.6
Diese Einschätzung der öffentlichen Meinung in Tschechien steht in deutlichem Gegensatz zu der des Bayrischen Rundfunks:7
Der Ukrainekrieg scheint die jahrelang spürbare Europaskepsis und das Misstrauen vieler Tschechen gegen Europa zu beseitigen: „Man spürt jetzt den starken Zusammenhalt in Europa und der westlichen Welt,“ sagt Dana Biskup. Auch Martin Korinek sieht das so: „Ich glaube, dass Europa mehr zusammenwächst und dass wir endlich selbst auf uns aufpassen müssen, nicht nur darauf vertrauen, dass die Amerikaner Truppen in Europa haben.“7
Legt man diese Stimmungsbilder übereinander, ist vorstellbar, dass Tschechien möglicherweise sogar ein gewisses Verständnis für einen NATO-Austritt Deutschlands zeigen würde, ebenso, dass die tschechische Einstellung gegenüber der Europäischen Union aufgeschlossener würde, wenn deren Institutionen um eine Verteidigungsorganisation ergänzt würden.
Mit Kroatien, Österreich, der Slowakei, Slowenien und Ungarn bildet Tschechien seit 2010 die Zentraleuropäische Verteidigungskooperation (Central European Defence Cooperation – CEDC).8 Polen hat bei dieser Initiative einen Beobachterstatus. Von den Teilnehmern her ist sie eine militärische Ausprägung der Visegrád-Gruppe. Zu vernehmen ist seit 2017 nicht mehr viel. Dabei ist die Idee durchaus bemerkenswert, weil sie jene kleinen, mit Ausnahme Österreichs erst ab 1990 entstandenen Staaten umfasst, die jeweils für sich genommen nicht in der Lage sind, effektive Streitkräfte aufzubauen, es gemeinsam aber wären.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 czso.cz/csu/czso/population.
2 imf.org/en/Publications/WEO/weo-database/2023/October/download-entire-database.
3 cia.gov/the-world-factbook/countries/czechia/#military-and-security.
4 de.wikipedia.org/wiki/Streitkräfte_der_Tschechischen_Republik#Auslandseinsätze, ohne Beleg für die Information.
5 Klaus Brill, Umstrittene US-Pläne: Raketenabwehr in Europa: Tschechien steigt aus am 15. Juni 2011 in: Süddeutsche Zeitung
(sueddeutsche.de/politik/umstrittene-us-plaene-raketenabwehr-in-europa-tschechien-schert-aus-1.1108888).
6 Aneta Zachová, Tschechien – Vertrauen in EU, NATO und UN drastisch gesunken am 12. Juli 2023 auf euraktiv.de
(euractiv.de/section/europa-kompakt/news/tshechien-vertrauen-in-eu-nato-und-un-drastisch-gesunken).
7 Renate Roßberger, Was sagen die Tschechen zum Krieg in der Ukraine? am 19. März 2023 auf br.de
(br.de/nachrichten/bayern/was-sagen-tschechen-zum-krieg-in-der-ukraine,T0RA3Ey).
8 de.wikipedia.org/wiki/Zentraleuropäische_Verteidigungskooperation.
Benelux-Union
Die Benelux-Union ist kaum mehr bekannt, obwohl sie bis heute besteht.1 Gebildet wird sie von Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. Schon 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, wurde eine Zollunion zwischen den drei Staaten vereinbart, die mit dem Inkrafttreten des Benelux-Vertrages 1960 weitgehend umgesetzt wurde. Die europäische Einigung machte die Vereinbarungen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwar weitgehend hinfällig, weiterhin bedeutend sind aber Aspekte der politischen Zusammenarbeit. Die Benelux-Union erneuerte sich 2008 mit einem neuen Abkommen.
Geschichte
Historisch sind alle drei Staaten aus den nördlichen und westlichen Gebieten der Herzöge von Burgund entstanden, den sogenannten Siebzehn Provinzen, die seit dem 14. Jahrhundert existierten und in den Generalstaaten in Brüssel vertreten waren.2 Ab dem 16. Jahrhundert gab es politische Veränderungen, doch 1815 vereinigten sie sich wieder im Königreich der Vereinten Niederlande. Im Zuge der Belgischen Revolution 1830 spalteten sich die katholischen südlichen Provinzen ab, weil sie sich durch die protestantischen Provinzen bevormundet fühlten, und errichteten das Königreich Belgien.3 Luxemburg blieb bis 1890 durch eine Personalunion mit den Niederlanden verbunden.2 Insofern ist die Benelux-Union Ausprägung einer zwanglosen, historisch begründeten Zusammengehörigkeit, in der das am Ende des Mittelalters untergegangene Herzogtum Burgund heimlich fortbesteht.
Länderdaten
Die Benelux-Union hat 2023 insgesamt 28.478.256 Einwohner, die pro Kopf 48.666 Euro erwirtschaften (mehr als Deutschland) und auf nur auf 74.654 km² zusammenwohnen,1 was die höchste Bevölkerungsdichte Europas bedeutet. Die Fertilitätsrate liebt in Belgien bei 1,53, in den Niederlanden bei 1,49 Kindern.
Streitkräfte
Auch militärisch arbeiten die drei Staaten zusammen. Belgien und die Niederlande haben etwa eine gemeinsame Marine.4
Niederlande
Ihre Streitkräfte bestehen aus 41.000 Berufssoldaten. Die Koninklijke Landmacht ist eng mit dem Heer der Bundeswehr verbunden, in welchem die drei niederländischen Kampfbrigaden fest eingeplant sind. Ihre Ausrüstung ist bislang vor allem den Anforderungen internationaler Interventionseinsätze angepasst und entstammt überwiegend deutscher Produktion.5 Flugzeuge kauft die Koninklijke Luchtmacht dagegen in den Vereinigten Staaten, vor allem Kampfflugzeuge (F-35A) und Kampfhubschrauber (APACHE).6 Die niederländische Schiffbauindustrie ist sehr leistungsfähig, weshalb Kriegsschiffe im eigenen Land gebaut werden. Amerikanische Militärbasen gibt es in den Niederlanden indes nicht.7 Die Militärausgaben der Niederlande lagen ab 2010 knapp über einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts und wurden bis 2022 auf 1,58 Prozent angehoben.8
Belgien
Die belgischen Streitkräfte bestehen aus 25.000 Berufssoldaten und kosteten 2022 nur 1,18 Prozent des belgischen Bruttoinlandsprodukts.9 Die Landstreitkräfte bestehen nur aus leichter Infanterie für internationale Interventionseinsätze und sehr wenig Artillerie. Ihre Ausrüstung stammt überwiegend aus Frankreich.10 Die Luftstreitkräfte fliegen amerikanische F-16 und künftig F-35A.11 Amerikanische Truppenverbände sind in Belgien nicht stationiert.7 Dafür sind die zentralen Institutionen der NATO in Brüssel und Umgebung angesiedelt.
Luxemburg
Der kleine, aber reiche Staat Luxemburg (BIP pro Kopf 2022: 136.598 US-Dollar)12 unterhält etwa 1.000 Berufssoldaten, für die er 2022 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ausgab13. Trotz seines geringen eigenen Engagements tritt Luxemburg sehr fordernd auf, wenn es darum geht, gemeinsame NATO-Einrichtungen zu schaffen. In Luxemburg sind keine amerikanischen Streitkräfte stationiert.7
Die Niederlande, Belgien und Luxemburg, sind an einer engen Zusammenarbeit der europäischen Staaten interessiert. Wenn ein Austritt Deutschlands aus der NATO mit dem Angebot verbunden würde, gleichzeitig eine europäische Verteidigungsorganisation zu errichten, wird ihre Resonanz möglicherweise positiv sein. Auf die Niederlande ist Rücksicht zu nehmen, weil von Rotterdam aus die Pipelinestrecken verlaufen, die zu den deutschen Militärflugplätzen führen.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Benelux#Benelux_als_Gruppe_dreier_Staaten.
2 de.wikipedia.org/wiki/Siebzehn_Provinzen.
3 de.wikipedia.org/wiki/Belgische_Revolution.
4 dazu Teil 3 Seestreitkräfte.
5 defensie.nl/organisatie/landmacht.
6 defensie.nl/organisatie/luchtmacht.
7 de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Militärbasen_der_Vereinigten_Staaten_im_Ausland#Europa.
8 de.statista.com/statistik/daten/studie/581767/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-in-den-niederlanden.
9 de.statista.com/statistik/daten/studie/581797/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-in-belgien.
10 cia.gov/the-world-factbook/countries/belgium/#military-and-security.
11 Sonderausgabe World of Air Forces, Seite 12, von Flight Global (online flightglobal.com/download?ac=90688).
12 de.statista.com/statistik/daten/studie/14441/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-pro-kopf-in-luxemburg.
13 de.statista.com/statistik/daten/studie/587954/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-in-luxemburg.
Neutrale Nachbarn
Österreich und die Schweiz, die beiden südlichen Anrainerstaaten der Bundesrepublik, waren nie
NATO-Mitglieder, sondern betonen ausdrücklich ihre Neutralität.
Definition Neutralität1
Im internationalen Sprachgebrauch wird unter Neutralität die Unparteilichkeit eines Staates im Falle militärischer Auseinandersetzungen zwischen anderen Staaten verstanden. Ein neutraler Staat tritt nicht aktiv als Partei in einem bewaffneten Konflikt auf und leistet auch keine direkte oder indirekte militärische Unterstützung an eine der Konfliktparteien (etwa Waffenlieferungen oder Truppentransporte). Als direkte Ergebnisse der Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 legen die Haager Abkommen V und XIII die wesentlichen Inhalte von Neutralität im internationalen Recht fest. Diese umfassen
- das Recht auf Unverletzlichkeit des Territoriums neutraler Staaten,
- die Pflicht neutraler Staaten, die Verletzung ihres Status zu verhindern,
- die Pflicht neutraler Staaten, sich in Hinblick auf Kampfhandlungen und die Begünstigung von Kriegsparteien zu enthalten.
Diese Rechte und Pflichten betreffen militärische Angelegenheiten. Sonstige diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu kriegsführenden Parteien sind nicht betroffen. Staaten, die keinem Militärbündnis angehören, müssen nicht unbedingt neutral sein. Sie werden allgemein als bündnisfrei bezeichnet. Neutralität kann in Bezug auf einen konkreten Konflikt oder dauerhaft erklärt werden.
Österreich
Nach dem 2. Weltkrieg wurde Österreich in vier Besatzungszonen geteilt und befand sich zwischen den Einflusssphären der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Um eine dauerhafte Teilung des Landes zu verhindern, sollte es zu keiner der beiden weltpolitischen Sphären gehören. Als sich die militärische Integration Westeuropas ab 1950 verstärkte, sprach sich die Sowjetunion für eine vertraglich verankerte Neutralität Österreichs aus. Damit waren die Vereinigten Staaten einverstanden, weil sie damit rechneten, dass sich Österreich (und auch die Schweiz) im Fall eines Konflikts ohnehin auf die Seite des Westens stellen würden.
Das Moskauer Memorandum zwischen Österreich und der Sowjetunion war lediglich eine politische Absichtserklärung, die innerstaatlich im Neutralitätsgesetz umgesetzt wurde. Es legt fest, dass Österreich seine immerwährende Neutralität aufrechterhalten und verteidigen, keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen wird. Das Neutralitätsgesetz wurde 1955 mit Zwei-Drittel-Mehrheit als Bundesverfassungsgesetz beschlossen.
In der österreichischen Verfassungsrechtslehre wird einhellig die Auffassung vertreten, dass die Neutralität nicht Teil der Grundprinzipien der Bundesverfassung sei. Daher könne das Neutralitätsgesetz jederzeit vom Nationalrat und Bundesrat geändert werden, ohne dass es einer Volksabstimmung bedürfe. Es sei aber empfehlenswert, eine Änderung des Neutralitätsgesetzes nicht ohne Volksabstimmung über eine Teiländerung der Bundesverfassung zuzuführen. Immerhin halten nach 2022 durchgeführten Meinungsumfragen 71 Prozent der Österreicher am Neutralitätsgesetz fest.2 An diesem Meinungsbild änderte offenbar auch der Krieg um die Ukraine nichts.
Schweiz
Die Neutralität ist eine Grundausrichtung der Schweizer Außenpolitik. Sie verbietet der Schweiz, sich an bewaffneten Konflikten zu beteiligen und militärische Bündnisse einzugehen. Die Neutralität der Schweiz geht auf die Niederlage der Eidgenossen im Jahr 1515 in Marignano und auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Sie wurde jedoch erst 1815 auf dem Wiener Kongress von der internationalen Staatengemeinschaft ausdrücklich anerkannt.3 Die Neutralität wiegt in der Schweiz schwer. Sie galt die längste Zeit sogar als Hindernis für den Beitritt zu den Vereinten Nationen.4
Mit der Neutralität genoss auch die Wehrpflicht in der Schweiz die längste Zeit große Akzeptanz, da sie sich nur auf die Verteidigung des eigenen Landes beschränkte. 2019 wurde von der Schweizer Regierung eine Studie Sicherheit 2019 in Auftrag gegeben, aus der das Resümee gezogen wurde, Schweizerinnen und Schweizer sind armeefreundlich.5 Auszug:
Die USA halten 28 % der Befragten für vertrauenswürdig, China 22 % und Russland 16 %. … Zu diesen Aussagen passt, dass das Vertrauen in Institutionen und Behörden 2019 insgesamt signifikant gestiegen ist und über dem langjährigen Schnitt liegt … Die Polizei genießt nach wie vor das höchste Vertrauen (8.0) … Die mittleren Positionen im «Vertrauensindex» belegen die Schweizer Wirtschaft (7.0), das Eidgenössische Parlament (6.7) und die Schweizer Armee (6.6). Am Ende des Spektrums befinden sich die Medien (5.8) und die politischen Parteien (5.6). Die Neutralität genießt bei der Schweizer Stimmbevölkerung auch 2019 einen sehr großen Rückhalt. Sie wird von 96 % (+1 Prozentpunkt gegenüber 2018) der Befragten befürwortet. Zudem sind 86 % (+1 Pp) der Meinung, dass die Neutralität «untrennbar mit dem schweizerischen Staatsgedanken verbunden» sei. Ein Beitritt zur EU wird nur von 15 % (-1 Pp) der Befragten unterstützt, einen NATO-Beitritt befürworten 18 % (-1 Pp). … Die Schweizer Stimmbevölkerung bewertet die Armee insgesamt positiv. Der Notwendigkeit der Armee stimmen 79 % (-2 Pp) zu. Signifikant mehr Schweizerinnen und Schweizer (60 %, +4 Pp) bevorzugen eine Milizarmee gegenüber einer Berufsarmee (36 %, -4 Pp). Mit den Leistungen der Armee sind die Befragten überdurchschnittlich zufrieden (6.5 auf einer 10er Skala, langjähriger Schnitt: 6.3).5
Dennoch gibt es auch in der Schweiz gewichtige Stimmen, die die Neutralität ablehnen, auch unter Politikwissenschaftlern,6 und offenbar vornehmlich unter Redakteuren und Lesern der neuen Züricher Zeitung,7 die in der Schweiz zu den meinungsbildenden Medien gehört.
Partnership for Peace
Es hat an amerikanischen Bemühungen nicht gefehlt, Österreich und die Schweiz trotz ihrer Neutralität dennoch irgendwie an die NATO zu binden. Dafür wurde 1994 das Konstrukt der Partnership for Peace ins Leben gerufen, um überhaupt mit Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind, eine Form der Zusammenarbeit zu schaffen.8 Deren Ausmaß kann von jedem teilnehmenden Staat selbst bestimmt werden. Meist handelt es sich dabei um gemeinsame Militärübungen und Beachtung der NATO-Standards bei der Beschaffung neuen militärischen Geräts. Die Teilnahme an friedenserhaltenden und friedensschaffenden Missionen der NATO ist ebenfalls möglich. Vorgesehen ist auch die Konsultation der NATO bei Bedrohung eines Unterzeichnerstaats von außen. Die Partnership for Peace ist jedoch ausdrücklich kein Verteidigungsbündnis.
Länderdaten
Österreich ist 83.882 km² groß und hatte am 1. Januar 2024 9.158.750 Einwohner. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug Ende 2022 insgesamt 471 Milliarden Dollar, pro Kopf 52.192 Dollar,9 deutlich mehr als Deutschland. Die Militärausgaben betrugen 2023 4,08 Milliarden Euro und entsprechen damit nur 0,84 Prozent des BIP.10 Die österreichische Bevölkerung schrumpft rasch: Die Geburtenrate lag 2023 nur bei 1,41 Kindern je Frau.11
Das Schweizer Staatsgebiet ist 41.291 km² groß und wird von 8,8 Millionen Menschen bewohnt, von denen allerdings 1,9 Millionen Ausländer sind.12 Dies zeigt die bemerkenswerte relative Größe der Schweizer Armee. Die Militärausgaben sind zwischen 2019 (4,28 Milliarden Franken) und 2023 (4,94 Milliarden Franken) ungefähr gleichgeblieben.13 Letzteres entspricht 0,76 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.14 Dieses beträgt in Franken 781,46 Milliarden,15 pro Kopf 88.717 Franken,16 was erheblich über der deutschen Wirtschaftsleistung liegt. Die Geburtenrate liegt in der Schweiz nur noch bei 1,39 Kindern je Frau.11
Von offenbar aus Überzeugung neutralen Staaten wie Österreich und der Schweiz hätte ein deutscher NATO-Austritt keinen politischen Widerstand zu erwarten.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 parlament.gv.at/fachinfos/rlw/Was-macht-die-oesterreichische-Neutralitaet-aus.
2 gallup.at/de/unternehmen/studien/2022/zwei-laender-umfrage-zum-thema-neutralitaet-oesterreich-und-schweiz.
3 eda.admin.ch/aboutswitzerland/de/home/politik-geschichte/die-schweiz-und-die-welt/neutralitaet.html.
4 Emil Obermann, Gesellschaft und Verteidigung, 1970, Seite 275.
5 web.archive.org/web/20200205175919/https://www.vbs.admin.ch/de/vbs/zahlen-fakten/meinung-armee.html.
6 Jakob Tanner, Die Schweizer Neutralität – ein Anachronismus,
online geschichtedergegenwart.ch/die-schweizerische-neutralitaet-ein-anachronismus.
7 nzz.ch/meinung/ob-neutralitaet-oder-eu-die-schweiz-betreibt-realitaetsverweigerung-ld.1826301,
nzz.ch/schweiz/wie-sieht-die-neutralitaet-20-aus-ld.1845833,
nzz.ch/meinung/die-schweiz-steckt-in-der-neutralitaetsfalle-es-braucht-einen-befreiungsschlag-ld.1825155,
nzz.ch/meinung/schweizer-neutralitaet-dient-zu-oft-als-ausrede-die-schweiz-muss-international-verantwortung-
uebernehmen-ld.1771598.
8 nato.int/cps/en/natolive/topics_50349.htm.
9 de.wikipedia.org/wiki/Österreich.
10 de.statista.com/statistik/daten/studie/300299/umfrage/militaerausgaben-in-oesterreich.
11 datatopics.worldbank.org/world-development-indicators.
12 de.wikipedia.org/wiki/Schweiz.
13 de.statista.com/statistik/daten/studie/295584/umfrage/bundesausgaben-fuer-verteidigung-in-der-schweiz/
14 de.statista.com/statistik/daten/studie/300321/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bruttoinlandsprodukt-in-der-schweiz.
15 de.statista.com/statistik/daten/studie/14415/umfrage/bruttoinlandsprodukt-in-der-schweiz.
16 de.statista.com/statistik/daten/studie/14451/umfrage/bruttoinlandsprodukt-pro-kopf-in-der-schweiz.
Dänemark
Der letzte Staat in der Reihe der Nachbarländer mit gemeinsamen Landgrenzen ist Dänemark.
Länderdaten
Das dänische Staatsgebiet (ohne Grönland) ist mit 41.987 km² ähnlich groß wie das der Schweiz, seine Bevölkerung mit 5.932.654 Menschen jedoch wesentlich kleiner.1 Das Bruttoinlandsprodukt beträgt 405,69 Milliarden Dollar,2 pro Kopf 69.466 Dollar,3 in dieser Hinsicht deutlich über Deutschland. Die Verteidigungsausgaben sollen sich bis 2030 verdreifachen und bis dahin insgesamt 20 Milliarden Euro betragen. Dies wurde 2023 unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine beschlossen.4
Strategische Bedeutung
Dänemarks Haltung zur NATO ist ausschließlich zustimmend. Es gehört zu jenen kleinen europäischen Staaten, die wegen der geringen Größe ihrer Bevölkerung militärisch zwangsläufig schwach sind und sich in einem Bündnis sicherer fühlen. Die aktiven dänischen Truppen sind mit insgesamt rund 15.400 Soldaten nicht sehr umfangreich.5 Ergänzt werden sie durch örtliche Milizverbände (Hjemmeværnet – Heimwehr), welche die aus Berufssoldaten bestehenden Streitkräfte unterstützen. Aktuell sind dies 16.398 aktive Freiwillige, 30.557 Reservisten sowie 650 Angestellte.6 Für die NATO wiederum hat Dänemark einen erheblichen strategischen Wert:
- Dänemark kontrolliert den Übergang von der Ostsee in die Nordsee. Der Schiffsverkehr von der Ostsee in die Nordsee muss entweder zwischen der Insel Fünen und dem Festland den Kleinen Belt (geringste Breite 600 Meter) durchfahren, den Weg zwischen den Inseln Fünen und Seeland über den Großen Belt (geringste Breite 20.000 Meter) oder den Weg zwischen Seeland und dem schwedischen Festland durch den Öresund (geringste Breite 4.000 Meter) wählen. Alle drei Meerengen sind nur zwischen 40 und 60 Meter tief, weshalb auch Unterwasserfahrzeuge ohne weiteres erkannt werden können.
- Die zu Dänemark gehörende Insel Grönland ermöglicht die Kontrolle über den Nordatlantik. Auf dem europäischen Staatsgebiet Dänemarks befinden sich keine amerikanischen Militärstützpunkte. Lediglich in Grönland stellt Dänemark den Vereinigten Staaten die Luftwaffenbasis Thule zur Verfügung, die für Zwischenstopps auf Transatlantikflügen Bedeutung hat.
Einen NATO-Austritt Deutschlands wird Dänemark bedauern, ihn aber nicht verhindern können.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 european-union.europa.eu/principles-countries-history/key-facts-and-figures/life-eu_de.
2 de.statista.com/statistik/daten/studie/14394/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-in-daenemark.
3 de.statista.com/statistik/daten/studie/14430/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-pro-kopf-in-daenemark.
4 Aurélie Pugnet, Dänemark plant Verdreifachung der Verteidigungsinvestitionen am 30. Mai 2023 auf euroaktiv.de,
euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/daenemark-plant-verdreifachung-der-verteidigungsinvestitionen.
5 de.statista.com/statistik/daten/studie/1402023/umfrage/truppenstaerke-der-streitkraefte-von-daenemark.
6 hjv.dk/Sider/default.aspx.
Zu den skandinavischen Staaten hat Deutschland nur Seegrenzen. Schweden und Finnland gehörten zwar zur Europäischen Union, waren aber bis 2022 traditionell militärisch neutral. 2022 sind sie beide jedoch unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine der NATO beigetreten. Der dritte skandinavische Staat Norwegen wiederum ist Gründungsmitglied der NATO, aber nicht Mitglied der Europäischen Union. Untereinander halten diese drei Staaten Militäreinsätze für ausgeschlossen; als potentieller Gegner wird allein Russland angesehen, mit dem aber nur Finnland und Norwegen gemeinsame Landgrenzen haben. Gemeinsam ist allen drei skandinavischen Staaten, dass sie für europäische Verhältnisse große Staatsgebiete besitzen, jedoch nur eine relativ kleine Bevölkerung, die zudem schneller schrumpft als im europäischen Durchschnitt. Wirtschaftlich sind sie alle erfolgreich:
Staat | Staatsgebiet1 | Bevölkerung² | Fertilitätsrate2a
(Kinder je Frau) |
Brutto-
inlandsprodukt³ (Mio. Dollar) |
Brutto-
inlandsprodukt4 pro Kopf |
Finnland | 338.145 km² | 5.543.228 | 1,32 | 283,124 | 51.030 |
Norwegen | 323.802 km² | 5.454.319 | 1,41 | 579,422 | 105.826 |
Schweden | 450.295 km² | 10.581.025 | 1,52 | 591,189 | 56.188 |
Finnland
Die Verteidigungskräfte Finnlands (Puolustusvoimat) bestehen im Frieden aus 30.000 Soldaten, davon 22.000 in den Landstreitkräften, 5.000 in den Seestreitkräften und 3.000 in den Luftstreitkräften; im Kriegsfall können rasch 280.000 Reservisten mobilisiert werden.5
Nach der finnischen Verfassung besteht eine allgemeine Wehrpflicht. Je nach Ausbildungsziel dauert der Dienst sechs bis zwölf Monate. Zwar besteht die Möglichkeit zur Wehrdienstverweigerung, doch leisten mehr als 80 Prozent jedes Jahrgangs Militärdienst. Jährlich werden rund 27.000 Wehrpflichtige ausgebildet, zudem werden bis zu 35.000 Bürger zu Reserveübungen einberufen. Frauen steht die Möglichkeit zum freiwilligen Wehrdienst offen.6
Die Ausrüstung ist modern. Die Luftstreitkräfte können 62 taktische Kampfflugzeuge einsetzen, was für heutige europäische Verhältnisse eine beträchtliche Zahl ist. Die Militärausgaben betrugen 2022 4,76 Milliarden US-Dollar und machten 1,76 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.7
Die strategische Bedeutung Finnlands besteht in der langen Landgrenze mit Russland, von der aus es nicht weit zu den Basen der russischen Nordflotte ist. Zu dieser gehört der größte Teil der Unterwasserschiffe mit strategischen Interkontinentalraketen, die einen wesentlichen Bestandteil der ausschließlich gegen die Vereinigten Staaten gerichteten Nuklearrüstung Russlands ausmachen. Die abgelegenen Häfen der Nordflotte am Weißen Meer hatte die Sowjetunion einst bewusst ausgewählt, um vor einer Bedrohung durch Landstreitkräfte sicher zu sein. Finnlands Beitritt ist ein erfolgreicher Schachzug der NATO: Andere eisfreie Häfen für die Nordflotte stehen Russland nicht zur Verfügung. Eine ähnliche Bedrohung entsteht durch den finnischen Beitritt für den Raum Sankt Petersburg. Beides zwingt Russland, Land- und Luftstreitkräfte an seine Nordflanke zu verlegen, was insgesamt eine Schwächung bedeutet.
Norwegen
Die norwegischen Streitkräfte (Forsvaret, wörtlich: Verteidigung) bestehen aus rund 27.000 aktiven Soldaten in Land-, Luft- und Seestreitkräften sowie einer – ähnlich wie in Dänemark – einer milizartigen Heimwehr (Heimevernet) mit 140.000 Reservisten. Dazu besteht eine Wehrpflicht für alle Männer und Frauen ab neunzehn Jahren; die Dienstzeit beträgt zwölf Monate in den regulären Streitkräften, an die sich sechs Monate in der Heimwehr anschließen.8
Die Ausrüstung ist modern. Norwegen verfügt über eine leistungsfähige Rüstungsindustrie, die neben Kriegsschiffen Seezielflugkörper (NMS) und Flugabwehrsysteme (NASAMS) herstellt. Die Luftstreitkräfte können 34 moderne amerikanische Kampfflugzeuge F-35A einsetzen. Die Militärausgaben betrugen 2022 7,2 Milliarden Dollar und machten 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.9
Die strategische Bedeutung Norwegens liegt in der Möglichkeit, von seiner Westküste aus bis Island den Nordatlantik zu überwachen sowie von seiner Nordküste aus die Barentssee zu kontrollieren.
Schweden
Die schwedischen Streitkräfte (Försvarsmakten, wörtlich: Verteidigungsmacht) bestehen aus rund 60.000 Soldaten in den Landstreitkräften (Armén), Luftstreitkräften (Flygvapnet) und der Marine (Marinen)10 sowie rund 25.000 Freiwilligen in der milizähnlichen Heimwehr (Hemvärnet).11 Die Wehrpflicht wurde 2010 ausgesetzt, aber seit 2017 wieder durchgeführt.
Schweden verfügt über eine leistungsfähige Rüstungsindustrie und stellt selbst Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge (Saab GRIPEN) und gemeinsam mit Deutschland Seezielflugkörper (RBS15) her. Die Militärausgaben betrugen 2020 5,22 Milliarden Euro und machten 1,24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.12
Schwedens strategische Bedeutung liegt in der Kontrolle über die meisten Gebiete der Ostsee, vor allem von der Insel Gotland aus. Seine (nicht zahlreichen, aber modernen) Schiffe verhelfen der NATO gegenüber der Baltischen Flotte Russlands zu einem erdrückenden Übergewicht in der Ostsee.13
Perspektiven
Amerikanische oder sonstige ausländische Truppen sind in den skandinavischen Ländern nicht stationiert. Während seiner seit 1949 andauernden Mitgliedschaft hat Norwegen die Unterbringung von NATO-Einrichtungen auf seinem Staatsgebiet stets abgelehnt. Gleich nach dem Beitritt Schwedens gab dessen Regierungspartei bekannt, keine NATO-Stützpunkte auf dem schwedischen Staatsgebiet zuzulassen.14 Dennoch war der NATO-Beitritt der jahrzehntelang neutralen Staaten Finnland und Schweden sowohl ein politischer als auch ein strategischer Erfolg der amerikanischen Politik.
Schweden und Finnland werden Deutschland für einen Austritt aus der NATO kaum kritisieren können, denn sie waren selbst über viele Jahrzehnte hinweg neutral. Mit Schweden verbindet Deutschland vor allem auf dem Gebiet militärischer Raketen eine intensive Zusammenarbeit, die durch einen deutschen Austritt aus der NATO kaum in Frage gestellt wird. Beim Bau von U-Booten und Marinewaffen arbeitet Deutschland mit Norwegen zusammen. Auch hier wird es wohl nicht dazu kommen, dass die Zusammenarbeit durch einen NATO-Austritt endet. Eine Auflösung der NATO wird Norwegen mit Sorge sehen: Seine Seestreitkräfte sind zwar modern, wären aber ohne Verbündete der Nordflotte Russlands quantitativ erheblich unterlegen. Wenn eine Verteidigungsunion auf der Ebene der Europäischen Union entstehen würde, ist eine Teilnahme Norwegens wahrscheinlich. Es wird dies aber davon abhängig machen, dass es keine sonstigen Verpflichtungen eingehen und schon gar nicht Mitglied der Europäischen Union werden muss.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 indexmundi.com/map/?v=5&r=eu&l=de.
2 ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/11081097/3-10072020-AP-DE.pdf/7f863daa-c1ac-758f-e82b-954726c4621f.
2a atatopics.worldbank.org/world-development-indicators.
3 nominal laut imf.org/en/publications/weo.
4 imf.org/en/Publications/WEO/weo-database/2023/October/download-entire-database.
5 cia.gov/the-world-factbook/countries/finland/#military-and-security.
6 web.archive.org/web/20060925064424/http://virtual.finland.fi/netcomm/news/showarticle.asp?intNWSAID=27993.
7 de.statista.com/statistik/daten/studie/581876/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-in-finnland.
8 cia.gov/the-world-factbook/countries/norway/#military-and-security.
9 globalfirepower.com/country-military-strength-detail.php?country_id=norway.
10 Anna-Sophie Schneider: Nato-Beitritt: Was Schweden dem Militärbündnis zu bieten hat in: Der Spiegel am 19. Mai 2022.
11 forsvarsmakten.se/sv/organisation/om-var-organisation/personalsiffror.
12 de.wikipedia.org/wiki/Schwedische_Streitkräfte. Neuere Zahlen sind nicht verfügbar.
13 vgl. Teil 4: Seestreitkräfte.
14 Meldung auf sueddeutsche.de vom 15. Mai 2022, nicht mehr abrufbar.
OSZE
Bemerkenswert sind die amerikanischen Bemühungen, in neu entstandene europäische Strukturen einzudringen. Dies zeigt sich an der OSZE, um die es hier geht, sowie im nächsten Kapitel an der PESCO.
Vorläufer: KSZE
Am 3. Juli 1973 trat in Helsinki erstmals die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zusammen. Sie war eine Folge von blockübergreifenden Konferenzen der europäischen Staaten in der Zeit des Ost-West-Konflikts. Die Initiative ging von den Staaten des Warschauer Pakts aus. Teilnehmer waren zunächst insgesamt 35 Staaten, nämlich sämtliche Staaten Europas einschließlich der Sowjetunion mit Ausnahme von Albanien und Andorra, Kanada und den Vereinigten Staaten.1
Unterzeichnung des Abschlussdokuments der KSZE,
Foto: Horst Sturm, Bundesarchiv, Bild 183-P0801-026, CC-BY-SA 3.0
Initiative
Erste Anregungen zu einer europäischen Sicherheitskonferenz gab es bereits in den 1950er Jahren. 1966 wurde von Staaten des Warschauer Pakts ein Vorschlag zur Einberufung einer Konferenz über Fragen der Europäischen Sicherheit verabschiedet, die vor allem zur Auflösung der bestehenden Militärblöcke beitragen und die Vereinigten Staaten als nicht-europäischen Staat aus dem politischen Gefüge Europas verdrängen sollte. 1967 tagte eine Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, die in ihrer Abschlusserklärung, der sogenannten Karlsbader Erklärung über Frieden und Sicherheit in Europa zur Schaffung eines europäischen Systems der kollektiven Sicherheit aufforderte. Diese Bestrebungen wurden 1968 durch den Prager Frühling und den ihm folgenden sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei zunächst aufgehalten, doch folgte gleich 1969 der Budapester Appell des Warschauer Paktes zur Einberufung einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz. Im gleichen Jahr erklärten sich die NATO-Staaten bereit, mit den osteuropäischen Staaten Themen für Verhandlungen zu erörtern, an denen alle europäischen Regierungen teilnehmen sollten. Ebenfalls 1969 bot die finnische Regierung an, die Konferenz und die vorausgehenden Treffen in Helsinki abzuhalten, von denen das erste 1971 erfolgte1.
Ergebnis der Konferenz war die Schlussakte von Helsinki. Sie war kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern selbstverpflichtende Aussagen der Teilnehmerstaaten über die Wahrung von Menschenrechten, Sicherheitsfragen, übereinstimmende Vorstellungen über eine Zusammenarbeit auf wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Gebieten sowie in humanitären Angelegenheiten. Außerdem verabreden sich die Teilnehmerstaaten zur Fortsetzung der Konferenz1. Bei bloßen Absichtserklärungen blieb es dennoch nicht, denn in der Folge gestatteten sich die NATO-Staaten und die Staaten des Warschauer Pakts gegenseitig, Beobachter zu ihren Militärmanövern zu entsenden. Diese Fortsetzungskonferenzen fanden statt
- 1977 bis 1979 in Belgrad,
- 1980 bis 1983 in Madrid,
- 1984 bis 1986 in Stockholm,
- 1986 bis 1989 in Wien,
- 1992 wieder in Helsinki und
- 1994 in Budapest.
Ab 1994: OSZE
Zur Institutionalisierung wurde auf der Konferenz von 1994 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE, englisch Organization for Security and Co-operation in Europe, OSCE) gegründet. Mitglieder sind heute alle europäischen Staaten (mit Ausnahme des Vatikan), alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Kanada und die Vereinigten Staaten sowie die Mongolei, insgesamt 57 Staaten.2 Sitz ist Wien.3 Nach wie vor geht es um sicherheitspolitische Themen wie Rüstungskontrolle, doch ist der heutige Aufgabenkreis ein anderer:4
- Bekämpfung des Menschenhandels und des Terrorismus,
- Bildung,
- Cyber-Sicherheit,
- Demokratisierung und Wahlbeobachtung,
- Geschlechtergleichstellung,
- Good Governance,
- Grenzmanagement,
- Minderheitenschutz, vor allem für Sinti und Roma,
- Schutz der Rechtsstaatlichkeit,
- Bekämpfung von Diskriminierung.4
Turnusmäßig wechseln sich die Mitgliedsstaaten beim Vorsitz ab, den dann der Außenminister des jeweiligen Staats ausübt. Die laufenden Geschäfte führt ein Generalsekretär.
Kritik
Die Beteiligung der Vereinigten Staaten und Kanadas an der Vorläuferorganisation KSZE war verständlich, da beide Mächte im Kalten Krieg die Sicherheitslage in Europa durch die Stationierung eigener Truppen wesentlich prägten. Weniger einleuchtend ist dagegen die Beteiligung beider Mächte an der Nachfolgeorganisation OSZE:
1994 war der Kalte Krieg längst beendet, die Sowjetunion zerfallen und eine sicherheitspolitische Entspannung eingetreten. Die Erweiterung der Agenda wiederum lag vor allem in amerikanischem Interesse: Die Programmpunkte Demokratisierung und Wahlbeobachtung klingen gut und richtig, schaffen aber zugleich die Möglichkeit, Wahlergebnisse nicht anzuerkennen und gewählte, aber unerwünschte Regierungen als illegitim zu bezeichnen. Dies wiederum rechtfertigt die Unterstützung der Opposition von außen bis hin zum Regime Change. Über die Bedeutung von Geschlechtergleichstellung, Diskriminierung oder Good Governance gibt es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion überwiegend andere Vorstellungen als in den NATO-Staaten, sodass Meinungsverschiedenheiten vorprogrammiert sind, die ihrerseits für Möglichkeiten sorgen, Staaten mit abweichenden Meinungen zu isolieren (und politisch zu schwächen).
Entstanden ist die OSZE in einer Zeit, in der sich Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch den Übergang von der kommunistischen Gesellschaftsform zur Marktwirtschaft in katastrophalen inneren und wirtschaftlichen Verhältnissen befanden und hierdurch sehr geschwächt waren. In dieser Schwäche ist es den Vereinigten Staaten und den Staaten der Europäischen Union gelungen, eine eigene moralisch-ethische Agenda gegen die Ansichten, Bedürfnisse und Möglichkeiten der postsowjetischen Staaten durchzusetzen.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_über_Sicherheit_und_Zusammenarbeit_in_Europa.
2 osce.org/de/participating-states.
3 osce.org/de/who-we-are.
4 osce.org/de/what-we-do.
PESCO
PESCO (Permanent Structured Cooperation) ist eine Kooperation von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die eine gemeinsame Sicherheitspolitik betreiben möchten mit dem Fernziel einer Europäischen Verteidigungsorganisation.1 Insofern erstaunt der Teilnehmerkreis: Außer EU-Staaten nehmen auch Kanada, Norwegen und die Vereinigten Staaten teil, während die EU-Staaten Dänemark und Malta nicht teilnehmen.2 Großbritannien nimmt ebenfalls nicht teil, was in Anbetracht seines Austritts aus der Europäischen Union konsequent ist. Dafür hat die Türkei 2021 eine Beteiligung beantragt.3
Rechtsgrundlage sind Artikel 42 und 46 des Gründungsvertrages der Europäischen Union von 1992 (Maastricht-Vertrag) sowie das ihn ergänzende Protokoll Nummer 10. Die Teilnahme an der ständigen strukturierten Zusammenarbeit ist freiwillig. Es gibt gemeinsame Projekte
- für militärische Ausbildung und Übungseinrichtungen (Training, Facilities),
- bei der Ausrüstung der Landstreitkräfte (Land, Formations, Systems),
- bei der Ausrüstung der Luftstreitkräfte (Air, Systems),
- zur Zusammenarbeit der Seestreitkräfte (Maritime),
- zum Erwerb verschiedener Fähigkeiten (Enabling, etwa Abwehr von ABC-Waffen),
und vereinzelte militärische Strukturen. Obwohl die Vereinigten Staaten Teilnehmer sind, stehen sie PESCO ablehnend gegenüber. Dies wird als Zeichen gewertet, dass sie um ihren Einfluss in Europa fürchten, da eine militärisch eigenständige Europäische Union die NATO an Bedeutung verlieren ließe.
Amerikanische Politiker kritisieren die gemeinsamen Rüstungsprojekte, da sie einen Rückgang von Waffenverkäufen an europäische Staaten befürchten (im Durchschnitt liefern die Vereinigten Staaten jährlich Waffen für eine Milliarde Euro an Mitgliedstaaten der Europäischen Union). Mitglieder des Europäischen Parlaments berichten von massiver Lobbyarbeit gegen eine verstärkte militärische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ihnen zufolge werden Abgeordnete des Europäischen Parlaments zu privaten Abendessen eingeladen, um sie zu überreden, gegen Vorlagen für eine stärkere Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union zu stimmen.4 Den Wunsch, sich an einzelnen PESCO-Projekten zu beteiligen, deuten einige Analysten als Versuch, eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik von innen heraus zu sabotieren.5
Entgegen wohlwollender Bekundungen sind die Vereinigten Staaten an nichts weniger interessiert als an einer Verwirklichung der Europäischen Union, die mit ihren 500 Millionen Einwohnern und deren Wirtschaftskraft ein gefährlicher Konkurrent um die weltweite Führungsrolle in einer unipolaren Welt werden könnte. Daran wird es wohl auch gelegen haben, dass der amerikanische Präsident Trump in seiner früheren Amtszeit konsequenterweise den Austritt Großbritanniens aus der europäischen Staatengemeinschaft unterstützt hatte.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 4. Januar 2025):
1 pesco.europa.eu/about.
bmvg.de/de/aktuelles/europaeische-verteidigung-wird-durch-pesco-deutlich-gestaerkt-5560210.
2 consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2021/05/06/pesco-canada-norway-and-the-united-states-will-
be-invited-to-participate-in-the-project-military-mobility.
3 spiegel.de/ausland/tuerkei-soll-mitarbeit-bei-eu-verteidigungspolitik-beantragt-haben-a-a30292d7-3354-
4893-a48f-77cbeb99c901.
4 Benjamin Zyla: The End of European Security Institutions? The EU’s Common Foreign and Security Policy and NATO After Brexit,
2020, Seiten 98 ff., ähnlich Valentin Naumescu: The New European Union and Its Global Strategy: From Brexit to PESCO, 2019,
Seiten 14 ff.
5 etwa Ronja Kempin, Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron: Konsequenzen für die deutsch-französische
Zusammenarbeit als SWP-Studie 4, 2021 (online: swp-berlin.org/publications/products/studien/2021S04_Macron.pdf).
Idee einer Europaarmee
Die Idee, im Zuge der europäischen Einigung auch eine Europa-Armee zu schaffen, reicht in das Jahr 1950 zurück. Erstmals formuliert wurde sie im August 1950 von Winston Churchill vor dem Europarat.
Auszug der Rede vom 11. August 1950:1 We should make a gesture of practical and constructive guidance by declaring ourselves in favour of the immediate creation of a European Army under a unified command, and in which we should all bear a worthy and honourable part.
Übersetzung:2 Wir sollten eine Geste praktischer und konstruktiver Führung setzen, indem wir uns für die sofortige Schaffung einer europäischen Armee unter einem einheitlichen Kommando aussprechen, an der wir alle einen würdigen und ehrenvollen Anteil haben sollten.
Frankreich stand damals dem Aufbau einer neuen deutschen Armee noch ablehnend gegenüber und suchte nach Möglichkeiten, Deutschland in militärischer Hinsicht unter Kontrolle zu halten. Deshalb wurde vom damaligen französischen Ministerpräsidenten René Pleven ein Vorschlag zur Umsetzung dieser Idee formuliert (vgl. vorn, Kapitel Frankreich). Er sah das Amt eines europäischen Verteidigungsministers vor, der weitgehend mit denselben Befugnissen wie ein nationaler Verteidigungsminister ausgestattet worden und gegenüber einer europäischen Versammlung rechenschaftspflichtig gewesen wäre. National homogene Kampfverbände sollte es in der von ihm geführten Europaarmee höchstens in der Größe von 5.000 Mann geben, und nur ein Teil der bereits bestehenden nationalen Streitkräfte sollten in sie eingegliedert werden. Frankreich hätte hiernach seine nationalen Streitkräfte behalten, während die Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu den anderen Staaten über keine nationale Armee verfügt hätte. Seestreitkräfte sollte die Bundesrepublik Deutschland nie, Luftstreitkräfte erst zu einem späteren Zeitpunkt besitzen dürfen. Eine NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik wurde kategorisch ausgeschlossen.3 Trotz dieser erheblichen Nachteile stimmte Bundeskanzler Konrad Adenauer diesem Plan zu, der 1954 am Votum der französischen Nationalversammlung scheiterte.4 Letztlich lag es an Deutschlands Beitritt zur NATO, dass über eine Europa-Armee jahrzehntelang nicht mehr nachgedacht wurde.
Neuauflage
In Anbetracht der Kündigung des INF-Vertrages durch die Vereinigten Staaten schlug der französische Präsident Macron 2018 neuerlich die Errichtung einer wahren europäischen Armee vor.5
Fast zeitgleich sprach sich auch die deutsche Bundeskanzlerin Merkel für die Idee einer europäischen Armee aus: Alte Verbündete stellen bewährte Verbindungen in Frage … eine gemeinsame europäische Armee würde der Welt zeigen, dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt. Gemeint war dies als Seitenhieb auf die Außenpolitik des damaligen amerikanischen Präsidenten Trump,6 der die NATO in Frage gestellt hatte. Dieser konterte prompt, die Idee einer Europaarmee sei für die Vereinigten Staaten beleidigend.7
Politische Initiativen auf die Forderungen von Macron und Merkel folgten zwar, waren jedoch kurzlebig. Der nächste Anstoß kam aus Italien. Am 7. Januar 2024 sprach sich der italienische Außenminister Tajani für eine Europaarmee aus: Wenn wir Friedenswächter in der Welt sein wollen, brauchen wir ein europäisches Militär. Und das ist eine grundlegende Voraussetzung für eine effektive europäische Außenpolitik. … In einer Welt mit mächtigen Akteuren wie den Vereinigten Staaten, China, Indien und Russland, mit Krisen vom Nahen Osten bis zum Indopazifik, können italienische, deutsche, französische oder slowenische Bürger nur durch etwas geschützt werden, das bereits existiert, nämlich die Europäische Union.8 Trotz des bei solchen Vorstößen üblichen Beifalls geschah nichts.
Öffentliche Meinung
Nach einer 2022 von YouGov in Staaten der Europäischen Union und in Großbritannien durchgeführten Umfrage erhält die Idee einer Europaarmee in der europäischen Bevölkerung überwiegend Zustimmung.9
- Eine absolute Mehrheit erzielt die Idee in Spanien (64 Prozent), Litauen (62 Prozent), Niederlande (61 Prozent), Deutschland (58 Prozent), Polen (57 Prozent), Frankreich und Griechenland (jeweils 55 Prozent), Finnland (53 Prozent) sowie Rumänien (51 Prozent).
- Eine relative Mehrheit stimmt in Italien und Ungarn (jeweils 50 Prozent), Kroatien (49 Prozent), Schweden (48 Prozent), der Slowakei (44 Prozent) und Dänemark (41 Prozent) zu. Dabei geht es in Dänemark bereits knapp zu, denn 39 Prozent sprechen sich dagegen aus. Dies ist ähnlich wie in Bulgarien, wo nur 39 Prozent dafür und 33 dagegen sind.
- In Großbritannien stößt die Idee überwiegend auf Ablehnung (35 Prozent, Zustimmung nur 33 Prozent).
Umsetzbarkeit
Die von Macron so bezeichnete wahre Europaarmee ist aus einer Fülle verschiedener Gründe schwer umsetzbar:10
- Es werden rechtliche Harmonisierungen erforderlich:10 Beispielsweise müsste von deutscher Seite der im Grundgesetz verankerte Parlamentsvorbehalt für den Einsatz der Streitkräfte aufgegeben werden. Organe in der Art eines gemeinsamen Verteidigungsministeriums, welche die Streitkräfte planen, führen und verwalten könnten, sehen die europäischen Verträge nicht vor, sodass auch auf der Ebene der Europäischen Union die notwendige Rechtsgrundlage fehlt.
- Eine gemeinsame Europaarmee bedarf einer einheitlichen Dienstsprache. Englisch kann vor allem nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union nur eine Notlösung sein.
- Alle nationalen Streitkräfte haben in Form von unterschiedlichen Traditionen jeweils eine eigene Militärkultur,10 die sie für eine gemeinsame Europaarmee aufgeben müssten.
- Es müssten organisatorische Angleichungen erfolgen: Das für die dünn besiedelten skandinavischen Staaten in Form der Heimwehren passende Milizsystem, die Wehrpflicht- und Berufsarmeen können nicht nebeneinander bestehen bleiben, sodass die europäischen Nationen absehbar sehr unterschiedlich repräsentiert wären.
- Manche Staaten haben eine eigene Rüstungsindustrie, andere nicht. Die vorhandene Rüstungsindustrie lebt vorrangig von Aufträgen des eigenen Staates, die bei einer gemeinsamen Beschaffungsverwaltung und europaweiter Konkurrenz dann nicht mehr sicher sind. Von dort ist mit erheblicher Ablehnung zu rechnen.
Alternative: NATO ohne USA
Eine wahre Europaarmee im Sinne Macrons wird es in einem überblickbaren Zeitrahmen nicht geben. Entstehen kann aber eine europäische Verteidigungsorganisation, wie es der Politiker Oskar Lafontaine als NATO ohne die USA postuliert hat.11 Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, dieser Organisation Truppen zu unterstellen, deren Organisation, Ausrüstung und Ausbildungsstand einvernehmlich festgelegten Vorgaben entsprechen, die im Vergleich zur NATO noch detaillierter und straffer sein können. Dies erlaubt den Staaten, an ihren individuellen politischen Zielen außerhalb der Verteidigung Europas festzuhalten. Deutschland etwa könnte sich ausschließlich defensiv aufstellen, wogegen Frankreich sein Engagement in Afrika nach eigenem Ermessen fortsetzen kann. Wenn diese Verteidigungsorganisation von der Europäischen Union angeboten wird, können allerdings Großbritannien, Island, Norwegen und die Türkei schwerlich mitwirken, es sei denn, es werden besondere Teilnahmemöglichkeiten zugelassen.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 5. Januar 2025):
1 Redetext auf cvce.eu/en/obj/address_given_by_winston_churchill_to_the_council_of_europe_strasbourg_11_august_1950-en-
ed9e513b-af3b-47a0-b03c-8335a7aa237d.html.
2 translate.google.com.
3 de.wikipedia.org/wiki/Pleven-Plan#Der_Pleven-Plan.
4 de.wikipedia.org/wiki/Pleven-Plan#Weiterer_Verlauf.
5 blick.ch/ausland/russland-als-bedrohung-macron-fordert-bildung-einer-wahren-europaeischen-armee-id15002063.html.
6 spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-wirbt-fuer-europaeische-armee-a-1238222.html.
7 zeit.de/politik/ausland/2018-11/gedenken-weltkrieg-donald-trump-emanuel-macron-armee-paris.
8 euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/italiens-aussenminister-fordert-eine-europaeischen-armee.
9 yougov.co.uk/international/articles/42386-support-eu-army-grows-across-europe-following-russ?redirect_from=%2Ftopics%2
Finternational%2Farticles-reports%2F2022%2F05%2F05%2Fsupport-eu-army-grows-across-europe-following-russ.
10 Jürgen Ruwe, Forderungen nach einer Europäischen Armee – mehr als politische Rhetorik? Am 4. Mai 2021 auf clausewitz-gesellschaft.de
(online: clausewitz-gesellschaft.de/forderungen-nach-einer-europaeischen-armee-mehr-als-politische-rhetorik-rk-west-am-23-11-2020).
11 Oskar Lafontaine, Ami it’s time to go home – Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas, 2023;
Interview online auf: telepolis.de/features/Wir-brauchen-eine-Nato-ohne-die-USA-7365330.html?seite=all.
Baltische Staaten
Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen grenzen zwar nicht unmittelbar an Deutschland, sind aber von erheblicher sicherheitspolitischer Bedeutung.
Alle drei Staaten sind ehemalige Sowjetrepubliken. Eine eigene politische Geschichte hatte bis in das 18 Jahrhundert hinein lediglich Litauen. Estland und Lettland entstanden als unabhängige Staaten erstmals als Folge des 1. Weltkriegs. 1939 ging allen drei Staaten die Selbständigkeit verloren. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion entstanden sie 1991 neu. Seit 2004 sind sie Mitglieder der Europäischen Union und der NATO.1
Grafik: NordNordWest – File:Suwalki_Gap-de.svg, CC BY-SA 3.0
Die Schwierigkeiten dieser drei Staaten ergeben sich aus der Landkarte und aus nachfolgenden Daten:1
Staat | Einwohner* | Anteil
Russen (%) |
Bruttoinlands-
produkt pro Kopf (in US-Dollar) |
Staatsgebiet
(km²)** |
Geburten
je Frau |
Estland | 1.300.000 | 23,2 | 28.136 | 45.335 | 1,41 |
Lettland | 1.875.757 | 24,5 | 23.176 | 64.594 | 1,47 |
Litauen | 3.000.000 | 5,0 | 26.998 | 65.300 | 1,27 |
insgesamt | 6.175.757 | – | – | 175.229 | – |
* zum Vergleich: Freistaat Bayern: 13.435.062
** zum Vergleich: Freistaat Bayern 70.500 km²
Kurz: Keiner dieser drei Staaten erreicht die Größe des Bundeslandes Bayern, und zusammen sind sie knapp halb so groß wie Deutschland, bringen es aber nur auf die Hälfte der Bevölkerung Bayerns. Ihre Bevölkerung schrumpft schneller als im europäischen Durchschnitt, und in Estland und Lettland besteht sie auch noch zu einem Viertel aus Russen, bei denen der östliche Nachbar Russland aufmerksam darauf achtet, dass ihre sprachlichen und kulturellen Minderheitenrechte gewahrt werden. Litauen ist in einer besonders kritischen Lage: Es grenzt im Westen an die russische Enklave Kaliningrad und im Osten an das mit Russland assoziierte Belarus, sodass die Versorgung Kaliningrads auf dem Landweg zwangsläufig durch Litauen verläuft. Dieser Landweg ist für Russland umso wichtiger, als durch den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands die Baltische Flotte Russlands ihre Wirksamkeit weitgehend verloren hat und deshalb eine Versorgung Kaliningrads auf dem Seeweg von der NATO leicht unterbunden werden kann. Eine Blockade Kaliningrads zwingt Russland, den Landweg mit militärischer Gewalt offenzuhalten. Litauen und die anderen beiden Staaten sind wiederum auf dem Landweg von der NATO schwer zu unterstützen, denn dies ist nur über die rund 65 Kilometer breite Suwalki-Lücke möglich. Die Streitkräfte aller drei Staaten sind wegen der geringen Größe ihrer Bevölkerung und ihrer Wirtschaft zwangsläufig klein und hätten einem russischen Angriff wenig entgegenzusetzen.3 Deshalb hat die Bundeswehr in Litauen seit 2022 bereits eine (allerdings nicht vollständige) Panzerbrigade dauerhaft in Litauen stationiert.4
Kurz: Im Baltikum besteht eine latente Kriegsgefahr. Ob sie sich verwirklicht, hängt davon ab, ob die NATO mit einer Blockade Kaliningrads einen russischen Angriff auf Litauen – man darf sagen: – erzwingt, der medial anschließend wieder als unprovozierter Angriffskrieg dargestellt wird.
Quellen und weitere Hinweise (letzter Aufruf am 24. Feburar 2025):
1 de.wikipedia.org/wiki/Baltische_Staaten.
2 de.wikipedia.org/wiki/Estland,
de.wikipedia.org/wiki/Lettland,
de.wikipedia.org/wiki/Litauen.
datatopics.worldbank.org/world-development-indicators.
3 Thorsten Jungholt und Julia Smirnova, Die „Lücke von Suwalki“ ist die Achillesferse der Nato am 09.07.2016 auf:
welt.de/politik/ausland/article156917494/Die-Luecke-von-Suwalki-ist-die-Achillesferse-der-Nato.html.
4 bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr/anerkannte-missionen/efp-enhanced-forward-presence.
Deutschland
Die zur Beurteilung der Verteidigungsfähigkeit anderer Nationen herangezogenen Parameter – Demografie und Wirtschaftskraft – ergeben für Deutschland folgendes Bild:
Demografie
Im Zeitpunkt der Wiedervereinigung, 1990, lebten in Deutschland 79,75 Millionen Menschen; Ende 2022 waren es 84,36 Millionen.1 Dieser Zuwachs erstaunt: Der in Deutschland bereits ab 1980 einsetzende Geburtenrückgang erreichte 1994 mit 1,24 seinen bislang tiefsten Wert. Zwischen 1990 und 1999 kamen auf eine Frau im Durchschnitt 1,325 Kinder, zwischen 2000 und 2009 1,365 Kinder und zwischen 2010 und 2019 1,485 Kinder. 2012 wurde der Wert von 1,4 seit 1990 erstmals wieder überschritten. 2015 erreichte er 1,5 und liegt seitdem darüber. 2020 bis 2022 lag er durchschnittlich bei 1,52.2 Deshalb hätte die deutsche Bevölkerung ab 1990 bereits sichtbar abnehmen müssen. Sie hat aber zugenommen. Dieses scheinbare Wunder erklärt sich durch die Zuwanderung von Ausländern.
Flüchtlingskrise 2015: Migranten am Grenzübergang Salzburg, Foto: Eweht, CC BY-SA 4.0.
Ausländer können nach dem Soldatengesetz jedoch nicht in der Bundeswehr dienen (§ 37 Abs. 1 Nr. 1 Soldatengesetz). Unter diesem Gesichtspunkt entzaubert sich der neue deutsche Bevölkerungsreichtum: Nur 71 Millionen Einwohner entsprechen dieser rechtlichen Anforderung, wobei darin bereits Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit und überhaupt Menschen mit Migrationshintergrund enthalten sind; die Zahl der deutschen Staatsbürger ohne Migrationshintergrund macht sogar nur noch 59 Millionen aus (vgl. Teil Machtpolitik, Kapitel Migration).
Unter den 71 Millionen Menschen einschließlich Migrationshintergrund und erst recht unter den 59 Millionen Menschen ohne Migrationshintergrund sind derzeit 16,4 Prozent 67 Jahre alt und älter. Dieser Anteil wird sich in den kommenden 10 Jahren auf 20 Prozent erhöhen. Das Statistische Bundesamt prognostizierte 2022:3 Durch den aktuellen Altersaufbau sind künftig ein Anstieg der Seniorenzahl und ein Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter vorgezeichnet. Bis Mitte der 2030er Jahre wird in Deutschland die Zahl der Menschen im Rentenalter (ab 67 Jahren) von derzeit 16,4 Millionen auf mindestens 20,0 Millionen steigen. Die Zahl der ab 80-Jährigen wird dagegen noch bis Mitte der 2030er Jahre relativ stabil bleiben und zwischen 5,8 und 6,7 Millionen betragen. Danach wird die Zahl der Hochaltrigen und damit voraussichtlich auch der Pflegebedarf in Deutschland massiv zunehmen.
Die Sterbefälle werden, wie die Fertilitätsrate zeigt, überhaupt nur teilweise durch Geburten ausgeglichen. Bei Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit (einschließlich der Eingebürgerten) lag die Geburtenrate 2022 mit 1,36 Kindern unverändert niedrig.4 Bei Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit lag sie 2022 dagegen bei 1,88.4 Innerhalb der Bevölkerung wird der Anteil der Ausländer immer mehr zunehmen und der Anteil der deutschen Bevölkerung immer mehr abnehmen, selbst unter Berücksichtigung von Staatsbürgern mit verliehener Staatsangehörigkeit. Rechnerisch läuft dies darauf hinaus, dass von künftigen Jahrgängen nur knapp 42 Prozent deutsche Staatsangehörige sind, die für den Dienst in der Bundeswehr überhaupt in Frage kommen, 58 Prozent – und somit der größere Teil – dementsprechend nicht.
Foto: © miodrag ignjatovic / E+ aus: meineeltern.ch/wohnen/pflegeheim-das-sind-die-vor-und-nachteile-30.
In der Zahl der Schulabgänger drückt sich diese Entwicklung noch nicht so deutlich aus, wie die Erhebungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigen. Hiernach beendeten den Schulbesuch5
19606 642.000, davon 114.000 ohne Hauptschulabschluss und 56.700 mit Abitur,
19806 1.144.700, davon 109.400 ohne Hauptschulabschluss und 221.700 mit Abitur,
1992 920.300, davon 63.600 ohne Hauptschulabschluss und 290.600 mit Abitur,
2002 1.138.100, davon 85.300 ohne Hauptschulabschluss und 361.500 mit Abitur,
2012 1.135.800, davon 47.600 ohne Hauptschulabschluss und 500.000 mit Abitur,
2022 974.500, davon 52.300 ohne Hauptschulabschluss und 385.400 mit Abitur.
Dass die Zahl der Schulabgänger ungefähr gleichgeblieben ist, liegt an der Zuwanderung: 39 Prozent der Schüler haben bereits heute einen sogenannten Migrationshintergrund,7 wobei sich die Ergebnisse des Schulbesuchs nur in der Hinsicht unterscheiden, dass 11,9 Prozent der Schüler mit Migrationshintergrund den Hauptschulabschluss nicht bestehen, während diese Zahl bei Schülern ohne Migrationshintergrund nur 1,7 Prozent beträgt.7 Der Anteil der Abiturienten ist dagegen bei beiden Gruppen nahezu gleich groß (42,2 bzw. 42,4 Prozent).7
Rechnerisch ergibt dies für die Personalplanung der Bundeswehr: Geht man auch in Zukunft von rund 950.000 Schulabgängern jährlich aus, kommen als deutsche Staatsangehörige nur 399.000 für den Dienst in Frage, von denen sich 1,7 Prozent für viele Verwendungen disqualifizieren, da sie den Hauptschulabschluss nicht schaffen.
Die erörterte Bevölkerungsstruktur ist eine deutsche Besonderheit, die Deutschland von den beiden nächstgrößeren europäischen Nachbarn Polen und Frankreich unterscheidet, denn beide haben das Problem mit dem hohen Ausländeranteil nicht:
- In Polen beträgt die Fertilitätsrate ebenfalls nur 1,38 Geburten je Frau,8 sodass bis 2050 ein Bevölkerungsrückgang von 39 auf 35 Millionen Menschen prognostiziert wird.9 In Polen lebten 2022 jedoch nur 450.000 Ausländer.10 Dieser Anteil (rund 1 Prozent) macht sich kaum bemerkbar, sodass von den 502.922 Schulabgängern11 fast alle für den Dienst in den Streitkräften in Frage kommen, selbst bei infolge des allgemeinen Geburtenrückgangs rückläufiger Zahl mehr als in Deutschland.
- In Frankreich hat die Fertilitätsrate zwischen 2010 (2,01 Geburten je Frau) und 2022 (1,84) leicht abgenommen,19 der Ausländeranteil lag 2022 bei 7,71 Prozent,20 sodass von den rund 750.000 Schulabgängern14 rechnerisch immerhin rund 692.000 für den Dienst in den Streitkräften infrage kommen.
Das rechnerische Ergebnis ist ein Paradoxon, denn es muss daher lauten:
- Die Bundesrepublik Deutschland hat somit von allen drei großen Flächenstaaten Mitteleuropas zwar die größte Bevölkerung, gleichzeitig aber die kleinsten personellen Ressourcen für ihre Streitkräfte.
Wirtschaftskraft
Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund sind für die Wirtschaft irrelevant. Das Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 2012 und 2023 von 2.800,4 Milliarden Euro auf 4.185,6 Milliarden Euro. Lediglich 2020 verzeichnete es kurzzeitig einen Rückgang.15 Der scheinbar unaufhaltsame Anstieg auf das 1,495-fache des Jahres 2012 ist seit 2022 jedoch vor allem auf Preissteigerungen zurückzuführen. Preisbereinigt lag es 2023 bereits 0,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2022 und ist somit rückläufig.16
Pro Kopf lag das BIP 2012 bei 34.819 Euro und stieg bis 2022 – somit vor der Inflation – auf 47.183 Euro an.16 Dies ist nur ein Anstieg um das 1,355-fache des Jahres 2012. Die Wertschöpfung des Einzelnen ist hiernach sichtbar zurückgegangen, und dies trotz Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Als Ursache kommt lediglich eine Verwässerung des Gesamtwerts durch eine größere Zahl von Köpfen infolge der Zuwanderung in Frage. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit seiner absoluten Zahl des BIP jedoch nach wie vor nach den Vereinigten Staaten, China und Japan weltweit auf dem vierten Platz, gefolgt von Indien (3,389 Billionen Dollar), Großbritannien (3,082 Billionen Dollar), Frankreich (2,780 Billionen Dollar) und Russland (2,244 Billionen Dollar).17
Um das von der NATO vorgegebene Zwei-Prozent-Ziel einzuhalten, müssten die deutschen Verteidigungsausgaben nach dem BIP von 2022 77,5 Milliarden Euro betragen. Nominal wäre dies nach den Vereinigten Staaten (3,2 Prozent, 877 Milliarden Dollar) der höchste Verteidigungshaushalt unter den NATO-Staaten. Tatsächlich enthielt der reguläre deutsche Verteidigungshaushalt 2024 52 Milliarden Euro. Durch Ausgaben aus dem Sondervermögen erhöht sich der ausgegebene Gesamtbetrag auf 77,5 Milliarden Euro18 und erreicht damit exakt das Zwei-Prozent-Ziel.
Übersehen wird dabei zweierlei: Die Entwicklungspolitik ist, wie im Teil Machtpolitik, Kapitel Entwicklungspolitik zu sehen war, NATO-Politik, die eine Hinwendung der geförderten Staaten zum Westen bewirken und in gegenüber dem Westen und der amerikanischen Hegemonialpolitik ablehnend gegenüberstehenden Staaten die Opposition unterstützen soll. Dafür werden 2024 weitere 33 Milliarden Euro ausgegeben.
2024 wurde die Ukraine aus dem Bundeshaushalt mit 7,5 Milliarden Euro allein für Waffen- und Munitionskäufe unterstützt (nicht enthalten ist in diesem Betrag offenbar die Unterstützung der Ukraine bei der Erhaltung und Wiederherstellung ihrer durch die Kriegsereignisse beschädigten zivilen Infrastruktur).19 Auch diese Ausgaben werden im Interesse der NATO (im Grunde: der Vereinigten Staaten) geleistet.
Insgesamt wandte die Bundesrepublik Deutschland 2024 im Kontext der NATO 118 Milliarden Euro auf, davon – soweit die Ausgaben aus dem Sondervermögen bezahlt wurden – 25,5 Milliarden aus Verschuldung. Damit werden bei realistischer Betrachtung nicht nur 2, sondern mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben. Wenn man die Schuldenaufnahme abzieht, ist Deutschland offenbar in der Lage, notfalls 92,5 Milliarden Euro im Jahr für Verteidigung auszugeben, zumindest in Spitzenzeiten, jedoch sogar bei rezessiver Wirtschaftslage. Sogar wenn man den derzeitigen Verteidigungshaushalt belässt, die Zuwendungen an die Ukraine streicht und den Aufwand für die Entwicklungspolitik aufgibt – dieser Eifer wird nach einem NATO-Austritt nicht mehr erforderlich sein -, können aus den laufenden Staatseinnahmen immer noch 85 Milliarden Euro für die eigene Verteidigung ausgegeben werden.
Ergebnis
Das Ergebnis ist paradox:
- Wirtschaftlich ist Deutschland in der Lage, allein durch Priorisierung und Umschichtung seiner Mittel einen gewaltigen Verteidigungshaushalt aufzulegen, ohne zusätzliche Steuern erheben zu müssen.
- Die demografischen Spielräume sind jedoch wesentlich kleiner als man es bei einer Einwohnerzahl von 84 Millionen Menschen auf den ersten Blick annimmt, sogar kleiner als die Möglichkeiten Frankreichs und Polens.
Im nächsten Teil Bundeswehr wird es darum gehen, wie eine eigenständige deutsche Verteidigungsorganisation aussehen kann, einerseits im Hinblick auf eine Neutralität, andererseits im Hinblick auf eine NATO ohne USA. Wie sich zeigen wird, sind die personellen Gestaltungsmöglichkeiten durch Besonderheiten der deutschen Gesellschaft noch kleiner als es bis zu dieser Stelle erscheint. Durch diese personellen Grenzen werden zugleich auch den militärischen Beschaffungen Grenzen gesetzt, sodass ein NATO-Austritt keineswegs uferlose Rüstungsausgaben nach sich ziehen kann.
Quellen und weiterführende Hinweise (letzter Abruf 5. Januar 2025):
1 de.statista.com/statistik/daten/studie/2861/umfrage/entwicklung-der-gesamtbevoelkerung-deutschlands.
2 de.statista.com/statistik/daten/studie/36672/umfrage/anzahl-der-kinder-je-frau-in-deutschland.
3 destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aspekte/demografie-bevoelkerungsentwicklung.html.
4 zukunftsentwicklungen.de/bevoelkerung.html.
5 datenportal.bmbf.de/portal/de/K233.html.
6 frühere Bundesrepublik.
7 mediendienst-integration.de/integration/schule.html.
8 datacommons.org/place/country/POL/?utm_medium=explore&mprop=fertilityRate&popt=Person&cpv=gender,Female&hl=de#.
9 de.statista.com/statistik/daten/studie/19312/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-polen.
10 de.statista.com/statistik/daten/studie/1031844/umfrage/top-20-staatsangehoerigkeiten-von-auslaendern-in-polen.
11 bpb.de/themen/europa/polen-analysen/nr-314/539848/statistik-anzahl-der-schulen-schueler-innen-und-lehrerstellen-in-polen.
12 de.statista.com/statistik/daten/studie/167196/umfrage/fertilitaetsrate-in-frankreich.
13 de.statista.com/statistik/daten/studie/759982/umfrage/anteil-der-eu-und-nicht-eu-auslaender-an-der-gesamtbevoelkerung-
in-frankreich.
14 idw-online.de/de/news530247.
15 de.statista.com/statistik/daten/studie/1251/umfrage/entwicklung-des-bruttoinlandsprodukts-seit-dem-jahr-1991.
16 de.statista.com/statistik/daten/studie/1252/umfrage/entwicklung-des-bruttoinlandsprodukts-je-einwohner-seit-1991.
17 de.statista.com/statistik/daten/studie/157841/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-dem-groessten-bruttoinlandsprodukt.
18 bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw05-de-verteidigung-977670.
19 tagesschau.de/inland/innenpolitik/ukraine-hilfe-finanzierung-100.html.